S 10 KR 500/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 10 KR 500/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 465/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 8/17 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2009 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, ab 1. Januar 2009 Beiträge nur in Höhe des Mindestbeitrages für freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung zu verlangen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, die deshalb ab 1. Januar 2009 zu Unrecht gezahlten Beiträge zu erstatten.

4. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe der ab dem 01.01.2009 zu zahlenden Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung.

Die Klägerin ist seit März 2007 bei der Beklagten als freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung versichert. Sie lebt zusammen mit Herrn D. D. in ehelicher Gemeinschaft, wobei dieser als Ruhestandsbeamter sich privat kranken- und pflegeversichert hat. Sie leben in einer sogenannten "Patchwork-Familie", d.h. dass drei der im gemeinsamen Haushalt lebende Kinder (E. D., geb. 1990, F. D., geb. 1991, G. D., geb 1994) aus einer früheren Beziehung des Herrn D. entstammen, während die Klägerin zwei eigene Kinder (H. I., geb. 1993 und J. A., geb. 1995) aus anderen Beziehungen mitgebracht hat. Keines der Kinder ist ein gemeinsames gezeugtes Kind. Während die Klägerin über keinerlei Einkommen verfügt, bezieht Herr D. Einkünfte in Form einer von dem Land Hessen gewährten Pension, die im Juni 2009 monatlich 2.727,22 EUR brutto betrugen.

