S 18 KR 440/03

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 440/03
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die ärztliche Empfehlung einer stufenweisen Wiedereingliederung ist auf Grund ihrer therapeutischen Zielrichtung ein untrennbares Element des ärztlich verantworteten Behandlungskonzepts und unterliegt deshalb nur einer eingeschränkten Überprüfung durch die Krankenkasse bzw. den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung auf die Vertretbarkeit der darin enthaltenen Prognose aus ex ante-Perspektive.
I. Der Bescheid vom 28.10.2002 in der Fassung des Bescheids vom 03.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.08.2003 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Krankengeld auch für den Zeitraum vom 01.11.2002 bis zum 22.11.2002 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Krankengeld.

Die 1954 geborene Klägerin ist seit 1990 bei der Bundesanstalt bzw. -agentur für Arbeit als Arbeitsvermittlerin in Vollzeit beschäftigt. Am 10.09.2002 stellte sie sich wegen Schwindel und Mattigkeit ihrem behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin U. T. vor, der erstmals einen Diabetes mellitus vom Typ II diagnostizierte und der Klägerin Arbeitsunfähigkeit bescheinigte.

Am 21.10.2002 empfahl der behandelnde Arzt der Klägerin eine stufenweise Wiedereingliederung ab dem 28.10.2002 bis zum 22.11.2002 im Umfang von täglich 5 Arbeitsstunden. Eine vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei noch nicht absehbar. Die Bundesanstalt für Arbeit stimmte als Arbeitgeberin dem Wiedereingliederungsplan des Arztes mit der Maßgabe zu, dass sie der Klägerin für die Dauer der Wiedereingliederung keine Bezüge zahlen werde.

Ebenfalls am 21.10.2002 ließ die Beklagte die Klägerin durch die Gutachterärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Dr. med. S. begutachten. Diese diagnostizierte einen oral-medikamentös gut eingestellten Diabetes mellitus Typ II sowie ein Hypertonie-Syndrom mit kleinen Schwankungen. Sie schätzte ein, dass die Klägerin ihre frühere Tätigkeit wieder aufnehmen könne und stellte das Ende der Arbeitsunfähigkeit am 25.11.2002 fest.

Durch Bescheid vom 28.10.2002, der nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, verfügte die Beklagte, dass Krankengeld nur bis zum 31.10.2002 gezahlt werde, ab dem 26.10.2002 sei die Klägerin wieder arbeitsfähig.

Der behandelnde Allgemeinmediziner trat dem Gutachten des Medizinischen Dienstes unter dem 28.10./18.11.2002 entgegen. Die Einschätzung des Gesundheitszustandes durch die Gutachterärztin treffe auf Klägerin nicht zu. Erhebliche Stressoren am Arbeitsplatz und eine Hypoglykämieneigung erforderten für 4 Wochen einen Schonarbeitsplatz im Umfang von 5 Stunden täglich. Erst ab dem 23.11.2002 bescheinigte er der Klägerin eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit.

Der Gutachterarzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Dr. med. Reinfried nahm am 29.11.2002 hierzu dahin gehend Stellung, dass der behandelnde Arzt keine paraklinischen Befunde mitgeteilt habe, welche eine Arbeitsunfähigkeit begründen würden.

Mit am 02.01.2003 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 27.12.2002 beantragte die Klägerin ausdrücklich Krankengeld auch für den Zeitraum vom 01.11.2002 bis zum 22.11.2002.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 03.02.2003, wiederum ohne Rechtsbehelfsbelehrung, unter Verweis auf ihren Bescheid vom 28.10.2002 ab.

Gegen die Ablehnung wandte sich die Klägerin mit ihrem am 16.06.2003 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch vom 12.06.2003, in dem sie auf die Gegenäußerung ihres behandelnden Arztes Bezug nahm.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.08.2003, der am 13.08.2003 zugestellt wurde, zurück. Weder die mitgeteilte Hypoglykämieneigung noch Stress am Arbeitsplatz rechtfertigten allein eine Arbeitsunfähigkeit. Dies sei erst dann der Fall, wenn eine körperliche Beeinträchtigung zu erwarten ist, welche die Ausübung der Arbeit nicht zulässt. An Hand des ärztlichen Berichts seien derartige körperliche Beeinträchtigungen nicht erkennbar.

