Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 31 P 103/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 P 18/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 6/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Liegen die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage zeitlich erst nach dem 01.01.2017 vor, so findet eine Überleitung in den Pflegegrad 2 nach § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a) SGB XI in analoger Anwendung statt
Der Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Leistungen in Form von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 seit 10.10.2017 zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch um die Gewährung von Pflegeversicherungsleistungen nach der Pflegstufe I bzw. dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld ab dem 10.10.2017.
Die 1936 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie hat einen Grad der Behinderung von 100, das Vorliegen der Merkzeichen B und G wurde anerkannt.
Die Klägerin beantragte am 17.10.2015 Leistungen in Form von Pflegegeld bei der Beklagten.
Daraufhin wurde sie am 04.04.2016 vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in ihrer häuslichen Umgebung begutachtet. Als pflegebegründende Diagnosen hielt der MDK fest: Hirninfarkt, Störungen des Ganges und der Mobilität bei rückläufiger Hemischwäche rechts. Eine eingeschränkte Alltagskompetenz liege nicht vor. Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege täglich 29 Minuten betrage. Für die hauswirtschaftliche Versorgung sei ein Zeitaufwand von 77 Minuten täglich anzusetzen.
Mit Bescheid vom 06.04.2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Pflegeversicherungsleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass derzeit keine Pflegestufe bei der Klägerin vorliege. Der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung müsse für die Pflegestufe I mindestens 90 Minuten täglich betragen, wobei hierbei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssten.
Dagegen legte die Klägerin am 14.04.2016 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, sie könne ihr Gesicht, Hals und Brust nur sehr eingeschränkt selbständig waschen. Die rechte Hand sei nicht einsetzbar, mit der linken Hand sei es für sie als Rechtsänderung sehr schwierig. Ihr falle ständig die Seife aus der Hand, so dass sie mindestens 30 Minuten ohne Zähneputzen und Kämmen benötige. Daher benötige sie Hilfe in Form der vollständigen Übernahme bei der Ganzkörperpflege. Für das Waschen des Oberkörpers und des Unterkörpers benötige sie Hilfe in Form einer Teilübernahme. Die Zahnpflege könne Sie mit der rechten Hand überhaupt nicht durchführen, mit der linken Hand sei es auch nicht einfach. Beim An- und Auskleiden sei mehr als eine Teilübernahme erforderlich, denn sie könne weder Knöpfe noch einen Reißverschluss schließen oder öffnen. Jacken könne sie ohne fremde Hilfe auch nicht anziehen. Beim Treppensteigen benötige sie volle Unterstützung, sie könne zwar alleine laufen, sich aber mit der rechten Hand nicht am Handlauf festhalten.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurde am 06.06.2016 eine erneute häusliche Begutachtung durch den MDK vorgenommen. In dem Gutachten vom 09.06.2016 hielt der MDK fest, der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege liege bei 35 Minuten pro Tag. Im Übrigen bestätigte der MDK das Vorgutachten und führte aus, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt seien.
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der gesetzlich vorgesehene Hilfebedarf für die Pflegestufe I von mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege werde nicht erreicht.
Dagegen hat die Klägerin am 24.11.2016 Klage vor dem hiesigen Gericht erhoben.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, der Pflegeaufwand sei deutlich höher als vom MDK angenommen. Die Störungen des Ganges und der Mobilität nach dem Hirninfarkt sowie die Parese des rechten Armes und der rechten Hand seien als pflegeerschwerende Faktoren zu berücksichtigen.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage im Hinblick auf den Zeitraum Oktober 2015 bis 09.10.2017 zurückgenommen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe I bzw. nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld seit 10.10.2017 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien zeitlich erst nach dem 31.12.2016 eingetreten. Sie ist der Ansicht, dass ein Rückschluss vom Vorliegen der Pflegestufe I auf das Vorliegen des Pflegegrades 2 nicht zulässig sei. Die Überleitungsregelung nach § 140 SGB XI sei vorliegend nicht anwendbar. Der Gesetzeswortlaut regele eindeutig, dass die Überleitung der Pflegestufe I in den Pflegegrad 2 das Vorliegen der Voraussetzungen für eine regelmäßige wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vor dem 31.12.2016 voraussetze (§ 140 Abs. 2 Nr. 2 SGB XI). Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin gerade nicht, da diese erst für Oktober 2017 bestätigt worden seien. Der Sachverständige Dr. C. mache für die Feststellungen der Voraussetzungen der Pflegestufe I ausdrücklich eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse verantwortlich, für die eine Bewertung nach neuem Recht erforderlich sei, da sie nach dem 01.01.2017 eingetreten seien. Nach Ansicht der Beklagten hätte die Geltendmachung einer Veränderung nur durch einen Neuantrag außerhalb des gerichtlichen Verfahrens erfolgen können.
