S 21 AS 499/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 499/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 126/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 79/20 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 31.10.2013 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 26.11.2013 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger endgültig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum 08.10.2013 bis 31.03.2014 zu gewähren.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II), insbesondere um das Eingreifen eines Leistungsausschlusses im Falle des Klägers.

Der im Jahr 1980 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehörigkeit. Er reiste im Januar 2012 ins Bundesgebiet ein und lebte zunächst in D-Stadt. Im Zeitraum 01.03.2012 – 28.02.2013 übte er eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Servicekraft in einer C Filiale aus. Das Beschäftigungsverhältnis endete wegen Auslaufens der vereinbarten Befristung. In der Folgezeit bezog der Kläger zunächst Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch – Drittes Buch – (SGB III) und ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Jobcenter Hanau (Bescheid v. 28.06.2013 für den Zeitraum 01.05. - 31.10.2013).

Zum 01.10.2013 verzog der Kläger dann nach A-Stadt. Dort hatte er bereits am 17.09.2013 bei der Beklagten Leistungen der Sicherung zum Lebensunterhalt beantragt. Das Jobcenter Hanau stellte durch Bescheid v. 21.10.2013 die Leistungsgewährung an den Kläger zum 07.10. ein. Die Beklagte lehnte ihrerseits den Leistungsantrag durch Bescheid vom 31.10.2013 ab. Dies begründete sie damit, der Kläger unterliege dem gesetzlichen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, da sein Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Grund der Arbeitssuche herleite.

Gegen die Entscheidung der Beklagten legte der Kläger mit Schreiben v. 05.11.2013 Widerspruch ein. Parallel stellte er einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Darmstadt, woraufhin die Beklagte mit Beschluss v. 11.11.2013 verpflichtet wurde, ihm vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 05.11.2013 – 31.03.2014 zu erbringen. Dies setzte die Beklagte durch zwei Bescheide vom 18.11.2013 um, mit denen sie ihm "vorläufig" und "ausschließlich aufgrund des Beschlusses im Eilverfahren" Leistungen gewährte. Den Widerspruch wies die Beklagte jedoch durch Bescheid v. 26.11.2013 zurück. Der Kläger unterliege dem Leistungsausschluss und könne insbesondere auch kein Freizügigkeitsrecht aus der vorherigen Beschäftigung bei C. herleiten. Diese habe nicht länger als ein Jahr gedauert, sondern genau ein Jahr. Eine Fortwirkung des Arbeitsnehmerstatus über einen längeren Zeitraum als sechs Monate setze jedoch nach der Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) gerade ausdrücklich eine Dauer des Beschäftigungsverhältnisses von mehr als einem Jahr voraus.

Der Kläger hat am 11.12.2013 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Er trägt vor, der Leistungsausschluss nach dem § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife in seinem Fall nicht ein.

Nach Klagerhebung sind infolge von Änderungen leistungserheblicher Umstände noch Bescheide v. 09.12.2013 und v. 11.02.2014 ergangen, mit denen die Leistungshöhe neu festgesetzt worden ist. Zudem hat der Antragsteller am 14.02.2014 einen Weiterbewilligungsantrag gestellt, woraufhin ihm durch Bescheid v. 20.03.2014 vorläufige Leistungen ab dem 01.04.2014 bewilligt wurden.

Er beantragt nunmehr,
den Bescheid vom 31.10.2013 in Gestalt der Bescheide vom 18.11.2013, des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2013 und der Bescheide vom 09.12.2013 sowie 11.02.2014 aufzuheben bzw. abzuändern, und die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen im Zeitraum 08.10.2013 bis 31.03.2014 endgültig zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich auf die in den Bescheiden gegebene Begründung.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Leistungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Zulässigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass die Beklagte durch Bescheide v. 09.12.2013 und 11.02.2014 Leistungen für den gegenständlichen Zeitraum bewilligt hätte. Zwar findet sich in diesen Bescheiden kein ausdrücklicher Hinweis darauf, dass die Gewährung nur im Hinblick auf die einstweilige Anordnung des Sozialgerichts erfolgen sollte. Jedoch folgt aus den Umständen, dass keine endgültige Leistungsbewilligung in Form einer Abhilfe beabsichtigt war. Denn noch durch Bescheid v. 26.11.2013, der dem Bescheid v. 09.12.2013 unmittelbar vorausging, war der Widerspruch zurückgewiesen und von der Beklagten klar zum Ausdruck gebracht worden, dass sie weiterhin nicht von einer Leistungsberechtigung des Klägers ausging. Zudem betraf der Bescheid v. 09.12.2013 nur die Zeit, in der die Beklagte durch das Gericht vorläufig zur Leistungserbringung verpflichtet worden war. Auch durch den Änderungsbescheid v. 11.02.2013 ist erkennbar nur eine Anpassung der Leistungshöhe an die geänderten Umstände infolge eines Umzugs des Klägers beabsichtigt gewesen. Für einen Regelungswillen dahin, dass nunmehr für den begrenzten Zeitraum Februar und März 2014 eine Abhilfe erfolgen sollte, gab es aus Sicht eines objektivem Empfängers an Stelle des Klägers keine Anhaltspunkte.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 31.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 08.10.2013 – 31.03.2014.