Hiergegen richtet sich die am 11.09.2003 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage. Die Beklagte habe die beruflichen Anforderungen wie Stresstoleranz und Belastbarkeit nicht ausreichend berücksichtigt. Arbeitsunfähigkeit sei auch gegeben, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, welche Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 28.10.2002 in der Fassung des Bescheides vom 03.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.08.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Krankengeld auch für den Zeitraum vom 01.11.2002 bis zum 22.11.2002 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt unter Verweis auf die Gutachten und Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat einen Befundbericht beim behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin U. T. eingeholt. Dieser hat berichtet, die Klägerin habe im streitgegenständlichen Zeitraum an arterieller Hypertonie, einer psychisch-betrieblichen Belastungsreaktion, Diabetes mellitus vom Typ II sowie Adipositas gelitten. Gegenüber dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 22.10.2002 hat er eingewandt, dieses beruhe auf einem "Minutenbefund". Der Blutdruck sei mit RR-Werten von 170/100 mmHg keineswegs gut eingestellt gewesen. Das Gutachten bewerte nicht die Belastung der Klägerin bei einem vollschichtigen Einsatz mit Publikumsverkehr, Arbeitslosengesprächen, und erfolglosen Vermittlungsversuchen. Bei Konsultationen der Klägerin gegen 17:00 Uhr sei ihm die psychische Belastungsgrenze deutlich geworden. Ab Beginn der Arbeit mit Publikumsverkehr hätten sich die Blutzuckerwerte wieder verschlechtert.

Dem ist der Gutachterarzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Dr. med. B. in einer von der Beklagten beigebrachten Stellungnahme entgegen getreten. Die Blutzucker- und Blutdruckwerte seien nicht gravierend gewesen. Hypoglykämien seien nicht dokumentiert, aus den Befunden lasse sich keine Hypoglykämieneigung ableiten.

Darüber hinaus hat das Gericht eine Auskunft der Bundesagentur für Arbeit zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil im Beruf des Arbeitsvermittlers eingeholt.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12.01.2006 und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Bescheide vom 28.10.2002 und vom 03.01.2003 sowie der Widerspruchsbescheid vom 07.08.2003 sind rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Krankengeld auch für die Zeit der stufenweisen Wiedereingliederung vom 01.11.2002 bis zum 22.11.2002. Die Voraussetzungen eines Krankengeldanspruchs nach § 44 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - sind erfüllt. Die Klägerin war im Anschluss an den Vorbezug von Krankengeld weiterhin versichert (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V) und wegen Krankheit arbeitsunfähig.

Gemäß § 74 SGB V soll der Arzt, wenn arbeitsunfähige Versicherte nach ärztlicher Feststellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise verrichten können und sie durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden können, auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeiten angeben.

Das Gericht geht davon aus, dass der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin, als er die stufenweise Wiedereingliederung der Klägerin im Umfang von 5 Stunden täglich empfahl, die Voraussetzungen des § 74 SGB V zutreffend beurteilt und zu Recht festgestellt hat, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ihre bisherige Tätigkeit nicht in dem arbeitsvertraglich geschuldeten Umfang vollschichtig verrichten konnte und deshalb arbeitsunfähig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB V war.

Während der Dauer einer stufenweisen Wiedereingliederung nach § 74 SGB V verwirklicht sich das in § 44 Abs. 1 SGB V durch die Gewährung von Krankengeld abgesicherte Risiko der durch Arbeitsunfähigkeit verursachten Einkommenslosigkeit. Das Wiedereingliederungsverhältnis ist arbeitsrechtlich ein Rechtsverhältnis eigener Art. Gegenstand der Tätigkeit des Arbeitnehmers ist nicht die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung, sondern ein aliud. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet ist, die im zeitlich geminderte Tätigkeit des Arbeitnehmers als teilweise Arbeitsleistung entgegenzunehmen. Da der Arbeitnehmer im Wiedereingliederungsverfahren nicht die geschuldete Arbeitsleistung erbringt und wegen seiner Arbeitsunfähigkeit auch gar nicht erbringen kann, hat er auch keinen Anspruch auf Entgelt für die geleistete Tätigkeit. Im Vordergrund der Beschäftigung stehen vielmehr Gesichtspunkte der Rehabilitation des Arbeitnehmers. Dem Arbeitnehmer wird dadurch die Gelegenheit gegeben, zu erproben, ob er auf dem Wege einer im Verhältnis zur vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung quantitativ oder qualitativ verringerten Tätigkeit zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit gelangen kann. Wie sich insbesondere aus den Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung in der Anlage zu § 8 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V ergibt, spielen die therapeutischen Gründe beim Prozess der Wiedereingliederung die entscheidende Rolle. Unter Anderem sind die gesundheitlichen Auswirkungen der aufgenommenen Tätigkeit regelmäßig ärztlich zu untersuchen. Sind nachteilige Folgen zu erkennen oder zu befürchten, ist eine Anpassung oder ein Abbruch der Wiedereingliederung vorzunehmen (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteile vom 29.01.1992, Az. 5 AZR 37/91, und vom 28.07.1999, Az. 4 AZR 192/98).