Das Gericht hat Befundberichte bei Dr. D. (Bl. 56-59 der Gerichtsakte) und Dr. E. (Bl. 30 52 der Gerichtsakte) eingeholt. Beide Ärzte konnten in ihren Befundberichten vom 22.05.2017 und 30.06.2017 keine Angaben zum zeitlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege machen. Die Klägerin hat einen Bericht das Klinikums Darmstadt vom 20.10.2017 übersandt (Bl. 107-112 der Gerichtsakte). Diesem ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin am 17.10.2017 im Klinikum Darmstadt vorstellte, da ihr eine Armschwäche links aufgefallen sei. Es wurde ein winziger subakuter ischämischer Schlaganfall im Mediastromgebiet rechts festgestellt. Die Klägerin wurde am 20.10.2017 aus der stationären Behandlung entlassen. Des Weiteren hat die Klägerin einen Bericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10.10.2017 übersandt (Bl. 87-91 d. Gerichtsakte). Ausweislich des Berichts besteht eine leichte bis allenfalls mittelgradige Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Sinne einer beginnenden demenziellen Entwicklung.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei dem Sachverständigen Dr. C., Facharzt für Allgemeinmedizin und Physikalische und Rehabilitative Medizin. Der Sachverständige untersuchte die Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung am 30.11.2017 und erstattete das Gutachten am 07.12.2017. Der Sachverständige hielt darin fest, im Bereich der rechten oberen Extremität zeige sich eine mittelgradige Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit als Folge des Schlaganfalles. Neben der Bewegungseinschränkung sei vor allem die Störung der Feinmotorik der rechten Hand von Bedeutung. An der linken oberen Extremität zeige sich eine deutliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Bereich des Schultergelenkes bei der jetzigen Begutachtung, welche als Folge einer Verschleißerscheinung im Schultergelenk zu interpretieren sei. Er hielt für den Bereich der Körperpflege einen Hilfebedarf von 55 Minuten täglich, für den Bereich der Ernährung einen Hilfebedarf von 5 Minuten täglich und für den Bereich der Mobilität einen Hilfebedarf von 31 Minuten täglich und damit einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 91 Minuten täglich fest. Hierbei berücksichtigte er im Bereich der Mobilität 12 Minuten täglich für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die Wahrnehmung von Krankengymnastik und Ergotherapie, zu der die Klägerin gebracht und wieder abgeholt werde. Für die hauswirtschaftliche Versorgung hielt er einen Hilfebedarf von 60 Minuten täglich fest. Der Sachverständige führte zudem aus, den MDK-Gutachten vom 04.04.2016 und 09.06.2016 sei retrospektiv gesehen durchaus zuzustimmen. Wahrscheinlich habe sich eine kontinuierliche Veränderung eingestellt, vor allen Dingen aber etwa ab Oktober 2017 sei die Funktionsstörung im Bereich der linken oberen Extremität doch sehr deutlich. Es sei daher davon auszugehen, dass ab diesem Datum der Hilfebedarf, so wie er ihn jetzt beschrieben habe, in Ansatz zu bringen sei. Er führte aus, es sei noch zu überprüfen, ob tatsächlich während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums physiotherapeutische Behandlungen in regelmäßiger Frequenz durchgeführt worden seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 113 175 d. Gerichtsakte verwiesen.
Das Gericht hat daraufhin weitere Ermittlungen eingeleitet und hat die beiden von der Klägerin angegebenen Physiotherapeuten angeschrieben. Die F., Praxis für Physiotherapie, G. G., G-Straße, G-Stadt, teilte mit Schreiben vom 16.04.2018 mit, dass die Klägerin im Rahmen von 6 ärztlichen Verordnungen in der Praxis behandelt wurde, die erste Verordnung datiere auf den 07.06.2016, die letzte auf den 06.02.2017. Die Praxis für Physiotherapie im H., H. H., H-Straße, A-Stadt, teilte am 21.02.2018 und am 04.03.2019 mit, dass die Klägerin vom 10.10.2017 bis 24.1.2018 und vom 28.02.2018 bis 25.07.2018 bei ihr in Behandlung war. Im Zeitraum zwischen dem 05.03.2018 und 02.05.2018 seien keine Behandlungen erfolgt.
In einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. C. vom 05.07.2018 teilte er mit, dass die regelmäßige Durchführung physiotherapeutischer Behandlung gemäß der beigefügten Belege ab Oktober 2017 in Ansatz zu bringen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 214-215 d. Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Beschränkung auf den Zeitraum ab 10.10.2017 ist gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässig.
Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten aus § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld ab dem 10.10.2017 aus §§ 33 Abs. 1 Satz 2, 37 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI i.V.m. § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1a SGB XI analog in der am 01.01.2017 geltenden Fassung.
Zur Überzeugung der Kammer liegen bei der Klägerin seit dem 10.10.2017 die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung vor. Für die Feststellung, ob bei der Klägerin eine erhebliche Pflegebedürftigkeit vorliegt, ist gemäß § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage anzuwenden. Danach erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Da die Klägerin den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im Oktober 2015 gestellt hat, ist im vorliegenden Verfahren zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage maßgeblich. Dieser Grundsatz umfasst das gesamte Verfahren von der Antragstellung über die Begutachtung bis zum Erlass des Leistungsbescheides und gilt damit auch für nachfolgende Widerspruchs- und sozialgerichtliche Verfahren (jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 17; Heitmann/Plantholz in LPK-SGB XI, 5. Auflage 2017, § 140, Rn. 5).
Die Kammer schließt sich vorliegend den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. C. an, wonach ab Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich vorlag. Dr. C. hielt bei der Klägerin seit Oktober 2017 einen Hilfebedarf von 91 Minuten täglich fest, wobei er im Bereich der Mobilität für die Hin- und Rückfahrt zur Physiotherapie 12 Minuten täglich berücksichtigte. Nach Ansicht der Kammer sind diese 12 Minuten nicht zu berücksichtigen, da die physiotherapeutische Behandlung ab dem 05.03.2018 für etwa zwei Monate unterbrochen wurde. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nur berücksichtigt werden, wenn die entsprechenden Arzttermine oder physiotherapeutischen Behandlungen regelmäßig, d. h. mindestens einmal wöchentlich, und auf Dauer, d. h. mindestens voraussichtlich für sechs Monate ohne Unterbrechungen, stattfinden (vgl. Begutachtungsrichtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, Stand 2009, Teil D, Ziffer 4.3.15, Seite 73). Da dies vorliegend aufgrund der zweimonatigen Unterbrechung der Physiotherapie nicht der Fall war, ist bei der Klägerin seit Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 79 Minuten täglich zu berücksichtigen. Zieht man den Befundbericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10.10.2017 heran, so wird deutlich, dass bei der Klägerin ab dem 10.10.2017 eine demenzielle Entwicklung belegt ist. Dieser Zeitpunkt erscheint der Kammer zutreffend, um den von dem Sachverständigen Dr. C. mit Oktober 2017 etwas ungenau angegebenen Leistungsbeginn genauer festzulegen. Im Übrigen ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Voraussetzungen einer erheblichen Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I ab dem 10.10.2017 vorlagen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine Überleitung der Klägerin in den Pflegegrad 2 zum 10.10.2017 rechtlich möglich und zulässig.
Die Überleitungsvorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI lautet:
Versicherte der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflege-Pflichtversicherung,
1. bei denen das Vorliegen einer Pflegestufe im Sinne der §§ 14 und 15 in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung festgestellt worden ist und
2. bei denen spätestens am 31. Dezember 2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vorliegen,
werden mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 ohne erneute Antragstellung und ohne erneute Begutachtung nach Maßgabe von Satz 3 einem Pflegegrad zugeordnet. Die Zuordnung ist dem Versicherten schriftlich mitzuteilen.
