Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 2297/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Anrechnung von Trinkgeld ist nach § 11 a Abs. 5 SGB II grundsätzlich ausgeschlossen, sofern die Höhe des Trinkgeldes ca. 10 % der nach dem SGB II zustehenden Leistungen oder einen monatlichen Betrag von 60 € nicht übersteigt.
1. Der Bescheid vom 02.06.2015 in der Fassung des Wider-spruchsbescheides vom 02.07.2015 sowie in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14.07.2015, 11.08.2015, 19.08.2015 und 23.10.2015 wird abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern im streitgegenständlichen Zeitraum höhere Leistungen nach dem SGB II ohne die Anrechnung von Ein-nahmen aus Trinkgeldzahlungen zu gewähren. 2. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten. 3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anrechnung von Trinkgeld auf die Gewährung von aufsto-ckenden Leistungen nach dem SGB II im Streit.
Die geborene Klägerin ist alleinerziehende Mutter von und geborenen Kindern (Kläger Ziff. 2 und Ziff. 3). Die Klägerin arbeitete seit mehreren Jahren als Friseurin und bezog hierbei ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Für ihre Unterkunft hatte sie im streitgegenständlichen Zeitraum einen monatlichen Aufwand von 580,- EUR (380,- EUR Grundmiete zuzüglich 100,- EUR Betriebskostenvorauszahlung und 100,- EUR Heizkostenvorauszahlung). Am 01.07.2015 begann sie ein neues befristetes Arbeitsverhältnis als Friseurin mit einer monatlichen Arbeitszeit von 60 Stunden für einen Bruttoarbeitslohn von 540,- EUR.
Auf ihren Weiterbewilligungsantrag bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 02.06.2015 vorläufige Leistungen nach dem SGB II für die Monate Juli bis Oktober 2015 in Höhe von 656,88 EUR, wobei er von einem fiktiven Einkommen in Höhe von 600,- EUR brutto und 500,- EUR netto ausging. Zur Vorläufigkeit der Bewilligung verwies der Beklagte auf § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III und teilte mit, dass wegen der Erzie-lung von Einkommen die genaue Leistungshöhe zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt werde. Zusätzlich übernahm der Beklagte die Kosten der Kinderbetreuung, wozu gesonderte Bescheide erfolgten.
Mit Widerspruch vom 15.06.2015 wies die Klägerbevollmächtigte zunächst zutreffend darauf hin, dass die erste Lohnzahlung erst im Folgemonat erfolge, weswegen im Juli noch kein Arbeitseinkommen angerechnet werden dürfe. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass der Bruttolohn 540,- EUR und nicht 600,- EUR betrage.
Mit Widerspruchsbescheid vom 02.07.2015 wurde auf eine Einkommensanrechnung im Leistungsmonat Juli 2015 verzichtet, wodurch sich die weiterhin vorläufig bewilligten Leistungen in diesem Monat auf 956,88 EUR erhöhten. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen, und für die Monate August bis Oktober 2015 ein vorläufiger Bedarf von lediglich 656,88 EUR angenommen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei der Tätigkeit einer Friseurin mit 60 Arbeitsstunden pro Monat die Einnahme eines monatlichen Trinkgeldes in Höhe von 60,- EUR anzunehmen sei. Gehe man davon aus, dass ein Kunde pro Arbeitsstunde bedient werde und je Kunde 1,- EUR Trinkgeld gezahlt werde, ergebe sich dieser weitere Betrag, der als Arbeitseinkommen anzurechnen sei. Der Beklagte hatte die Klägerin auch im vorherigen Leistungszeitraum nach ihren Trinkgeldeinnahmen befragt, hierzu jedoch keine Antwort der Klägerin erhalten und letztlich von einer Anrechnung von Trinkgeld abgesehen. Der Beklagte ging von einem Gesamtbedarf von 1.637,88 EUR aus (Tatsächliche Mietkosten 580,- EUR; Mehrbedarf für Warmwassererzeugung 14,25 EUR; Regelbedarfe in Höhe von 399,- EUR, 267,- EUR und 234,- EUR; Mehrbedarf für Alleinerziehende 143,64). Auf diesen Bedarf rechnete der Beklagte im Juli 2015 das Einkommen der beiden Kinder in Form des Kindergelds und Unterhaltsvorschusszahlungen in Höhe von 133,- EUR und 180,- EUR an. In den Monaten August bis Oktober 2015 wurde zusätzlich das Arbeitseinkommen einschließlich angenommenem fiktiven Trinkgeld von 60,- EUR monatlich berücksichtigt; der Beklagte ging demnach von Bruttoeinnahmen aus Arbeitsverdienst in Höhe von 600,- EUR aus, von denen er 300,- EUR monatlich anrechnete (Bereinigung um Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 100,- EUR, einen Grundfreibetrag von 100,- EUR und einen weiteren Freibetrag nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II von nochmals 100,- EUR). Diese Änderungen wurden mit dem ersten Änderungsbescheid vom 14.07.2015 umgesetzt.