Die Wiedereingliederung ist auf Grund ihrer therapeutischen Zielrichtung ein untrennbares Element des ärztlich verantworteten Behandlungskonzepts und unterliegt deshalb nur einer eingeschränkten Überprüfung durch die Krankenkasse bzw. den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (§ 275 Abs. 5 Satz 2 SGB V). Es greift demgegenüber zu kurz, lediglich darauf zu verweisen, dass die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Anspruch auf Krankengeld der - ggf. sachverständig beratenen - Krankenkasse obliegt und insoweit keine Richtigkeitsvermutung für die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung spricht. Zwar stellt die Gewährung von Lohnersatzleistungen keine Behandlungsleistung dar, über die der Arzt zu befinden hätte. Die Bestimmung von Art und Umfang der Wiedereingliederung in das Erwerbsleben unter therapeutischen Aspekten kann von der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als gesetzliche Anspruchsvoraussetzung des Krankengeldanspruchs indessen nicht getrennt werden.

Die Beurteilung der Fähigkeit des Versicherten, ohne Gefährdung seiner Gesundheit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wieder im vollen Umfang seiner früheren Tätigkeit nachzugehen, hat zunächst der behandelnde Arzt zu treffen. Dieser [hat] dem Versicherten gegenüber für die Einhaltung der ärztlichen Sorgfaltspflichten nach den Vorschriften des bürgerlichen Vertragsrechts einzustehen (vgl. § 76 Abs. 4 SGB V). Zudem trifft ihn als Garant im Sinne von § 13 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) eine über die allgemeine Hilfspflicht hinaus gehende besondere Verpflichtung zur Abwehr von Gefahren für die Gesundheit seiner Patienten. Diese Maßstäbe gelten auch für die ärztliche Empfehlung einer stufenweisen Wiedereingliederung.

Die Beklagte ist aus diesem Grund nicht befugt, lediglich ihre eigene Einschätzung oder die Einschätzung des von ihr eingeschalteten medizinischen Gutachtens- und Beratungsdienstes an die Stelle der Einschätzung des in erster Linie verantwortlichen Arztes zu setzen. Dies gilt, wie sich aus § 275 Abs. 5 Satz 2 SGB V ergibt, auch und insbesondere dann, wenn sie sich der Beratungsleistungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung bedient. Dessen Aufgabe ist auf eine Kontrolle der Vertretbarkeit des ärztlichen Handelns beschränkt. Anderenfalls müsste die Krankenkasse bzw. der sie beratende Arzt auch in die mit der Übernahme der Behandlung einhergehende zivilrechtliche Haftung für die Einhaltung der dem behandelnden Arzt obliegenden Sorgfaltspflichten und in dessen strafrechtliche Garantenpflicht wie ein Leistungserbringer eintreten. Dies würde den Rahmen der ihr als Träger der Krankenversicherung nach dem Sozialgesetzbuch obliegenden Aufgaben übersteigen.

Auch unter Berücksichtigung der Gutachten und Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung überschreitet die in der Empfehlung einer stufenweisen Wiedereingliederung liegende Feststellung der bis zum 22.11.2002 fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht die Grenzen der dem behandelnden Arzt zustehenden Einschätzungsprärogative.

Zutreffend ist der die Klägerin behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin, indem [er] die Belastungsfaktoren einer Vollzeittätigkeit zum Maßstab seiner Beurteilung gemacht hat, davon ausgegangen, dass Arbeitsunfähigkeit nicht nur dann vorliegt, wenn der Versicherte auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, sondern auch dann, wenn er sie unter Beachtung der die bisherige Tätigkeit konkret prägenden Bedingungen nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Arbeitsunfähigkeit liegt insbesondere auch vor, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.

Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch den behandelnden Arzt beinhaltet damit notwendig die Prognose eines hypothetischen Geschehensablaufes. Als solche ist sie naturgemäß nur eingeschränkt an Hand konkreter Befunde objektivierbar. Aus den oben genannten Gründen unterliegt sie darüber hinaus nur einer eingeschränkten Überprüfung durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung und die Gerichte auf die Vertretbarkeit der getroffenen Prognoseentscheidung (vgl. zu den Grenzen der Hinnehmbarkeit Bundessozialgericht, Urteil vom 17.08.1982, Az. 3 RK 28/81). Anhaltspunkte, dass die Einschätzung des behandelnden Arztes der Klägerin unvertretbar gewesen wäre, sind hier indessen nicht erkennbar.