Dem Wortlaut nach richtet sich § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI eindeutig an die Verwaltung und nicht an die Gerichte. Dennoch muss es möglich sein, in einem sozialgerichtlichen Verfahren in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 3 SGB XI eine Überleitung von einer Pflegestufe in einen Pflegegrad vorzunehmen, da anderenfalls eine unzumutbare Benachteiligung der Klägerin eintreten würde. Würde man sich der Ansicht der Beklagten anschließen, so bliebe der Klägerin letztlich nur die Möglichkeit, nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens einen Neuantrag bei der Beklagten zu stellen. Hinzu kommt, dass sich die Beklagte weigerte, einen etwaigen Neuantrag auf den 01.01.2017 rückzudatieren. Leistungsansprüche im Zeitraum vor dem Neuantrag wären für die Klägerin so komplett verloren.
Der Gesetzgeber wollte durch die Einführung des Überleitungsrechts in § 140 SGB XI gerade vermeiden, dass Betroffene Neuanträge ab dem 01.01.2017 stellen müssen, wenn sie bereits im Jahr 2016 oder davor einen Antrag gestellt hatten. Ebenso lässt sich aus § 140 Abs. 1 SGB XI die klare Absicht des Gesetzgebers ableiten, dass eine Neuantragstellung auch im laufenden Gerichtsverfahren nicht notwendig ist. So führte der Gesetzgeber wie folgt aus:
"Um die Leistungsansprüche der bisherigen Leistungsbezieher ab dem 1. Januar 2017 eindeutig zu klären, werden Überleitungsregelungen geschaffen. Die Gestaltung der Überleitungsregelung verfolgt zwei wesentliche Ziele. Zum einen sollen bisherige Leistungsbezieher durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht schlechter als bisher gestellt werden. Daher erfolgt die Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad, mit dem entweder gleich hohe oder höhere Leistungen als bisher verbunden sind. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, wird ein Besitzstandsschutz geschaffen (§141). Zum anderen sollen umfangreiche Neubegutachtungen vermieden werden, um eine Überlastung der MDK und des medizinischen Dienstes der privaten Krankenversicherung, der J. GmbH, im Zuge der Umstellung zu vermeiden [ ]" (BT Drucksache 18/5926, Bl. 140).
Ein Leistungsausschluss für die Gruppe der Versicherten, zu denen die Klägerin gehört, lässt sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Hätte der Gesetzgeber den Zeitraum zum Erwerb einer Anspruchsberechtigung nach alter Rechtslage im Zuge der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff beschränken wollen, hätte es hierfür einer ausdrücklichen Regelung bedurft, die der Gesetzgeber aber gerade nicht getroffen hat.
Die Übergangsvorschriften enthalten keine Regelung zur Überleitung für Versicherte, bei denen die anspruchsbegründenden Voraussetzungen nach Maßgabe der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage erst ab dem 01.01.2017 oder später vorliegen. Die Kammer geht hier von einer (planwidrigen) Regelungslücke aus, die aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage im Wege einer entsprechenden Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 a) SGB XI zu schließen ist. Eine Benachteiligung der Versicherten, bei denen spätestens am 31.12.2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung vorgelegen haben, geht damit nicht einher. Diese genießen nämlich Besitzstandsschutz. Die Interessenlage der Versicherten ist im Übrigen vergleichbar.
Auch in der Literatur wird eine Überleitung für möglich gehalten, selbst wenn die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach altem Recht erst nach dem 31.12.2016 eingetreten sind (jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 16 und 21). Die Kammer hält zudem die Formulierung des Gesetzgebers in § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XI für missglückt, denn in der Gesetzesbegründung (Bundestag Drucksache 18/5926) ist nicht die Rede davon, dass die Voraussetzungen am 31.12.2016 vorliegen müssen, sondern dass die Anspruchsvoraussetzungen für mindestens eine der regelmäßig wiederkehrenden Leistungen des § 28 Abs. 1 in der Fassung am 31.12.2016 vorliegen (Bundestag Drucksache 18/5926, Seite 140). Liest man die Gesetzesbegründung auf Seite 140 vollständig, so fällt auf, dass die Formulierungen "in der am 31.12.2016 geltenden Fassung" und "in der Fassung am 31.12.2016" synonym verwendet werden.
Die Kammer ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass eine Überleitung der Pflegestufe I, welche erst am 10.10.2017 vorlag, mit Wirkung zum 10.10.2017 in den Pflegegrad 2 gemäß §§ 140 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a) SGB XI in entsprechender Anwendung vorzunehmen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch um die Gewährung von Pflegeversicherungsleistungen nach der Pflegstufe I bzw. dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld ab dem 10.10.2017.
Die 1936 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie hat einen Grad der Behinderung von 100, das Vorliegen der Merkzeichen B und G wurde anerkannt.