Mit Bescheid vom 16. Juli 2009 setzte die Beklagte - unter Bezugnahme auf die zum 01.01.2009 in Kraft getretenen "Einheitlichen Grundsätze zur Beitragsbemessung freiwilliger Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und weiterer Mitgliedergruppen sowie zur Zahlung und Fälligkeit von Mitgliedern selbst zu entrichtenden Beiträgen vom 27.10.2008, zuletzt geändert am 17.12.2008 (künftig: "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler ") - ab dem 01.01.2009 für die Klägerin einen Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung sowie zur sozialen Pflegeversicherung iHv. monatlich 229,77 EUR sowie ab dem 01.07.2009 iHv. monatlich 221,59 EUR fest, wobei sie die Hälfte der Pension des Herrn D. als eigenes Einkommen der Klägerin - ohne Abzug von Pauschalen für die Kinder - in Ansatz brachte. Den Widerspruch, mit dem die Klägerin geltend macht, dass entweder die Kinder zur Reduzierung des Einkommens des Ehemannes und damit letztlich ihres Einkommens führen müssten oder sich aufgrund ihrer eigenen Kinder ihr Einkommensbetrag mindern müsse, wies die Beklagte schließlich mit Bescheid vom 5. November 2009 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 7. Dezember 2009 beim hiesigen Gericht erhobene Klage, mit der die Klägerin die zum 01.01.2009 erfolgte Erhöhung ihrer Beitragslast infolge der "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" für rechtswidrig hält. Dazu macht sie im Wesentlichen geltend, dass die Nicht-Berücksichtigung der im gemeinsamen Haushalt der Klägerin und Herrn D. lebenden Kinder rechtswidrig sei. Entweder müssten bei dem Einkommen ihres Ehemannes alle fünf Kinder einkommensmindernd berücksichtigt werden oder zumindest bei dessen Einkommen dessen eigenen Kinder und bei dem daraus sich ergebenden Einkommen der Klägerin zusätzlich ihre beiden Kinder, denn das Einkommen ihres Ehemannes werde durch die Unterhaltsverpflichtungen der Kinder gegenüber deutlich gemindert. Zumindest müssten bei dem ihr zuzurechnenden Einkommen (die Hälfte der Einkünfte des Ehemannes) iHv. mtl. 1.363,61 EUR ihre beiden Kinder mit jeweils einem Fünftel der monatlichen Bezugsgröße abgesetzt werden. Aber auch die drei Kinder ihres Ehemannes reduzierten dessen Einkommen und damit ihr abgeleitetes - Einkommen, selbst wenn diese keine gemeinsamen Kinder sind. Grundsätzlich seien im Sinne der gesetzlichen Regelung gemeinsame unterhaltsberechtigte Kinder denjenigen Kindern gleichzustellen, die in der Familie des Mitgliedes leben und unterhalten werden, so dass sowohl ihre Kinder als auch die Kinder ihres Ehemannes einkommensmindernd zu berücksichtigen seien. Eine andere Auslegung der gesetzlichen Regelung widerspräche dem Schutz der Familie, wonach die Gleichberechtigung von ehelichen und nichtehelichen Kindern auch bei der Berechnung der Beiträge auf die in der Familie erzielten Einkünfte unabhängig davon zu gewährleisten sei, wer jetzt leiblicher Elternteil ist. Selbst wenn die Klägerin für die drei Kinder ihres Ehemannes nicht verpflichtet sei, deren Unterhalt zu sichern, sei dessen Einkommen jedoch aufgrund seiner Unterhaltspflicht diesen Kindern gegenüber zu reduzieren.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, auch die ab dem 01.01.2009 fälligen Beiträge nur in der bis zum 31.12.2008 gültigen Höhe festzusetzen und die daraufhin zu Unrecht gezahlten Beiträge der Klägerin zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie macht zunächst geltend, dass der Antrag auf eine vollständige Aufhebung des Beitragsbescheides schon deshalb unbegründet sei, da Beitragsbescheide nur insoweit auf eine Anfechtungsklage hin aufzuheben seien, als die Beitragsfestsetzung rechtlich oder tatsächlich zu hoch erfolgt war. Entsprechend wäre eine Verpflichtungsklage auf eine unzulässige Berechnung der Beitragsbelastung unzulässig. Im Übrigen verweist sie dagegen auf die gesetzliche bzw. durch Verordnung konkretisierte Regelungen, die eine Einkommensminderung lediglich für gemeinsame im Haushalt lebende Kinder vorsehe. Im Einzelnen begründet sie dies damit, dass der Gesetzgeber den Spitzenverband der Krankenkassen gesetzlich ermächtigt habe, allgemein gültige Grundsätze der Beitragsbemessung zu regeln, dem der Spitzenverband in den "Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler" mit Wirkung zum 01.01.2009 nachgekommen sei. Diese legten fest, dass bei der Beitragsbemessung von Mitgliedern, deren Ehegatte nicht einer Krankenkasse angehöre, grundsätzlich die Hälfte der gemeinsamen Einkünfte zur Betragsbemessung heranzuziehen seien. Die dabei möglichen und zulässigen Abzugsbeträge für Kinder, wie sie bis Ende 2008 durch Krankenkassensatzungen vorgesehen werden konnten, seien nunmehr gesetzlich und einheitlich festgelegt worden. So seien nach den jetzt gültigen Rechtsvorschriften vom Einkommen des Ehegatten nur Abzüge für gemeinsame Kinder vorzunehmen, wobei sich der Begriff "gemeinsame Kinder" nicht nur auf die Kinder beziehe, die wegen der Regelung des § 10 Abs. 3 SGB V nicht familienversichert sein könnten, sondern auch auf andere Kinder, die nach dieser Regelung versichert sind und für die dann ein geringerer Einkommensabzug vorzunehmen sei. Da jedoch weder die Kinder des Ehemannes (K., E. und G.) gemeinsame Kinder sind, noch die Kinder der Klägerin, sei ein Abzug vom Einkommen des Ehemannes nicht vorzunehmen, auch nicht bei dem vom Ehemann der Klägerin abgeleiteten Einkommen der Klägerin. Diese Auslegung werde sowohl vom Spitzenverband der Krankenkassen wie auch vom Bundesministerium für Gesundheit so vertreten. Zumal nach § 10 Abs. 4 SGB V für Stiefkinder die Familienversicherung nur für den Fall vorsehe, dass diese vom Mitglied überwiegend unterhalten werden, was angesichts des fehlenden Einkommens der Klägerin faktisch nicht möglich sei.