Am 22.07.2015 hat die Bevollmächtigte der Kläger beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Die Klage richtet sich ausschließlich gegen die Anrechnung von vermutetem Trinkgeld in Höhe von 60,- EUR monatlich ab August 2015.
Mit dem zweiten Änderungsbescheid vom 11.08.2015 hat die Beklagte anschließend die Leistungen für die Monate September und Oktober 2015 auf 633,88 EUR erhöht, da ein höherer monatlicher Unterhaltsvorschuss für die beiden Kinder in Höhe von 144,- EUR bzw. 192,- EUR zu berücksichtigen war.
Im August 2015 hat die Klägerin die Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2015 mit einer Nachforderung ihres Vermieters in Höhe von 1.478,46 EUR sowie den Nachweis der geänderten Vorauszahlungen vorgelegt. Der Beklagte bewilligte daraufhin mit dem dritten Änderungsbescheid vom 19.08.2015 vorläufig zusätzliche Leistungen für Juli 2015 in Höhe von 1.158,48 EUR, für August 2015 in Höhe von 7,63 EUR und für September und Oktober 2015 in Höhe von 50,- EUR. Gleichzeitig wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass ihre Heizungskosten deutlich zu hoch seien und die Klägerin sparsamer und wirtschaftlicher haushalten müsse.
Schließlich erließ der Beklagte am 23.10.2015 den vierten Änderungsbescheid mit der end-gültigen Festsetzung der Leistungen nach dem SGB II für den streitgegenständlichen Zeit-raum, in dem er eine Gesamtüberzahlung in Höhe von 136,78 EUR feststellte, welche die Kläger zu erstatten hätten. Hierbei entfiel auf die Klägerin ein Erstattungsbetrag für den Monat Au-gust 2015 in Höhe von 5,61 EUR und für den Monat Oktober 2015 in Höhe von 18,33 EUR. Für ihren geborenen Sohn wurde ein Erstattungsbetrag in Höhe von 90,60 EUR (12,- EUR KdU im Juli 2015, 8,99 EUR KdU im August 2015 und 69,61 EUR KdU im Oktober 2015) sowie für ihren geborenen Sohn 22,24 EUR als Erstattungssumme (11,- EUR KdU im Juli 2015, 8,40 EUR KdU im August 2015 und 2,84 EUR KdU im Oktober 2015) festgesetzt.
Die Klage wird damit begründet, dass die Annahme von monatlich erzieltem Trinkgeld in Höhe von 60,- EUR falsch sei. Zudem seien Trinkgelder kein Arbeitsentgelt, da sie ohne Aner-kennung einer Rechtspflicht freiwillig von Dritten bei einem bestimmenden Mindestmaß an persönlicher Beziehung gewährt würden, weswegen § 11a Abs. 5 SGB II einschlägig sei. Jedenfalls sei eine fiktive Anrechnung nicht rechtmäßig, zumal auch Arbeitszeiten anfielen, in denen keine Kundschaft vorhanden sei. Es könne zudem nicht generell unterstellt werden, dass jeder Kunde oder jede Kundin 1,- EUR Trinkgeld gebe.
