S 44 AL 669/12

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
44
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 44 AL 669/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, den Bescheid vom 26.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2012 insoweit abzuändern, als eine Aufhebung nur für die Zeit vom 21.9.2012 bis 22.9.2012 erfolgt. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte zu Recht die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 21.9.2012 aufgehoben hat.

Die 1983 geborene Klägerin, die zuletzt als Maskenbildnerin beschäftigt war, stand im laufenden Bezug von Alg. Am 22.9.2012 übersendete die Klägerin der Beklagten entsprechend der bisher üblichen Handhabung eine E-Mail mit auszugsweise folgendem Inhalt:

" ... Ich habe kurzfristig noch einen Auftrag bekommen und möchte mich für gestern (hab es vorher leider nicht geschafft) Freitag den 21.9.2012 und heute Samstag den 22.9.2012 abmelden. Dort bin ich selbstständig beschäftigt. Und ab Sonntag den 23.9.2012 möchte ich mich wieder anmelden ..."

Mit Aufhebungsbescheid vom 26.9.2012 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg ab 21.9.2012 auf, da die Klägerin eine selbständige Tätigkeit aufgenommen habe. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch von 1.10.2012 machte die Klägerin geltend, als freiberufliche Maskenbildnerin beim Film zu arbeiten, wo es üblich sei, kurzfristige Aufträge zu bekommen. So sei es auch am Freitag, dem 21.9.2012 gewesen, an dem sie sehr kurzfristig für eine Kollegin habe einspringen müssen. Aus diesem Grunde habe sie es am Freitag nicht rechtzeitig geschafft, sich abzumelden. Sie habe sich deswegen nicht nur am Samstag, dem 22.9.2012 per E-Mail gemeldet, sondern auch am Mittwoch, dem 26.9.2012, gemeldet. Am 1.10.2012 meldete die Klägerin sich erneut mit Wirkung zum 23.9.2012 persönlich arbeitsuchend und arbeitslos. Der Widerspruch blieb erfolglos und wurde durch Widerspruchsbescheid vom 10.10.2012 zurückgewiesen. Die Klägerin habe am 21.9.2012 eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, die ihre Arbeitslosigkeit beseitigt habe. Nach dem Ende dieser Erwerbstätigkeit sei sie zwar ab 23.9.2012 wieder beschäftigungslos gewesen, habe aber dennoch mangels wirksamer Arbeitslosmeldung keinen Leistungsanspruch. Die Klägerin habe die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit nicht unverzüglich, sondern erst am 22.9.2012 mitgeteilt, sodass die Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg ab 21.9.2012 nicht vorgelegen hätten.