Bezüglich des weiteren Sachvortrags der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, die beide Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2011 waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und im Wesentlichen begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2009 war aufzuheben, weil die Klägerin dadurch in rechtswidriger Weise in ihren Rechten verletzt wird. Denn die Beklagte hat zu Unrecht darin mit Wirkung vom 01.01.2009 an Beiträgen in Höhe von insgesamt 229,77 EUR (Krankenversicherungsbeitrag 203,18 EUR und Pflegeversicherungsbeitrag 26,59 EUR) sowie ab 01.07.2009 iHv. insgesamt 221,59 EUR (195,00 EUR zur Krankenversicherung und 26,59 EUR zur Pflegeversicherung) festgestellt. Denn der Ansatz eines zu berücksichtigenden Einkommens der Klägerin iHv. monatlich 1.363,61 EUR erweist sich aus mehreren Gründen als fehlerhaft. Darüber hinaus war die Beklagte zu verpflichten, die durch die Aufhebung des Beitragsbescheides vom 16.07.2009 zuviel gezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin zu erstatten, weil die Beklagte diese zu Unrecht von der Klägerin gefordert hat.

Ausgangspunkt der zu treffenden Entscheidung ist die Beitragserhebung bis zum 31.12.2008, wonach die Klägerin lediglich den gesetzlichen Mindestbeitrag zu entrichten hatte. Da diese Beitragsfestsetzung nicht mit Rechtsmitteln angefochten wurde, ist sie zwischen den Beteiligten bindend festgestellt. Demzufolge war die darin ohne zeitliche Begrenzung und damit dauerhaft getroffene Regelung nur unter den Voraussetzungen der § 44 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) abänderbar. Nach dem hier einschlägigen § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist eine Abänderung für die Zukunft nur möglich, soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Ausgangsbescheides vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Dies ist jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten nicht der Fall, weil die zum 01.10.2009 eingeführten "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" unwirksam sind und daher als Rechtsgrundlage für eine Änderung nicht herangezogen werden können. Deshalb muss es - abgesehen von der durch den Gesetzgeber zum 01.07.2009 erfolgten Herabsetzung des Beitrags - bei der bis zum 31.12.2008 vorgenommenen Beitragsfestsetzung verbleiben.

Nach § 220 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) werden die Mittel der (gesetzlichen) Krankenversicherung durch Beiträge und sonstige Einnahmen aufgebracht, wobei die Beiträge für jeden Kalendertag der Mitgliedschaft zu zahlen sind, soweit nicht in diesem Gesetz ausdrücklich Abweichendes bestimmt wird (§ 223 Abs. 1 SGB V) und sich die Beiträge nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder bemessen (§ 223 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die soziale Pflegeversicherung (§§ 54 Abs. 1 und 2, § 55 und § 57 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - Soziale Pflegeversicherung - SGB XI). Während für pflichtversicherte Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung wie der sozialen Pflegeversicherung der Gesetzgeber selbst genaue Regelung zur Berechnungsweise der beitragspflichtigen Einkommen getroffen hat (§§ 226 ff SGB V und darauf verweisend § 57 Abs. 1 SGB XI), hat er für den Bereich der freiwilligen Mitglieder in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung den Spitzenverband der Krankenkassen ermächtigt, einheitlich die Beitragsbemessung zu regeln. Dies hat der Spitzenverband der Krankenkassen durch seinen Vorstand in den "Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler" mit Wirkung zum 01.01.2009 getan.