Die Klägerin hat in dem Erörterungstermin vom 09.03.2016 ausgeführt, dass in dem heißen Sommer 2015 generell wenig Kundschaft in ihrem Friseursalon gewesen sei. Da sie zudem zum 01.07.2015 eine neue Stelle angetreten habe und deswegen auch noch keine Stammkun-den gehabt habe, seien ihre Trinkgeldeinnahmen zu Beginn ihrer Tätigkeit sehr gering gewe-sen. Tatsächlich habe sie damals an manchen Tagen überhaupt kein Trinkgeld bekommen, an manchen Tagen vielleicht 2,- EUR oder 2,50 EUR, die sie dann sofort für das Mittagessen ausgegeben habe. Es sei auch üblich, dass Trinkgeld in Form von Keksen oder Schokolade gegeben werde, insbesondere von älteren Kunden und zur Weihnachtszeit. Das von dem Beklagten angenommene regelmäßige Trinkgeld von 60,- EUR halte sie für völlig überzogen, allenfalls im Dezember 2015 habe sie so viel Trinkgeld erzielt. Zuvor seien es maximal 40,- EUR monatlich gewesen, teils jedoch auch weniger. Der Beklagte habe zudem auch nicht berücksichtigt, dass sie teilweise Urlaub gehabt habe oder ein Kind krank gewesen sei und sie dann weniger als 60 Stunden im Monat gearbeitet habe.
Die Kläger beantragen, teils sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 02.06.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2015 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14.07.2015, 11.08.2015, 19.08.2015 und 23.10.2015 zu verurteilen, ihnen Leis-tungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab dem 01.08.2015 ohne die Anrech-nung von Trinkgeldeinnahmen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Entgegen der Auffassung der Klägerin seien bei der Berechnung der Einkünfte in Geld oder Geldeswert grundsätzlich alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Rechtsnatur zugrunde zu legen. Unerheb-lich sei zudem, ob sie zu den Einkommensarten im Sinne des Einkommensteuergesetzes gehörten oder ob sie der Steuerpflicht unterlägen. Trinkgeld sei danach Erwerbseinkommen, das dem Arbeitsentgelt hinzuzurechnen sei, zumal es bei Berufen im Dienstleistungssektor einen nicht unerheblichen Anteil des Einkommens ausmache. Die Gewährung von Trinkgeld im Dienstleistungsgewerbe falle nicht unter die Befreiungsmöglichkeiten nach § 11 a Abs. 5 SGB II. Sofern die Klägerin vortrage, dass nicht jeder Kunde 1,- EUR Trinkgeld gebe und es nicht immer Kunden gebe, sei dem entgegen zu halten, dass manche Kunden auch höheres Trinkgeld geben und auch die Möglichkeit der Bedienung mehrerer in einer Stunde bestehe. Ein durchschnittliches Trinkgeld von 1,- EUR pro Arbeitsstunde erscheine als reell und angemessen. Da die Klägerin trotz mehrfacher Aufforderung keine Nachweise über ihre Trinkgeldeinnahmen vorgelegt habe, sei auch die fiktive Bemessung zulässig.
Die Beteiligten haben in dem Erörterungstermin übereinstimmend mitgeteilt, dass sie ledig-lich über die Anrechnung fiktiven Trinkgeldes in Höhe von 60,- EUR monatlich streiten und dass sie im Übrigen beidseitig von einer zutreffenden Leistungsberechnung durch den Beklagten ausgehen. Außerdem haben die Beteiligten in dem Termin einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Entscheidung erging aufgrund des Einverständnis-ses der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG.
Die Anrechnung von Trinkgeld im streitgegenständlichen Zeitraum war rechtswidrig. Streit-gegenständlich ist die Höhe von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von August bis Oktober 2015. Die Kläger wenden sich ausschließlich gegen die Anrechnung von Trinkgeld als Einkommen. Sie haben in dem Erörterungstermin vom 09.03.2016 ausdrücklich angege-ben, dass sie die Berechnungen des Beklagten im Übrigen für zutreffend halten und daher mit ihrer Klage nicht angreifen.
Da nach den vorliegenden schlüssigen Berechnungen der Leistungshöhe in der Verwaltungs-akte und in den angegriffenen Bescheiden mit Gewissheit davon ausgegangen werden kann, dass bei einem Verbot der Anrechnung von Trinkgeld höhere Leistungen nach dem SGB II zustehen, sieht die Kammer die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 SGG als erfüllt an. Ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 SGG ist zulässig, weil die Kläger mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1, 4 SGG keinen bezifferten Betrag, sondern (nur) höhere Leistungen ohne Anrechnung von Trinkgeld begehren, welche ihnen für den Fall des Zutreffens ihrer Rechtsansicht auch zustünden. Die Zulässigkeit eines Grundurteils ist in dieser prozessualen Situation allgemein anerkannt (BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 81/12 R –, SozR 4-4225 § 1 Nr. 2, Rn. 10 zu einem Fall betreffend die Gewährung von SGB II-Leistungen ohne die Anrechnung von Kindergeld, mit zahlreichen weiteren Nachweisen), wenn der Modus der Umsetzung des Urteils klar und eindeutig ist, auch wenn das Ergebnis – etwa wegen unterschiedlicher variabler oder dynamischer Faktoren oder anderer Entscheidungsgrößen – noch nicht beziffert werden kann oder, weil das Verfahren so klar ist, muss (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. April 2015 – L 32 AS 2447/14 –, Rn. 36, juris mit Hinweis auf BSG, Beschluss v. 18.08.1999, B 4 RA 25/99 B, Rn. 12). Im Übrigen kann auch die Kammer keinen Fehler in der sonstigen Berechnung der SGB II-Leistungen erkennen, wozu auf die Akten verwiesen wird.
