S 19 SB 455/04

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 19 SB 455/04
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
§ 131 Absatz 5 Satz 1 SGG ist auf kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen anwendbar.
I. Der Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von höher als 20. Die am 1951 geborene Klägerin beantragte am 24.10.2002 bei dem Beklagten die Feststellung von Behinderungen und des Grades der Behinderung. Der Beklagte zog einen Reha-Entlassungsbericht der Klinik B K vom 18.11.2002, eine Epikrise des Städtischen Klinikums G vom 19.09.2002 und Befundberichte von DM N , FA für Chirurgie, vom 17.12.2002, von Dr. W , FA für Nuklearmedizin, vom 09.10.2002, von DM K , FÄ für Augenheilkunde, vom 19.01.2003 und von Herrn B , FA für Chirurgie, vom 06.03.2003 bei und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 08.07.2003 ab, weil zwar eine Funktionsbehinderung des Schultergelenkes nach osteo-synthetisch versorgter Oberarmkopffraktur links und eine Sehminderung beiderseits vorlie-ge, der dadurch bedingte GdB aber nicht wenigstens 20 betrage. Hiergegen erhob die Klägerin am 28.07.2003 Widerspruch und legte eine Stellungnahme von Herrn B vom 24.06.2003 vor. Der Beklagte holte einen Befundbericht von Herrn B vom 18.12.2003 ein und half dem Widerspruch mit Abhilfe-Bescheid vom 03.02.2004 insofern ab, als er mit Wirkung vom 24.10.2002 einen GdB in Höhe von 20 feststellte. Am 08.03.2004 teilte die Klägerin mit, dass sie diesen Bescheid als Teilabhilfebescheid be-trachte und um Weiterführung des Widerspruchsverfahrens bitte. Sie legte von der BfA ein-geholte Befundberichte der Hausärztin Dr. R vom 13.04.2004 und des Chirurgen, Herrn B , vom 26.04.2004 vor. Der Beklagte holte Befundberichte von DM K vom 02.05.2004 und von Herrn B vom 26.04.2004 ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 zu-rück. Die Klägerin hat am 08.10.2004 vor dem Sozialgericht Dresden Klage erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, wegen der Folgen einer Humerustrümmerfraktur in der linken Schulter habe die BfA ihr eine befristete Rente bewilligt. Mit dem linken Auge habe die Klägerin nicht mehr Sehkraft als 10 %. Auch die Schultererkrankung sei zu gering bewertet worden, da erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen. Die linke Schulter sei praktisch versteift. Darüber hinaus sei bei dem Unfall der Axillarnerv erheblich geschädigt worden, was einen Dauerschmerz im Bereich der linken Schulter sowie im Nackenbereich und Arm links zur Folge habe. Die Klägerin beantragt, 1. den Bescheid des Beklagten vom 03.02.2004 in der Fassung des Widerspruchs-bescheides des Beklagten vom 04.10.2004 aufzuheben, 2. der Klägerin wird ein Grad der Behinderung mindestens in Höhe von 30 v.H. zuer-kannt. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er hält den Rechtsstreit für nicht entscheidungsreif und regt an, hinsichtlich der Bewegungs-einschränkung des Schultergelenkes links weiter Beweis zu erheben. Im April 2004 werde eine wesentliche Verschlimmerung vergleichbar einer Versteifung des linken Schultergelen-kes bestätigt. Die Funktionsmaße seien aber nicht in der üblichen Art der Begutachtung an-gegeben. Eine wesentliche Verschlimmerung des Befundes sei zwar nicht ausgeschlossen, in der Regel werde bei modernen Osteosyntheseverfahren aber ein gutes funktionelles Er-gebnis erreicht. Im Rahmen der Begutachtung sollten neben den Schulterkonturen die Be-wegungsmaße beider Schultergelenke aktiv und passiv, die Umfangmaße, der Kräftegrad und die Sensibilität sowie mögliche lokalisierte Atrophien angegeben sein. Das Gericht hat daraufhin angekündigt, wegen mangelhafter Sachverhaltsaufklärung nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG zu verfahren. Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass nach den Befunden von September und Dezem-ber 2003 der GdB von 20 angemessen sei. Der Befundbericht vom April 2004 sei nicht in der in Unfallchirurgie und Orthopädie seit 40 Jahren üblichen Neutral-O-Methode und unter An-gabe auch der gesunden Seite abgefasst. Er widerspreche den Befunden von September und Dezember 2003. Eine Verschlimmerung in der kurzen Zeit sei aus unfallchirurgischer Sicht unwahrscheinlich, aber letztlich nicht 100%ig auszuschließen. Er habe in der Bewer-tung somit keine Anwendung gefunden. Die Klägerin hat zu bedenken gegeben, dass der Beklagte in der Lage sein dürfte, die Er-mittlungen im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens nachzuholen. Auch das Gericht könne durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens Beweis erheben. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte so-wie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ergeht nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid. Die zulässige Klage ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbeschei-des ohne damit verbundene Entscheidung in der Sache begründet. Nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG kann das Gericht, wenn es eine weitere Sachverhaltsauf-klärung für erforderlich hält, ohne in der Sache selbst zu entscheiden den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderli-chen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Be-lange der Beteiligten sachdienlich ist. Diese Vorschrift ist im Rahmen der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage der Klägerin anwendbar. Die Auffassung von Bienert (SGb 2005, 84), der den Anwendungsbe-reich des zum 01.09.2004 in Kraft getretenen § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG auf reine Anfech-tungsklagen beschränkt sieht, vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist der § 113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, dem § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG wörtlich nachgebildet ist, nach der Recht-sprechung der Verwaltungsgerichte auf Anfechtungsklagen beschränkt. Eine Übernahme dieser Rechtsprechung auf die Anwendbarkeit des § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG ist jedoch weder zwingend noch sachdienlich. Der Gesetzgeber verweist in der Gesetzesbegründung auf § 113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, setzt sich jedoch mit der Rechtsprechung zu dieser Vorschrift nicht auseinander (BT-Drs 15/1508, S. 29 zu Art. 8 Nr. 1). Ob er den Anwendungsbereich gegenüber dem Verwal-tungsprozess ausdehnen wollte, ergibt sich daher aus der Gesetzesbegründung nicht. Aller-dings verfolgt der Gesetzgeber mit der Einfügung der Vorschrift das explizite Ziel, dem Ge-richt zeit- und kostenintensive Sachverhaltsaufklärungen zu ersparen, die eigentlich der Be-hörde obliegen. Nach den Beobachtungen der Praxis werde die erforderliche Sachver-haltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer sachwid-rigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führe. Die systematische Einfügung des § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG an Ende einer Vorschrift über Anfechtungs- und Verpflichtungsklage deutet aber daraufhin, dass sie sich auf beide ge-nannten Klagearten beziehen soll. Anders verhält es sich mit § 113 Absatz 3 Satz 1 VwGO, der nach den Vorschriften über die Anfechtungsklage, aber vor den Vorschriften über die Leistungs- und Verpflichtungsklage (§ 113 Absatz 4 und 5 VwGO) eingefügt ist. Die syste-matische Auslegung stützt also eine Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Vorschrift auf die Verpflichtungsklage (so auch Zeihe, SGG, 39. EL 1.11.2004, § 131 Rn. 25b). Dies erscheint im Ergebnis auch sachgerecht. Anders als in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bezieht sich die überwiegende Anzahl der Streitigkeiten in der Sozialgerichtsbarkeit auf kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen. Ist in diesen Fällen die eigentlich der Behörde obliegende, häufig zeit- und insbesondere kostenintensive Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht nachzuholen, so entstehen der Staatskasse (Justizressort) erhebliche zusätzliche Kosten, die sie wegen des Grundsatzes der Kostenfreiheit des sozialgerichtli-chen Verfahrens (§ 183 SGG) in der Regel nicht auf die Verfahrensbeteiligten abwälzen kann. Auch dies verhält sich im Verwaltungsprozess anders, der einen solchen Grundsatz nicht kennt. Der § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG gibt damit dem Gericht ein Mittel an die Hand, die Kosten für die Sachverhaltsaufklärung auch wirklich an der Stelle anfallen zu lassen, die der Gesetzgeber mit der entsprechenden Aufgabe betraut hat. Um den § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG nicht gemäß der Auffassung von Bienert (SGb 2005, 84, 88) seines Anwendungsbe-reiches fast vollständig zu berauben, erscheint es dem damit Gericht angezeigt, ihn auch auf kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen anzuwenden. Der Widerspruchsbescheid vom 04.10.2004 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er ist unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 20 SGB X ergangen und damit nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG aufzuheben. Denn wegen des Verstoßes gegen den Untersuchungsgrundsatz durch den Beklagten ist weitere Sachaufklärung erforderlich. Der Bescheid vom 03.02.2004 ist hingegen auf ausreichende Ermittlungen hin ergangen, so dass seine Aufhebung nicht erfolgt. Dies hat für alle Beteiligten den Vorteil, dass das Verfah-ren durch den Gerichtsbescheid in das Stadium des Widerspruchsverfahrens zurückversetzt wird und somit ein erneutes Durchlaufen von Ausgangs- und Widerspruchsverfahren ent-behrlich ist, was zu einer Verfahrensbeschleunigung führt. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Grades der Behinderung ist nach dem Inkrafttreten des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Men-schen – am 01.07.2001 (SGB IX) gemäß Art. 68 des Gesetzes vom 19.06.2001 (BGBl. I 2001, Seiten 1046 ff.) § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.V.m. § 2 Abs. 1 SGB IX. Danach erfolgt die Feststellung des Grades der Behinderung durch die für die Durchführung des Bundes-versorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX. Auf den am 24.10.2002 bei ihm eingegangenen Antrag der Klägerin hatte der Beklagte ge-mäß dem in § 20 SGB X festgehaltenen Untersuchungsgrundsatz den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (Absatz 1 Satz 1) und durfte dabei Art und Umfang der Ermittlungen bestimmen (Absatz 1 Satz 2). Nach seinem pflichtgemäßen Ermessen konnte der Beklagte zur Ermittlung des Sachverhalts insbesondere Auskünfte jeder Art oder schriftliche Äuße-rungen von Sachverständigen einholen oder den Augenschein einnehmen (§ 21 Absatz 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, 2 und 4 SGB X). Der Beklagte hat den Sachverhalt durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte und von Entlassungsberichten der behandelnden Kliniken aufgeklärt. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings weichen die von der Hausärztin in ihrem Befundbericht vom 13.04.2004 angege-benen Befunde ganz erheblich von den aus der Zeit bis Ende 2003 bekannten Befunden ab. Daher hat der Beklagte in der Klageerwiderung selbst eingeräumt, dass das Verfahren noch nicht entscheidungsreif sei und er weitere Ermittlungen für erforderlich halte. Wieso er aller-dings diese erforderlichen Ermittlungen nicht vor Erlass des Widerspruchsbescheides selbst durchgeführt hat, bleibt im Dunkeln. Es hätte sich für den Beklagten geradezu aufdrängen müssen, in diesem Falle weitere Er-mittlungen anzustellen. Auch die Tatsache, dass der Beklagte im Nachhinein vermutet, eine Verschlimmerung seit Ende 2003 sei sehr unwahrscheinlich, entbindet den Beklagten nicht von der Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes. Dies umfasst die Aufklärung widersprüchlicher Befunde. Auf welcher Grundlage der Beklagte sich über einen jüngeren Befund hinwegsetzen könnte, weil er mit den bisher vorliegenden älteren Befunden nicht (mehr) im Einklang steht, ist nicht ersichtlich. Nicht nur zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides, sondern auch nunmehr zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts ist daher weitere Sachaufklärung erforderlich. Diese sollte durch Einholung eines aktuellen orthopädischen oder chirurgischen Befundes erfolgen. Es drängt sich auf, wie es auch der Beklagte selbst angeregt hat, neben den Schulterkonturen die Bewegungsmaße beider Schultergelenke aktiv und passiv, die Um-fangmaße, der Kräftegrad und die Sensibilität sowie mögliche lokalisierte Atrophien festzu-stellen bzw. feststellen zu lassen. Ob eine solche Feststellung durch die Beiziehung der bei der BfA vorhandenen Unterlagen (die der Beklagte bislang unterlassen hat) und die Einho-lung weiterer qualifizierter Befundberichte der behandelnden Fachärzte möglich ist, vermag das Gericht nicht abzusehen. Vieles spricht aber dafür, dass eine belastbare Feststellung in diesem Fall sachdienlicherweise durch Einholung eines Fachgutachtens erfolgen sollte. Art und Umfang der noch erforderlichen Ermittlungen sind demnach erheblich, da eine or-thopädische oder chirurgische Untersuchung der Klägerin durch den medizinischen Dienst des Beklagten oder einen unabhängigen Sachverständigen erforderlich erscheint. Die Aufhebung des Widerspruchsbescheides ist unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich. Eine Verfahrensverzögerung ist damit nicht zwingend verbunden, da der Beklagte über einen eigenen medizinischen Dienst verfügt und damit unter Umstän-den schneller ein Fachgutachten einzuholen vermag, als dies dem Gericht, das auf die Ein-schaltung freier Gutachter angewiesen ist, möglich wäre. Die damit verbundenen Kosten wären vom Beklagten auch bei einer ordnungsgemäßen Sachaufklärung zu tragen gewe-sen. Die Anwendung der Prinzipien der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Verhältnismä-ßigkeit, an denen der Beklagte seine Vorgehensweise offenbar zu orientieren versucht, hätte allerdings dazu führen müssen, dass der Beklagte bereits vor Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheidese ausreichende Ermittlungen anstellt. In diesem Fall hätte das vor-liegende Gerichtsverfahren möglicherweise vermieden werden können. Durchschlagende Gründe, die einem Vorgehen nach § 131 Absatz 5 Satz 1 SGG entgegen-stünden, sind damit nicht ersichtlich. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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