Hiergegen richtet sich die am 6.11.2012 eingereichte Klage, mit welcher die Klägerin weiterhin die Aufhebung des Aufhebungsbescheids begehrt. Über die Widerspruchsbegründung hinaus hat die Klägerin geltend gemacht, dass es sich bei der Abmeldung vom 22.9.2012 um keine dauerhafte Abmeldung, sondern nur für zwei Tage gehandelt habe. Dieser Vorgang sei in der Vergangenheit schon mehrfach durchgeführt worden, ohne dass es jemals Probleme gegeben habe. Aus diesem Grunde habe die Klägerin davon ausgehen können, dass die Voraussetzungen des § 122 Abs. 1 SGB III erfüllt seien. Es sei nicht zu erkennen, weshalb die Klägerin die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Es habe lediglich das persönliche Vorstelligwerden vor Ort gefehlt, die Mitteilung sei jedoch rechtzeitig vor Beginn der erneuten Arbeitslosigkeit gemacht worden. Auch die verspätete Meldung der erneuten Arbeitsaufnahme für zwei Tage sei hinreichend entschuldigt, sodass sich auch diesbezüglich keine Sorgfaltspflichtverletzung ergebe. Die Klägerin hat betont, die erste sich bietende Möglichkeit genutzt zu haben, um die Meldung zu versenden. Es sei nicht möglich gewesen, vor Arbeitsaufnahme eine entsprechende Meldung an die Beklagte zu machen. Dies wäre nur mit einer erheblichen Verzögerung möglich gewesen, die dann dazu geführt hätte, dass die Arbeitsaufnahme nicht hätte erfolgen können.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 26.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2012 insoweit zu ändern, als eine Aufhebung nur für die Zeit vom 21.9.2012 bis 22.9.2012 in Betracht kommt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid verwiesen sowie auf den Inhalt der Leistungsakte. "Ohne schuldhaftes Zögern" bedeute nicht, dass dem Arbeitslosen eine angemessene Reaktionszeit eingeräumt werde. Ebensowenig greife das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.8.2011. Auch nach diesem Urteil hänge der Begriff der "Unverzüglichkeit" von den Lebensumständen ab. In der heutigen medialen technischen Gesellschaft sei eine sofortige Mitteilung möglich und auch zu fordern. Es gebe Medien, Handy, Internet etc., die eine sofortige Mitteilung ermöglichten. Auch die Klägerin nutze diese Medien. Zur Definition der Unverzüglichkeit sei immer auch nach den subjektiven Möglichkeiten zu fragen. Im Übrigen wäre die Problematik nicht entstanden, wenn die Klägerin sich am Montag, dem 24.9.2012, persönlich arbeitslos gemeldet hätte.

Wegen der weiteren Einzelheiten der mündlichen Verhandlung sowie des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte – insbesondere das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 20.5.2015 – und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 26.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.10.2012 ist im tenorierten Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten.

Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligung von Alg sind im streitigen Zeitraum nicht erfüllt.

Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung kommt § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) i.V.m. § 330 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) in Betracht. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Gemäß Satz 2 Nummer 4 der Norm ist der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Zwar ist durch die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit am 21.9.2012 und 22.9.2012 eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen der Klägerin eingetreten. Dadurch endete die Arbeitslosigkeit der Klägerin in diesem Zeitraum und es hat bis zum Ende der Tätigkeit am 22.9.2012 kein Anspruch auf Alg bestanden. Die Wirksamkeit der vorangegangenen Arbeitslosmeldung ist hingegen nicht entfallen. Dies wäre gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 2 SGB III n.F. nur dann der Fall gewesen, wenn die Klägerin die Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit der Agentur für Arbeit nicht unverzüglich mitgeteilt hätte.