Rechtsgrundlage für den von den Klägern geltend gemachten höheren - ohne die Anrechnung von Trinkgeld zu erbringenden - Leistungen nach dem SGB II sind die § 19 Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Kläger erfüllen die Grundvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II als Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (bestimmtes Alter, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland), während ein Ausschlusstatbestand (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2, §§ 4, 5 SGB II) nicht vorliegt.
Der Beklagte hat auf den monatlichen Bedarf der Kläger in Höhe von 1.637,88 EUR zu Recht gemäß § 11 SGB II Einkommen in Form von nachgewiesenem Arbeitslohn (bereinigt um die oben genannten Freibeträge), Kindergeld und Unterhaltsvorschuss angerechnet und demnach einen geringeren Bedarf nach dem SGB II angenommen. Denn als Einkommen zu berücksichtigen sind nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen.
Unzulässig war es jedoch, eine Anrechnung von Trinkgeld vorzunehmen. Trinkgeldeinahmen erfüllen grundsätzlich die Voraussetzungen des Befreiungstatbestandes nach § 11a Abs. 5 SGB II. Nach dieser Vorschrift sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit 1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder 2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.
Trinkgeldzahlungen sind regelmäßig Zuwendungen eines anderen, zu deren Erbringung keine rechtliche Pflicht besteht. Nach der Legaldefinition in § 107 Abs. 3 Satz 2 der Gewerbeordnung (GewO) ist Trinkgeld ein Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber geschuldeten Leistung zahlt.
Auch eine sittliche Verpflichtung zur Zahlung von Trinkgeld dürfte in den meisten Fällen nicht vorliegen. Eine Schenkung zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht liegt nicht schon dann vor, wenn der Schenker nach den Geboten der Sittlichkeit aus Nächstenliebe hilft, vielmehr muss es sich um eine Pflicht handeln, die aus den konkreten Umständen des Falls erwachsen ist und in den Geboten der Sittlichkeit wurzelt, wobei das Vermögen, die Lebensstellung der Beteiligten und ihre persönlichen Beziehungen untereinander zu berücksichtigen sind (BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 7a/7 AL 4/04 R –, SozR 4-4300 § 194 Nr. 7, Rn. 15). Der Kammer ist allerdings bewusst, dass die Annahme einer sittlichen Verpflichtung vom Wandel des Zeitgeists und subjektiven Wertungen abhängt, weswegen die Feststellung einer sittlichen Verpflichtung Schwierigkeiten bereitet. Einerseits waren Trinkgeldzahlungen in Deutschland bis zum Kaiserreich gelegentlich sogar die einzige Einnahmequelle von Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe (https://de.wikipedia.org/wiki/Trinkgeld; Abschnitt Deutschland/Gewerberecht), was heute nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GewO verboten ist. Andererseits wurde sie auch schon 1882 von dem deutschen Rechtsgelehrten Rudolf von Ihering als schädliche Doppelzahlung für eine Dienstleistung bezeichnet, die zu einer Unsitte geworden sei (R. v. Ihering, Das Trinkgeld, Braunschweig 1882, S. 14 ff.).
Am ehesten dürfte davon auszugehen sein, dass Trinkgeldzahlungen bei guten Dienstleistun-gen üblich, aber nicht verpflichtend sind, und zwar auch nicht sittlich-verpflichtend (vgl. http://www.knigge.de/archiv/artikel/der-trinkgeld-knigge-6317.htm). Solche Zahlungen sind in Deutschland zwar eine verbreitete "Sitte", ohne dass jedoch hiermit eine sittliche Ver-pflichtung in Verbindung gebracht wird (vgl. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/trinkgeld-zahlen-bitte-1438083.html). Zwar beinhaltet der Begriff der "Sitte" auch eine verpflichtende Kraft, da die Sitte als "Volksgewohnheit" definiert wird, der eine verpflichtende Kraft innewohnt (R. v. Ihering, a.a.O. S. 10). Die sittliche Verpflichtung zur Zahlung von Trinkgeld in diesem Sinne knüpft aber zugleich wieder an den Maßstab der individuellen Zufriedenheit des Kunden mit einer Dienstleistung an und ist daher auch unter der von § 11a Abs. 5 SGB II geforderten Betrachtungsweise nicht allgemein objektiv messbar.