Danach sollen zwar die Regelungen der "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" vom 27.10.2008, zuletzt geändert am 17.12.2008, für alle freiwilligen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sowie für andere Mitglieder gelten, für die § 240 SGB V für entsprechend anwendbar erklärt wird (§ 1 Abs. 1 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler"). Sie bestimmen darüber hinaus, dass die Beiträge der (freiwilligen) Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung einheitlich nach den beitragspflichtigen Einnahmen des Mitgliedes bemessen werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler"), wobei bei Mitgliedern, deren Ehegatte nicht einer Krankenkasse angehört, grundsätzlich die Hälfte der gemeinsamen Einkünfte zur Beitragsbemessung heranzuziehen sind (§ 2 Abs. 4 Satz 1 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler"). Von dem Einkommen des Ehegatten oder Lebenspartners soll jedoch entsprechend § 2 Abs. 4 Satz 2 "Beitragsverfahrensordnung Selbstzahler" für jedes gemeinsame unterhaltsberechtigte Kind, für das eine Familienversicherung nur wegen der Regelung des § 10 Abs. 3 SGB V nicht besteht, ein Betrag in Höhe von einem Drittel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV abgesetzt werden.

Diese Regelungen gelten allerdings nicht, wenn die Einnahmen des Mitgliedes die halbe Beitragsbemessungsgrenze oder die Einnahmen des Ehegatten übersteigen, sie dauernd getrennt leben, oder andere hier nicht vorliegende Gründe gegeben sind (§ 2 Abs. 4 Satz 4 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler").

Bei Anwendung dieser Grundsätze wäre nicht zu beanstanden, dass die Beklagte von dem Einkommen des Ehemannes der Klägerin, Herrn D. - eventuell gekürzt um Abzüge für ein oder mehrere Kinder - die Hälfte als beitragspflichtiges Einkommen der Klägerin evtl. ebenfalls um Abzüge für ein oder mehrere Kinder vermindert - der Beitragspflicht der Klägerin zugrunde legt. Dies scheitert jedoch daran, dass entgegen der Auffassung der Beklagten die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" nicht anwendbar sind, weil sie unwirksam sind.

Zwar hat der Gesetzgeber in § 240 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) bestimmt, dass für freiwillige Mitglieder die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt wird, womit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen eine Ermächtigung zum Erlass untergesetzlicher Rechtsnormen erteilt wurde. In welcher Rechtsform die darauf basierenden, vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen erlassenen beitragsverfahrensrechtlichen Grundsätze Selbstzahler nach den Vorstellungen des Gesetzgebers zu erfolgen haben, lässt sich jedoch auch weder dem Gesetzestext noch aus den Gesetzesmaterialien entnehmen (vgl. Bundestags-Drucksache 16/3950). Hintergrund des gesetzgeberischen Handels war es, wie sich aus dem Gesetzesentwurf der CDU/CSU und der SPD für das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz entnehmen lässt, dass aufgrund der Festsetzung eines festen Beitragssatzes zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sowie durch die Einrichtung des Gesundheitsfonds die Krankenkassen kein originäres Interesse an der Beitragseinstufung freiwillig Versicherter mehr haben und deshalb eine einheitliche kassenartenübergreifende Regelung geschaffen werden müsste. Zudem sollten eventuellen Verwerfungen im Wettbewerb vorgebeugt werden, weil die Krankenkassen damit keine Möglichkeit mehr haben sollten, günstigere beitragsrechtliche Einstufungen mit dem Ziel der Mitgliederbindung/-gewinnung vorzunehmen (vgl. Bundestags-Drucksache 16/3100 vom 24.10.2006, S. 163 f).

Dennoch sind sie in der derzeitigen Form nicht verfassungsrechtlich ordnungsgemäß zustande gekommen und deshalb nicht anwendbar. Unter Beachtung des Schutzbereiches des Art 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) stellt sich die Beitragszahlung als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar, die eine besondere gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Rechtfertigung erfordert (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2011 - L 1 KR 327/10 B ER). Sie kann jedenfalls nicht damit gerechtfertigt werden, dass für den hier betroffenen Personenkreis die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung "freiwillig" erfolgt und man sich "aus freien Stücken" den Regelungen unterwirft. Denn es handelt sich weiterhin nicht um ein durch Vertrag einvernehmlich ausgestaltetes Rechtsverhältnis, sondern um ein öffentlich-rechtliches Sozialversicherungsverhältnis, in dem der Versicherte für die Dauer seiner Mitgliedschaft den hoheitlichen Befugnissen der Krankenkasse unterliegt.