Entgegen der Annahme der Beklagten liegt jedoch eine unverzügliche Mitteilung vor. Hinsichtlich der Konkretisierung des Merkmals "unverzüglich" ist auf die Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurückzugreifen (BSG, Urteil vom 1.6.2006 – B 7a AL 76/05 R – Rz. 15 zu § 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III a.F.). Unverzüglich bedeutet nach dieser Regelung ohne schuldhaftes Zögern. Die Mitteilung muss nicht zwingend sofort vorgenommen werden. Dem Arbeitslosen bleibt vielmehr eine angemessene Zeit zur Reaktion. Der angemessene Zeitraum kann nicht generell festgelegt werden, sondern hängt von der gesamten Lebenssituation des Arbeitslosen ab (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.8.2011 – L 18 AL 335/10 – Rz. 19, juris; Valgolio in: Hauck/Noftz, Stand 1/14, § 141 SGB III Rz. 75). Grundsätzlich ist eine Mitteilung, die später als drei Tage nach Beginn der Beschäftigung erfolgt, nicht mehr unverzüglich (Öndül in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 1. Auflage, § 141 Rz. 43). Im Hinblick auf den hier vorliegenden Sachverhalt ist die Kammer der Überzeugung, dass eine Meldung am 22.9.2012, also am Tag nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit, noch als unverzüglich anzusehen ist, zumal die Klägerin gleichzeitig mitgeteilt hat, dass sie sich ab 23.9.2012 wieder arbeitslos melden möchte. Selbst wenn man mit der Beklagten davon ausgehen wollte, dass eine "angemessene Überlegungsfrist" nicht eingeräumt werden kann, muss selbst nach der von der Beklagten zitierten Fundstelle in Beck online die Meldung in der Regel spätestens an dem der Beschäftigungsaufnahme folgenden Tag, an dem die Arbeitsagentur dienstbereit ist, erfolgen (Coseriu/Jakob, BeckOK, § 122 SGB III a.F. Rz. 17, Stand 1.12.2010); dies wäre im vorliegenden Fall erst Montag, der 24.9.2012 gewesen, die Klägerin hat aber bereits zwei Tage zuvor bei der Beklagten die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit angezeigt. Der Umstand, dass eine Meldung nicht "sofort" erfolgen muss, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 141 SGB III, nach dem eine Mitteilung eben nicht "sofort", sondern "unverzüglich" erforderlich ist. Auch der Sinn und Zweck des § 141 Abs. 2 SGB III erfordert kein sofortiges Handeln. Nach dieser Norm soll verhindert werden, dass Schwarzarbeiter, die ihre Beschäftigung der Agentur für Arbeit verschweigen, aus der Regelung in § 141 Abs. 2 Nr. 1 SGB III ungerechtfertigt Vorteile ziehen. Auch dient die Arbeitslosmeldung vornehmlich dazu, die Agentur für Arbeit in die Lage zu versetzen, mit ihren Vermittlungsbemühungen zu beginnen, um die Arbeitslosigkeit und damit die Leistungspflicht möglichst rasch zu beenden. Das Erfordernis der persönlichen Meldung soll einerseits einen Leistungsmissbrauch verhindern, hat andererseits aber auch den Zweck, den Betroffenen unverzüglich an die zuständige Arbeitsagentur zu verweisen, falls die erst angegangene Arbeitsagentur örtlich und zuständig sein sollte (Öndül, a.a.O., § 141 Rz. 19, 20, 22). Dieser Zielsetzung des Gesetzes wird auch eine Meldung am Tag nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit gerecht. Hier war zudem zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen, dass sie sich wie aus der Verwaltungsakte ersichtlich in der Vergangenheit stets vorbildlich unverzüglich aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet hatte; darüber hinaus geschah die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit an einem Freitag, die Mitteilung der Klägerin hierüber an einem Samstag verbunden mit der Mitteilung, dass ab Sonntag wieder Arbeitslosigkeit bestünde, sodass die Vermittlungsbemühungen der Beklagten in keiner Weise beeinträchtigt wurden.

Nach alledem kann das Gericht zudem nicht erkennen, dass das Verhalten der Klägerin grob fahrlässig gewesen wäre, sodass nach den vorstehenden Ausführungen zur Unverzüglichkeit auch die subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung der Leistungsbewilligung der Arbeitslosmeldung nicht vorlagen.

Soweit in der mündlichen Verhandlung erstmalig die Rede davon war, dass der Anspruch auf Alg zwischenzeitlich erschöpft sei, ändert dies nichts an dem gefundenen Ergebnis. Ergeben die Ermittlungen, dass die Leistungsablehnung der Bundesagentur für Arbeit für den früheren Zeitraum rechtswidrig war, ist sie auch für diesen Zeitraum zu Leistungen zu verurteilen (vgl. Bienert, SGb 10/09, 576 f.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Berufung war nicht zuzulassen (§ 144 Abs. 2 SGG), obwohl die Berufungssumme von 750 EUR nicht erreicht worden ist (streitig: 23.9.2012 – 30.9.2012, also 8 Tage x 33,94 EUR lt. Bescheid vom 4.10.2012 = 271,52 EUR). Die Kammer sah sich bei dieser Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung sowohl der Instanzgerichte als auch des BSG.
Rechtskraft
Aus
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