Zwar hat der Arbeitgeber gegenüber seinem Arbeitnehmer insbesondere im Dienstleistungs-gewerbe einen Anspruch, dass dieser Kunden freundlich und zuvorkommend bedient. Damit korrespondiert aber keine allgemeine sittliche Verpflichtung, bei freundlicher und zuvor-kommender Bedienung Trinkgeld zu zahlen. Denn es ist anerkannt, dass die individuellen Einzelfallumstände und ihre subjektive Bewertung hierbei immer Berücksichtigung finden können. Trinkgeld ist damit letztendlich nichts anderes als eine Art "Spende" und damit nicht verpflichtend, weil die Trinkgeldvergabe keinen Bestandteil des geschlossenen Vertrages im juristischen Sinne darstellt (Dobler, Der irrationale Umgang mit Geld am Beispiel der deutschen Trinkgeldkultur in Gaststätten, Dissertation 2009, S. 79). Dementsprechend wird das Trinkgeld auch als eine freiwillige Zahlung des Käufers oder Kunden an den Angestellten eines Dienstleisters, die über den Kaufpreis hinaus oder als eigenständige Zahlung geleistet wird, definiert (https://de.wikipedia.org/wiki/Trinkgeld), und zwar ohne "den mindesten Anspruch, weder dem Recht noch der Billigkeit nach" (R. v. Ihering, a.a.O. S. 16).
Jedenfalls war dies im Falle der Klägerin so, da diese den gesetzlichen Mindestlohn erhielt und ihre Kunden daher davon ausgehen durften, dass die Trinkgelder bei der Vereinbarung des Arbeitslohns nicht maßgeblich mit einbezogen worden sind, und die Klägerin hierauf nicht im Sinne einer für sie wesentlichen Einnahme angewiesen war.
Nach der Wertung des Steuerrechts sind gemäß § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes (EstG) Gelder, die anlässlich einer Arbeitsleistung dem Arbeitnehmer von Dritten freiwillig und ohne dass ein Rechtsanspruch auf sie besteht, zusätzlich zu dem Betrag gegeben werden, der für diese Arbeitsleistung zu zahlen ist, in unbegrenztem Umfang von der Einkommensteuer befreit. Seit dem Gesetz zur Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern (08.08.2002, BGBl I 3111) sind diese Einnahmen daher nicht zu versteuern, und es liegt insoweit entgegen dem Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz SGB VI, der alle auch ohne rechtliche Verpflichtung erzielten Einnahmen aus einer Beschäftigung erfasst, auch keine Beitragspflicht in der Sozialversicherung mehr vor, vgl. § 1 Arbeitsentgeltverordnung und § 1 der Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt.
Es liegt nahe, diese Freistellung von der Anrechnung auch für den Leistungsbereich des SGB II zu übernehmen, sofern die genannten Begriffsmerkmale - wie vorliegend - erfüllt sind und § 11a Abs. 5 SGB II die Freistellung von der Anrechnung zulässt. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass aufgrund der Regelmäßigkeit der Einnahme in bestimmten Berufen im Dienstleistungsgewerbe eine einkommensgleiche Funktion vorliegt (so aber Geiger in Münder, SGB II, 5. Aufl. 2013, § 11a Rn. 19). Jedenfalls war im Falle der Klägerin gemäß der Tatbestandsalternative des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II die Berücksichtigung von Trinkgeld grob unbillig.