Eingriffe in Grundrechte lassen sich laut dem Grundgesetz jedoch nur durch - formelles - Gesetz oder auf Grund eines - formellen - Gesetzes begründen. Wenn der Gesetzgeber die Regelungen, die - wie hier die Beitragspflicht und die Beitragshöhe - in den grundgesetzlichen geschützten Bereich eingreifen, delegieren will, muss er sich deshalb dabei der im Grundgesetz vorgesehenen Formen bedienen. Dazu gestattet Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG dem Gesetzgeber, die Bundesregierung, einen Bundesminister oder die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zu ermächtigen. Der die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" erlassende Spitzenverband der Krankenkassen stellt jedoch eindeutig kein im Sinne des Art. 80 GG legitimiertes Staatsorgan dar, sondern stellt lediglich einen wohl im Sinne eines Vereins erfolgten Zusammenschluss der gesetzlichen Krankenkassen dar. Demzufolge ist er zum Erlass von Rechtsverordnungen nicht befugt, weshalb es sich bei den "Beitragsverfahrensgrundsätzen Selbstzahler" auch nicht um eine wirksam zustande eine Rechtsverordnung handeln kann.

In Anlehnung an die bis zum 31.12.2008 gültige Regelung des § 240 Abs. 1 SGB V, wonach die (einzelnen) Krankenkassen die Beitragsbemessung ihrer freiwillig Versicherten durch (autonome, wenn auch von der Aufsichtsbehörde zu genehmigende) Satzung regeln konnten, wäre daran zu denken, dass auch die Regelungen der Beitragsbemessung durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen in Form einer Satzung zu erfolgen hat, zumal die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber Körperschaften des öffentlichen Rechts dazu ermächtigt, eigene Angelegenheiten im Wege der Satzung zu regeln, nicht den durch Art. 80 GG gezogenen Beschränkungen für den Erlass untergesetzlichen Normen unterworfen ist, weil und soweit diese unmittelbar durch die Beschlüsse der von den Mitgliedern dieser Körperschaften gewählten Selbstverwaltungsorgane zustande kommen und damit eine eigenständige demokratische Legitimation aufweisen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 21.12.1966 - 1 BvR 33/64 und Beschluss vom 10.03.1998 - 1 BvR 178/97; so auch SG München mit rechtskräftigem Urteil vom 02.03.2010 - S 19 KR 873/09 mit weiteren Nachweisen, anderer Auffassung: SG Dresden, Gerichtsbescheid vom 05.01.2011 S 18 KR 467/10).

Jedoch hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen; entgegen der zwingenden Regelung des § 271 e Abs. 1 SGB V die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" nicht durch seinen 41-köpfigen Verwaltungsrat als das von den Krankenkassen gewählte Organ der Selbstverwaltung (§ 217 b und 217 c SGB V) erlassen, sondern durch seinen Vorstand, der lediglich vom Verwaltungsrat gewählt wird und aus höchstens drei Mitgliedern besteht (§ 217 b Abs 2 SGB V). Damit wurden sie also nicht durch das - unter dem Gesichtspunkt der Selbstverwaltung legitimierte - Organ erlassen, sondern formlos durch das Exekutiv-Organ beschlossen, das jedoch "nicht über die hinreichende demokratische Legitimation zur eigenständigen Rechtssetzung" verfügt (so auch ausdrücklich: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2011- L 1 KR 327/10 B ER). Schließlich bedürfen auch Satzungen des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen der Genehmigung der zuständigen Aufsichtsbehörde, also dem Bundesministerium für Gesundheit oder des Bundesministeriums für Arbeit (§ 217 d SGB V), die - ebenfalls unstreitig - bisher nicht vorliegt. Entsprechend sind die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" auch als Satzung nicht wirksam zustande gekommen. Ganz abgesehen davon, dass der Spitzenverband der Krankenkassen nur zum Erlass von Satzungen bzw. zur Erteilung von Entscheidungen gegenüber seinen Mitgliedern, also den einzelnen gesetzlichen Krankenkassen und die - quasi im Durchgriff gegenüber allen freiwilligen Mitgliedern seiner Mitgliedskrankenkassen befugt sein dürfte, erfüllt eine auf § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB V durch den Vorstand erteile "Entscheidung" in Form der "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" keinesfalls die durch Art. 80 GG gezogenen Grenzen (vgl. dazu und zu weiteren Bedenken: SG München, Urteil vom 02.03.2010 - S 109 KR 873/09, dem sich die Kammer auch insoweit ausdrücklich anschließt sowie Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 21.02.2011 - L 1 KR 327/10 B ER ).