Er unterlag im genannten Zeitraum insbesondere keinem Leistungsausschluss. Ausgenommen von der Leistungsberechtigung sind nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in der im streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Fassung solche Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Der Kläger verfügte hier aber über einen sog. fortwirkenden Arbeitnehmerstatus aus seiner vormaligen Beschäftigung bei C.

Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach Abs. 2 Nr. 1 der Vorschrift insbesondere Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollten. Das Recht nach Absatz 1 bleibt gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 für Arbeitnehmer unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 hingegen nur während der Dauer von sechs Monaten unberührt (Satz 2).

Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum nicht beschäftigt. Auch war er zuvor bei C. nicht länger als ein Jahr, sondern genau ein Jahr (01.03.2012 – 28.02.2013) beschäftigt. Jedoch verfügte er nach Auffassung der Kammer in entsprechender Anwendung des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU trotzdem über den dort geregelten erweiterten Schutzstatus.

Im Abgleich des Wortlautes der Vorschriften des § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und § 2 Abs. 3 S. 2 SGB II fällt auf, dass dort nur die Dauer der Fortwirkung im Falle von Beschäftigungen, die länger als ein Jahr andauerten, und solcher Beschäftigungen, die kürzer als ein Jahr währten, geregelt ist. Es fehlt eine Regelung für Beschäftigungen, die - wie hier - genau ein Jahr dauerten. Da sich weder in den Gesetzesmaterialien noch in den unionsrechtlichen Vorgaben Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass für solche Beschäftigungen von genau einem Jahr Dauer keine Regelung getroffen werden sollte, ist insofern von einem Versehen des Gesetzgebers und damit einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen.

Bei der Schließung dieser Regelungslücke ist nach Auffassung des Gerichts auf die gemeinschaftsrechtliche Grundlage der in § 2 FreizügG/EU geregelten Tatbestände, nämlich die sog. Unionsbürger-Richtlinie (2004/38/EG) zurückzugreifen. Dort findet sich in Art. 7 Abs. 3 folgende Regelung:

"Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt,

in folgenden Fällen erhalten:

( ...)

b) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;

c) er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten; ( ...)"

Zwar gibt es demnach auch in der Richtlinie keine ausdrückliche Regelung für Fälle des Bestehens einer Beschäftigung von genau einem Jahr. Jedoch spricht der Wortlaut der Vorschrift in Buchstabe c), wonach bei "auf weniger als ein Jahr" befristeten Arbeitsverträgen eine Fortwirkung von mindestens sechs Monaten eintreten soll, aus Sicht der Kammer dafür, dass der Richtliniengeber jedenfalls bei auf ein Jahr befristeten Arbeitsverträgen bereits die Regelung des Buchstaben b) eingreifen lassen wollte. Es gibt auch hier keine Anhaltspunkte dafür, dass genau einjährige Befristungen zu gar keiner Fortwirkung des Schutzstatus führen sollten. Demnach ging der Richtliniengeber bei der Formulierung des Buchstaben c) offenbar davon aus, dass solche Beschäftigungen bereits von Buchstabe b) erfasst würden.

Demzufolge wirkte der durch die Beschäftigung für ein Jahr erworbene Erwerbstätigenstatus des Klägers im hier streitgegenständlichen Zeitraum noch fort. Der Verlust der Beschäftigung war aufgrund des befristeten Arbeitsverhältnisses auch unfreiwillig. Einer ausdrücklichen Bestätigung der Unfreiwilligkeit durch die Bundesagentur für Arbeit bedarf es in den offensichtlichen Fällen des Auslaufens einer solchen Befristung aus Sicht der Kammer nicht.

Die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs.1 S. 1 SGB II lagen hier ebenfalls vor. Insbesondere gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine etwa fehlende Erwerbsfähigkeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum. Erwerbsfähig ist nach § 8 Abs. 1 SGB II, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Kläger litt zwar an durchaus erheblichen Erkrankungen (HIV und Hepatitis), die jedoch behandelbar sind. Es kann daher jedenfalls nicht von einer Herabsetzung seiner Leistungsfähigkeit im erforderlichen Ausmaß ausgegangen werden, die in ihrer Dauer nicht absehbar gewesen wäre.

Auch eine Hilfebedürftigkeit des Klägers war im gegenständlichen Zeitraum gegeben. Er verfügte zunächst nach eigener, glaubhafter Aussage lediglich über nicht-bedarfsdeckende Einkünfte in Form von Geld- und Sachspenden der Aidshilfe A-Stadt. Ab Erlass der einstweiligen Anordnung lebte er dann von den vorläufigen Leistungen. Auf sonstiges Einkommen und Vermögen gibt es keine Hinweise.

Die Festsetzung der Leistungshöhe bleibt dem Beklagten vorbehalten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits. Das zulässige Rechtsmittel der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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