Die Klägerin beantragte am 17.10.2015 Leistungen in Form von Pflegegeld bei der Beklagten.
Daraufhin wurde sie am 04.04.2016 vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in ihrer häuslichen Umgebung begutachtet. Als pflegebegründende Diagnosen hielt der MDK fest: Hirninfarkt, Störungen des Ganges und der Mobilität bei rückläufiger Hemischwäche rechts. Eine eingeschränkte Alltagskompetenz liege nicht vor. Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege täglich 29 Minuten betrage. Für die hauswirtschaftliche Versorgung sei ein Zeitaufwand von 77 Minuten täglich anzusetzen.
Mit Bescheid vom 06.04.2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Pflegeversicherungsleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass derzeit keine Pflegestufe bei der Klägerin vorliege. Der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung müsse für die Pflegestufe I mindestens 90 Minuten täglich betragen, wobei hierbei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssten.
Dagegen legte die Klägerin am 14.04.2016 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, sie könne ihr Gesicht, Hals und Brust nur sehr eingeschränkt selbständig waschen. Die rechte Hand sei nicht einsetzbar, mit der linken Hand sei es für sie als Rechtsänderung sehr schwierig. Ihr falle ständig die Seife aus der Hand, so dass sie mindestens 30 Minuten ohne Zähneputzen und Kämmen benötige. Daher benötige sie Hilfe in Form der vollständigen Übernahme bei der Ganzkörperpflege. Für das Waschen des Oberkörpers und des Unterkörpers benötige sie Hilfe in Form einer Teilübernahme. Die Zahnpflege könne Sie mit der rechten Hand überhaupt nicht durchführen, mit der linken Hand sei es auch nicht einfach. Beim An- und Auskleiden sei mehr als eine Teilübernahme erforderlich, denn sie könne weder Knöpfe noch einen Reißverschluss schließen oder öffnen. Jacken könne sie ohne fremde Hilfe auch nicht anziehen. Beim Treppensteigen benötige sie volle Unterstützung, sie könne zwar alleine laufen, sich aber mit der rechten Hand nicht am Handlauf festhalten.
Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurde am 06.06.2016 eine erneute häusliche Begutachtung durch den MDK vorgenommen. In dem Gutachten vom 09.06.2016 hielt der MDK fest, der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege liege bei 35 Minuten pro Tag. Im Übrigen bestätigte der MDK das Vorgutachten und führte aus, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt seien.
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der gesetzlich vorgesehene Hilfebedarf für die Pflegestufe I von mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege werde nicht erreicht.
Dagegen hat die Klägerin am 24.11.2016 Klage vor dem hiesigen Gericht erhoben.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, der Pflegeaufwand sei deutlich höher als vom MDK angenommen. Die Störungen des Ganges und der Mobilität nach dem Hirninfarkt sowie die Parese des rechten Armes und der rechten Hand seien als pflegeerschwerende Faktoren zu berücksichtigen.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage im Hinblick auf den Zeitraum Oktober 2015 bis 09.10.2017 zurückgenommen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe I bzw. nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld seit 10.10.2017 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien zeitlich erst nach dem 31.12.2016 eingetreten. Sie ist der Ansicht, dass ein Rückschluss vom Vorliegen der Pflegestufe I auf das Vorliegen des Pflegegrades 2 nicht zulässig sei. Die Überleitungsregelung nach § 140 SGB XI sei vorliegend nicht anwendbar. Der Gesetzeswortlaut regele eindeutig, dass die Überleitung der Pflegestufe I in den Pflegegrad 2 das Vorliegen der Voraussetzungen für eine regelmäßige wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vor dem 31.12.2016 voraussetze (§ 140 Abs. 2 Nr. 2 SGB XI). Diese Voraussetzungen erfülle die Klägerin gerade nicht, da diese erst für Oktober 2017 bestätigt worden seien. Der Sachverständige Dr. C. mache für die Feststellungen der Voraussetzungen der Pflegestufe I ausdrücklich eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse verantwortlich, für die eine Bewertung nach neuem Recht erforderlich sei, da sie nach dem 01.01.2017 eingetreten seien. Nach Ansicht der Beklagten hätte die Geltendmachung einer Veränderung nur durch einen Neuantrag außerhalb des gerichtlichen Verfahrens erfolgen können.