Die "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" sind daher unwirksam, weil sie trotz der gesetzlichen Ermächtigung in § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sind. Weil es mithin gegenüber dem Versicherten an einer Rechtswirkung entfaltenden untergesetzlicher Norm fehlt, ist ein darauf gestützter Verwaltungsakt, wie hier der Bescheid vom 05. Mai 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2009, rechtswidrig. Die dadurch bestehende Lücke in Bezug auf die Beitragsfestsetzung für freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung lässt sich auch nicht in der Form "bloßer - allgemeiner -Verwaltungsvorschriften, mit den nur klarstellend auf bestehende gesetzliche Normen zur Beitragsbemessung Bezug genommen wird", schließen.

Mangels einer gegenüber dem letzten, die Beitragspflicht für den Zeitraum bis zum 31.12.2008 feststellenden Bescheid geänderten Sach- oder Rechtslage, war die Beklagte daher nicht berechtigt, ab dem 01.01.2009 eine Änderung der Beitragsberechnung vorzunehmen. Demzufolge erweist sich der die bisherige bis zum 31.12.2008 auf der Grundlage des Mindestbeitrages gerichteten Berechnungspraxis als weiterhin gültig, weshalb sich der diese Regelung ändernde Bescheid der Beklagten vom 16.Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. November 2009 als rechtswidrig erweist und war auf Antrag der Klägerin aufzuheben. Entgegen der Auffassung der Beklagten war der Bescheid auch in vollem Umfang aufzuheben, weil es sich um eine Änderung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung handelte, so dass der davor gültige, bindend gewordene Beitragsbescheid weiterhin rechtswirksam bleibt.

Doch selbst wenn man mit der Beklagten der Auffassung wäre, das die "Beitragsverfahrensrechtlichen Grundsätze" rechtswirksam zustande gekommen wären und daher bindende Regelungen sowohl für die Krankenkassen wie für deren (freiwillige) Mitglieder begründen könnten, würde sich die von der Beklagten vertretene Auffassung, dass mangels "gemeinsamen Kindern" weder für alle noch für einen Teil der im Haushalt der Klägerin und ihres Ehemannes lebenden Kinder Abzüge beim Einkommen ihres Ehemannes und/oder ihrem, aus dessen Bruttoeinkommen abgeleiteten eigenen Einkommens vorzunehmen ist, nicht im Einklang mit höherrangigem Recht befinden. Zwar erscheint der Begriff des "gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kindes" im Sinne des § 2 Abs. 4 Satz 2 "Beitragsverfahrensrechtliche Grundsätze Selbstzahler" eindeutig, so dass weder die Kinder der Klägerin aus früheren Beziehungen noch die Kinder ihres Ehemannes aus dessen früherer/n Beziehung/en als gemeinsame Kinder zu einer Minderung des gemeinsamen Einkommens der Eheleute führen würden, jedoch widerspricht eine solche Auslegung des Begriffs "gemeinsame Kinder" sowohl nach den Intentionen des Gesetzgebers wie nach den grundgesetzlichen Vorgaben.