Beim Diabetes der Klägerin handelte es sich - was in den Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes völlig unberücksichtigt bleibt - um eine erst kurz zuvor diagnostizierte Krankheit. Seit deren medikamentöser Einstellung unter den Bedingungen der vollständigen Arbeitsbefreiung war die Klägerin noch nicht wieder den mit ihrer Tätigkeit einhergehenden Belastungsfaktoren ausgesetzt. Aus der eingeholten Auskunft der Bundesagentur für Arbeit und der eigenen Sachkunde des mit einer Mitarbeiterin der Bundesagentur besetzten Gerichts ist der Kammer bekannt, dass die Tätigkeit als Arbeitsvermittler eine hohe nervliche Belastbarkeit und Stresstoleranz voraussetzt. Die Klägerin hatte bis dahin noch keine Erfahrung hinsichtlich der Einstellung ihrer Stoffwechsellage unter den Bedingungen eines vollschichtigen Arbeitstages erwerben können. Angesichts der Wechselwirkungen zwischen Stoffwechselfunktionen, aus der Umwelt einwirkenden - auch psychischen - Belastungsfaktoren und dem individuellen psychophysischen Kompensationspotential der Klägerin vor dem Hintergrund der Komorbidität von Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankung kann aus einer guten Einstellung der Blutzucker- und Blutdruckwerte während der vollständigen Arbeitsbefreiung nicht der Schluss gezogen werden, dass Stoffwechsel- und Kreislauflage auch unter den Bedingungen eines vollschichtigen Arbeitstages ab dem 28.10.2002 stabil bleiben würden. Die Klägerin musste den Umgang mit ihrer Erkrankung auch unter den Anforderungen ihrer beruflichen Tätigkeit nach Aufnahme der medikamentösen Therapie gleichsam erlernen. Es ist ein Gebot der Vernunft, es in dieser Situation auf das Risiko einer Stoffwechselentgleisung nicht erst ankommen zu lassen. Eine Phase der Beobachtung und des ggf. korrigierenden Eingreifens durch Anpassung der Medikation oder der beruflichen Belastung im Rahmen einer stufenweise Wiedereingliederung vor Beginn der vollen Arbeitsbelastung erscheint vor diesem Hintergrund als nachvollziehbar von ärztlicher Vorsorge getragene Entscheidung.

Die von der Beurteilung des behandelnden Arztes abweichende Einschätzung der Gutachterärzte des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung übersieht demgegenüber den Prognosecharakter der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Der Einwand, Befunde, welche die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit tragen könnten, seien nicht mitgeteilt, übersieht, dass der Sinn der (nur) stufenweisen Wiedereingliederung bzw. teilweisen Arbeitsbefreiung darin lag, den Eintritt gesundheitlicher Schäden gerade zu vermeiden. Entscheidend ist nicht, ob und wie die Klägerin äußere Belastungen während der bis zum 25.10.2002 andauernden Arbeitsbefreiung toleriert hat. Es kommt vielmehr auf die - bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nur hypothetisch zu prognostizierenden - gesundheitlichen Auswirkung an, die bei einer sofortigen uneingeschränkten (anstatt stufenweisen) betrieblichen Wiedereingliederung aus ex ante-Perspektive zu erwarten waren.

Das den Bescheiden der Beklagten zu Grunde liegende Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung verkennt schon, dass die Arbeitsfähigkeit oder -unfähigkeit tätigkeitsbezogen zu beurteilen ist. Es setzt sich mit den Belastungsfaktoren, welche vor dem Hintergrund der vorliegenden Erkrankungen die berufliche Einsetzbarkeit in der versicherten Tätigkeit beeinflussen können, nicht ansatzweise auseinander. Dem entsprechend lässt es eine Beurteilung der durch die Arbeitsumwelt vermittelten Einflussfaktoren auf den Gesundheitszustand der Klägerin und die daraus resultierenden Rückwirkungen auf ihre berufliche Einsetzbarkeit vermissen. Die im Schreiben der Beklagten vom 15.06.2004 geäußerte Meinung, eine erhebliche und vegetative Störung sowie eine herabgesetzte nervliche Belastbarkeit sei nur dann als krankheitswertig anzusehen, wenn eine fachärztliche Behandlung erfolgt, ist haltlos. Zwar kann bei länger dauernder Krankheit die unterbliebene Inanspruchnahme eines Facharztes ein Indiz für einen geringen Leidensdruck des Patienten sein. Keinesfalls kann jedoch daraus der Schluss auf das Fehlen einer Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne gezogen werden. Bestehen, wie hier, psychophysische Belastungsfaktoren, welche den Verlauf und die Behandlung einer Stoffwechselkrankheit beeinflussen können, dann wird die Prognose einer für die Dauer der stufenweise Wiedereingliederung nur eingeschränkten Arbeitsfähigkeit nicht durch die unterbliebene Inanspruchnahme eines Facharztes widerlegt.

Die Kammer hat deshalb keinen Grund gesehen, von der Einschätzung des die Klägerin behandelnden Arztes abzuweichen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus der finanziellen Beschwer der Beklagten in Höhe von 1.180,96 EUR (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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