Das Gericht hat Befundberichte bei Dr. D. (Bl. 56-59 der Gerichtsakte) und Dr. E. (Bl. 30 52 der Gerichtsakte) eingeholt. Beide Ärzte konnten in ihren Befundberichten vom 22.05.2017 und 30.06.2017 keine Angaben zum zeitlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege machen. Die Klägerin hat einen Bericht das Klinikums Darmstadt vom 20.10.2017 übersandt (Bl. 107-112 der Gerichtsakte). Diesem ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin am 17.10.2017 im Klinikum Darmstadt vorstellte, da ihr eine Armschwäche links aufgefallen sei. Es wurde ein winziger subakuter ischämischer Schlaganfall im Mediastromgebiet rechts festgestellt. Die Klägerin wurde am 20.10.2017 aus der stationären Behandlung entlassen. Des Weiteren hat die Klägerin einen Bericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10.10.2017 übersandt (Bl. 87-91 d. Gerichtsakte). Ausweislich des Berichts besteht eine leichte bis allenfalls mittelgradige Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Sinne einer beginnenden demenziellen Entwicklung.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei dem Sachverständigen Dr. C., Facharzt für Allgemeinmedizin und Physikalische und Rehabilitative Medizin. Der Sachverständige untersuchte die Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung am 30.11.2017 und erstattete das Gutachten am 07.12.2017. Der Sachverständige hielt darin fest, im Bereich der rechten oberen Extremität zeige sich eine mittelgradige Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit als Folge des Schlaganfalles. Neben der Bewegungseinschränkung sei vor allem die Störung der Feinmotorik der rechten Hand von Bedeutung. An der linken oberen Extremität zeige sich eine deutliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Bereich des Schultergelenkes bei der jetzigen Begutachtung, welche als Folge einer Verschleißerscheinung im Schultergelenk zu interpretieren sei. Er hielt für den Bereich der Körperpflege einen Hilfebedarf von 55 Minuten täglich, für den Bereich der Ernährung einen Hilfebedarf von 5 Minuten täglich und für den Bereich der Mobilität einen Hilfebedarf von 31 Minuten täglich und damit einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 91 Minuten täglich fest. Hierbei berücksichtigte er im Bereich der Mobilität 12 Minuten täglich für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für die Wahrnehmung von Krankengymnastik und Ergotherapie, zu der die Klägerin gebracht und wieder abgeholt werde. Für die hauswirtschaftliche Versorgung hielt er einen Hilfebedarf von 60 Minuten täglich fest. Der Sachverständige führte zudem aus, den MDK-Gutachten vom 04.04.2016 und 09.06.2016 sei retrospektiv gesehen durchaus zuzustimmen. Wahrscheinlich habe sich eine kontinuierliche Veränderung eingestellt, vor allen Dingen aber etwa ab Oktober 2017 sei die Funktionsstörung im Bereich der linken oberen Extremität doch sehr deutlich. Es sei daher davon auszugehen, dass ab diesem Datum der Hilfebedarf, so wie er ihn jetzt beschrieben habe, in Ansatz zu bringen sei. Er führte aus, es sei noch zu überprüfen, ob tatsächlich während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums physiotherapeutische Behandlungen in regelmäßiger Frequenz durchgeführt worden seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 113 175 d. Gerichtsakte verwiesen.
Das Gericht hat daraufhin weitere Ermittlungen eingeleitet und hat die beiden von der Klägerin angegebenen Physiotherapeuten angeschrieben. Die F., Praxis für Physiotherapie, G. G., G-Straße, G-Stadt, teilte mit Schreiben vom 16.04.2018 mit, dass die Klägerin im Rahmen von 6 ärztlichen Verordnungen in der Praxis behandelt wurde, die erste Verordnung datiere auf den 07.06.2016, die letzte auf den 06.02.2017. Die Praxis für Physiotherapie im H., H. H., H-Straße, A-Stadt, teilte am 21.02.2018 und am 04.03.2019 mit, dass die Klägerin vom 10.10.2017 bis 24.1.2018 und vom 28.02.2018 bis 25.07.2018 bei ihr in Behandlung war. Im Zeitraum zwischen dem 05.03.2018 und 02.05.2018 seien keine Behandlungen erfolgt.
In einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. C. vom 05.07.2018 teilte er mit, dass die regelmäßige Durchführung physiotherapeutischer Behandlung gemäß der beigefügten Belege ab Oktober 2017 in Ansatz zu bringen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 214-215 d. Gerichtsakte verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 4, 56 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Beschränkung auf den Zeitraum ab 10.10.2017 ist gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässig.
Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 06.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten aus § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Pflegeversicherungsleistungen nach dem Pflegegrad 2 in Form von Pflegegeld ab dem 10.10.2017 aus §§ 33 Abs. 1 Satz 2, 37 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI i.V.m. § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1a SGB XI analog in der am 01.01.2017 geltenden Fassung.
Zur Überzeugung der Kammer liegen bei der Klägerin seit dem 10.10.2017 die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung vor. Für die Feststellung, ob bei der Klägerin eine erhebliche Pflegebedürftigkeit vorliegt, ist gemäß § 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage anzuwenden. Danach erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Da die Klägerin den Antrag auf Pflegeleistungen bereits im Oktober 2015 gestellt hat, ist im vorliegenden Verfahren zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die bis zum 31.12.2016 geltende Rechtslage maßgeblich. Dieser Grundsatz umfasst das gesamte Verfahren von der Antragstellung über die Begutachtung bis zum Erlass des Leistungsbescheides und gilt damit auch für nachfolgende Widerspruchs- und sozialgerichtliche Verfahren (jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 17; Heitmann/Plantholz in LPK-SGB XI, 5. Auflage 2017, § 140, Rn. 5).
Die Kammer schließt sich vorliegend den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. C. an, wonach ab Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich vorlag. Dr. C. hielt bei der Klägerin seit Oktober 2017 einen Hilfebedarf von 91 Minuten täglich fest, wobei er im Bereich der Mobilität für die Hin- und Rückfahrt zur Physiotherapie 12 Minuten täglich berücksichtigte. Nach Ansicht der Kammer sind diese 12 Minuten nicht zu berücksichtigen, da die physiotherapeutische Behandlung ab dem 05.03.2018 für etwa zwei Monate unterbrochen wurde. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung kann nur berücksichtigt werden, wenn die entsprechenden Arzttermine oder physiotherapeutischen Behandlungen regelmäßig, d. h. mindestens einmal wöchentlich, und auf Dauer, d. h. mindestens voraussichtlich für sechs Monate ohne Unterbrechungen, stattfinden (vgl. Begutachtungsrichtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, Stand 2009, Teil D, Ziffer 4.3.15, Seite 73). Da dies vorliegend aufgrund der zweimonatigen Unterbrechung der Physiotherapie nicht der Fall war, ist bei der Klägerin seit Oktober 2017 ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 79 Minuten täglich zu berücksichtigen. Zieht man den Befundbericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim vom 10.10.2017 heran, so wird deutlich, dass bei der Klägerin ab dem 10.10.2017 eine demenzielle Entwicklung belegt ist. Dieser Zeitpunkt erscheint der Kammer zutreffend, um den von dem Sachverständigen Dr. C. mit Oktober 2017 etwas ungenau angegebenen Leistungsbeginn genauer festzulegen. Im Übrigen ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Voraussetzungen einer erheblichen Pflegebedürftigkeit nach der Pflegestufe I ab dem 10.10.2017 vorlagen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine Überleitung der Klägerin in den Pflegegrad 2 zum 10.10.2017 rechtlich möglich und zulässig.
Die Überleitungsvorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI lautet:
Versicherte der sozialen Pflegeversicherung und der privaten Pflege-Pflichtversicherung,
1. bei denen das Vorliegen einer Pflegestufe im Sinne der §§ 14 und 15 in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung festgestellt worden ist und
2. bei denen spätestens am 31. Dezember 2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vorliegen,
werden mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 ohne erneute Antragstellung und ohne erneute Begutachtung nach Maßgabe von Satz 3 einem Pflegegrad zugeordnet. Die Zuordnung ist dem Versicherten schriftlich mitzuteilen.
Dem Wortlaut nach richtet sich § 140 Abs. 2 Satz 1, 2 SGB XI eindeutig an die Verwaltung und nicht an die Gerichte. Dennoch muss es möglich sein, in einem sozialgerichtlichen Verfahren in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 3 SGB XI eine Überleitung von einer Pflegestufe in einen Pflegegrad vorzunehmen, da anderenfalls eine unzumutbare Benachteiligung der Klägerin eintreten würde. Würde man sich der Ansicht der Beklagten anschließen, so bliebe der Klägerin letztlich nur die Möglichkeit, nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens einen Neuantrag bei der Beklagten zu stellen. Hinzu kommt, dass sich die Beklagte weigerte, einen etwaigen Neuantrag auf den 01.01.2017 rückzudatieren. Leistungsansprüche im Zeitraum vor dem Neuantrag wären für die Klägerin so komplett verloren.