So wird die solidarisch geprägte gesetzliche Krankenversicherung durch Beiträge ihrer Mitglieder finanziert, die an deren wirtschaftlicher Belastung ausgerichtet ist. Entsprechend wird die Höhe des Beitrages grundsätzlich aus dem Einkommen des Mitgliedes berechnet, wobei - je nach Einkommensart - eigenständige Berechnungsgrundsätze herangezogen werden. Im Wesentlichen soll auch durch die Heranziehung von Nebeneinkünften - siehe etwa die Berücksichtigung von Lebensversicherungen aus einer vom Arbeitgeber (teil-)finanzierten Direktversicherung - die Beitragslast an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden. Dem folgt auch die Regelung des § 2 Abs. 4 Satz 1 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler", denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Ehegatten und Lebenspartners, dessen anderer Teil nicht gesetzlich versichert ist, wird durch die Hälfte des gemeinsamen "Haushaltseinkommens" bestimmt. Denn sollten beide gesetzlich versichert sein, würde sich bei beiden die Beitragslast nach den jeweiligen tatsächlichen Einkommensverhältnissen richten. Mit diesen Regelungen erreicht man, dass auch der ohne eigenes Einkommen (pflicht-)versicherte Ehepartner von dem gemeinsamen Familieneinkommen, das gerade auch ihm zugute kommt, seinen Beitrag zu leisten hat.

Folgerichtig hat deshalb der Spitzenverband der Krankenkassen in § 2 Abs. 4 Satz 1 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" geregelt, dass von dem Einkommen des nicht gesetzlich versicherten Ehegatten oder Lebenspartners für gemeinsam unterhaltspflichtige Kinder Abzüge in bestimmter Höhe (je ein Drittel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV zu machen sind, wenn diese nicht ohnehin der Familienversicherung unterliegen. Denn damit wird erreicht, dass sich die dadurch bedingte Beitragsbelastung aus der Eigenversicherung der Kinder sich einkommensmindernd auswirkt.

Diese Grundsätze müssen jedoch auch, oder gerade erst recht, dann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - das "Familieneinkommen" nur durch einen, nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Ehemann erbracht wird und dieser neben der Unterhaltsverpflichtung samt Versicherungsschutz gegenüber seinen leiblichen, aber nicht mit seiner jetzigen Ehefrau gemeinsam gezeugten oder gemeinsam adoptierten Kindern auch noch weitere Kinder seiner jetzigen Ehefrau im gemeinsamen Haushalt versorgt. Es ist nicht einzusehen, dass bei einer "Patchwork-Familie" das gemeinsame "Familien-Einkommen" nur dadurch nicht zu verringern ist, weil es sich nicht um gemeinsam gezeugte Kinder handelt. Dementsprechend muss die Regelung des § 2 Abs. 4 Satz 2 "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" dahin ausgelegt werden, dass die in einer Familie zusammenlebenden und gemeinsam erzogenen Kinder, jedenfalls wenn dies auf eine angemessene Zeit - wie hier - ausgerichtet ist, entsprechend zu einem Abzug am Einkommen des nicht gesetzlich versicherten Ehegatten führt.

Dies erscheint auch unter Beachtung der Art. 3 und Art. 6 des Grundgesetzes geboten, da die Schlechterstellung sogenannter "Patchwork-Familien", deren Verbreitung sich in den letzten Jahren steigernd entwickelt hat, gegenüber Familien mit (nur) gemeinsam gezeugten Kindern, auch im System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht hingenommen werden kann.

Damit erweist sich der Bescheid der Beklagten vom 16.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2009 aus verschiedenen Gründen dadurch als rechtswidrig, dass die Beklagte - in Änderung zu der bis zum 31.12.2008 vorgenommenen Berechnungsweise - ab dem 01.01.2009 den Beiträgen der Klägerin ein - ungekürztes - Einkommen iHv. 1.363,61 EUR zugrunde gelegt hat.

Die Verpflichtung, die durch die Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2009 von der Klägerin zuviel geleisteten Beiträge zu erstatten, ergibt sich aus § 26 Abs. 2 Viertes Buch Sozialgesetzbuch Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV), zumal Verjährung nicht eingetreten ist (§ 27. Abs. 2 SGB IV).

Damit erweist sich die Klage in vollem Umfang begründet, so dass die Beklagte auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen hat (§ 193 SGG).
Rechtskraft
Aus
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