Der Gesetzgeber wollte durch die Einführung des Überleitungsrechts in § 140 SGB XI gerade vermeiden, dass Betroffene Neuanträge ab dem 01.01.2017 stellen müssen, wenn sie bereits im Jahr 2016 oder davor einen Antrag gestellt hatten. Ebenso lässt sich aus § 140 Abs. 1 SGB XI die klare Absicht des Gesetzgebers ableiten, dass eine Neuantragstellung auch im laufenden Gerichtsverfahren nicht notwendig ist. So führte der Gesetzgeber wie folgt aus:
"Um die Leistungsansprüche der bisherigen Leistungsbezieher ab dem 1. Januar 2017 eindeutig zu klären, werden Überleitungsregelungen geschaffen. Die Gestaltung der Überleitungsregelung verfolgt zwei wesentliche Ziele. Zum einen sollen bisherige Leistungsbezieher durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht schlechter als bisher gestellt werden. Daher erfolgt die Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad, mit dem entweder gleich hohe oder höhere Leistungen als bisher verbunden sind. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, wird ein Besitzstandsschutz geschaffen (§141). Zum anderen sollen umfangreiche Neubegutachtungen vermieden werden, um eine Überlastung der MDK und des medizinischen Dienstes der privaten Krankenversicherung, der J. GmbH, im Zuge der Umstellung zu vermeiden [ ]" (BT Drucksache 18/5926, Bl. 140).
Ein Leistungsausschluss für die Gruppe der Versicherten, zu denen die Klägerin gehört, lässt sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Hätte der Gesetzgeber den Zeitraum zum Erwerb einer Anspruchsberechtigung nach alter Rechtslage im Zuge der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff beschränken wollen, hätte es hierfür einer ausdrücklichen Regelung bedurft, die der Gesetzgeber aber gerade nicht getroffen hat.
Die Übergangsvorschriften enthalten keine Regelung zur Überleitung für Versicherte, bei denen die anspruchsbegründenden Voraussetzungen nach Maßgabe der bis zum 31.12.2016 geltenden Rechtslage erst ab dem 01.01.2017 oder später vorliegen. Die Kammer geht hier von einer (planwidrigen) Regelungslücke aus, die aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage im Wege einer entsprechenden Anwendung des § 140 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 a) SGB XI zu schließen ist. Eine Benachteiligung der Versicherten, bei denen spätestens am 31.12.2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung vorgelegen haben, geht damit nicht einher. Diese genießen nämlich Besitzstandsschutz. Die Interessenlage der Versicherten ist im Übrigen vergleichbar.
Auch in der Literatur wird eine Überleitung für möglich gehalten, selbst wenn die Voraussetzungen einer Pflegestufe nach altem Recht erst nach dem 31.12.2016 eingetreten sind (jurisPK-Meßling, SGB XI, 2. Auflage 2017, § 140, Rn. 16 und 21). Die Kammer hält zudem die Formulierung des Gesetzgebers in § 140 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XI für missglückt, denn in der Gesetzesbegründung (Bundestag Drucksache 18/5926) ist nicht die Rede davon, dass die Voraussetzungen am 31.12.2016 vorliegen müssen, sondern dass die Anspruchsvoraussetzungen für mindestens eine der regelmäßig wiederkehrenden Leistungen des § 28 Abs. 1 in der Fassung am 31.12.2016 vorliegen (Bundestag Drucksache 18/5926, Seite 140). Liest man die Gesetzesbegründung auf Seite 140 vollständig, so fällt auf, dass die Formulierungen "in der am 31.12.2016 geltenden Fassung" und "in der Fassung am 31.12.2016" synonym verwendet werden.
Die Kammer ist daher zu der Überzeugung gelangt, dass eine Überleitung der Pflegestufe I, welche erst am 10.10.2017 vorlag, mit Wirkung zum 10.10.2017 in den Pflegegrad 2 gemäß §§ 140 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 a) SGB XI in entsprechender Anwendung vorzunehmen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
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