Da Trinkgelder für die individuellen Bemühungen der die Leistung ausführenden Person und für die Art und Weise der Leistungsausführung oder die Begleitumstände (Freundlichkeit, besonderes Engagement) gegeben werden und nicht für die Gegenleistung des Vertragspart-ners (Gastronom, Friseur), erscheint eine generelle sozialhilfe- und grundsicherungsrechtliche Zuordnung der Trinkgelder Dritter zu den Zuwendungen sachgerecht, da im Rahmen der nach und § 11a Abs. 4 und 5 SGB II (und § 84 SGB XII) mit Blick auf die individuelle Lage des Leistungsempfängers zu treffenden Gerechtfertigtkeits- oder Härtefallprüfung derartigen persönlichen Verdiensten individueller und angemessener begegnet werden kann, als bei der eher schematisch erfolgenden Behandlung von Arbeitseinkommen (Kokemoor, Die Anrechnung von Zuwendungen im Grundsicherungs- und Sozialhilferecht, SGb 2014, 613, 620).
Die Kammer lässt ausdrücklich offen, ob die Methode der Schätzung des Trinkgelds durch den Beklagten zulässig war, nachdem die Klägerin zur Höhe der erhaltenen Trinkgelder erst-malig im Erörterungstermin der Kammer konkrete Angaben zu Protokoll gegeben hat (vgl. hierzu aber Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Mai 2001 – L 4 KR 4448/99 –, juris; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.03.2007 - L 7 B 23/07 AS ER, juris, zur Schätzung von vermuteten Einnahmen aus Bettelei und deren Anrechnung).
Jedenfalls wäre auch bei den von dem Beklagten unterstellten monatlichen Trinkgeldeinnah-men von 60,- EUR im Monat - eine Verböserung darüber hinaus ist im Klageverfahren ausge-schlossen - eine Anrechnung grob unbillig im Sinne des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II. Bei der groben Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschrift handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der vollen gerichtlichen Prüfung unterfällt. Dem Beklagten ist auch insoweit kein Ermessen oder Beurteilungsspielraum eingeräumt (Geiger in Münder, SGB II, 5. Aufl. 2013, § 11a Rn. 17). Die Annahme grober Unbilligkeit stützt die Kammer darauf, dass der von dem Kunden mit der Zahlung beabsichtigte Dank bzw. die gewollte Motivation der Klägerin weitestgehend ins Leere laufen würde, wenn das Trinkgeld auf der Seite der Klägerin keine Erhöhung ihrer Einnahmen zur Folge hätte. Die Anerkennung einer gelunge-nen Dienstleistung durch die Gabe des Trinkgelds würde - abgesehen von der freundlichen Geste der Gabe des Geldgeschenks - jedenfalls wirtschaftlich völlig entwertet. Der Gesetzgeber hat bei der Schaffung der Regelung des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II im Übrigen gerade als Indiz für die gewollte Anrechnungsfreiheit genannt, dass die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll (BT-Drucks. 17/3404, S. 94). Es dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass Kunden im Friseursalon das Trinkgeld nicht in der Absicht geben, dass physische Existenzminimum der Beschäftigten zu sichern.
Auch würden wohl kaum noch Kunden Trinkgeld geben, wenn sie wüssten, dass das Geld vollständig auf das Jobcenter umgeleitet wird. Auch das SGB II setzt auf vielfältige Weise auf Motivations- und Leistungsanreize, womit es nicht vereinbar wäre, eine so verbreitete Sitte wie die Gabe von Trinkgeld für gelungene Dienstleistungen auf dem Weg über den Erlass von Kürzungsbescheiden auszuhebeln. Insbesondere dürfte für die Klägerin auch kaum nachvollziehbar sein, dass ihre Kollegen außerhalb des SGB II-Leistungsbezugs neben ihrem höheren Arbeitslohn auch noch das vollständige Trinkgeld steuer- und abgabenfrei vereinnahmen können.
Hilfsweise stellt die Kammer auch darauf ab, dass die Einnahme von Trinkgeldern von ma-ximal 60,- EUR im Monat bzw. rund 10 % ihrer Leistungen nach dem SGB II die Lage der Leis-tungsberechtigten auch nicht im Sinne von § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II so günstig beeinflusst hat, dass daneben insoweit aufstockende Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Die Klägerin hat in dem Erörterungstermin der Kammer einen glaubwürdigen Ein-druck vermittelt. Sie hat schlüssig dargelegt, dass sie geringere Einnahmen an Trinkgeld als von dem Beklagten angenommen erzielt und diese regelmäßig noch am Tag der Einnahme für das Mittagessen verwendet hat. Damit hat die Klägerin das Trinkgeld im klassischen Sinn für Speise und Trank verwendet und darüber hinaus nichts davon einbehalten.
Das BSG hat bezeichnenderweise in einem anderen Zusammenhang einen Zuwendungsbetrag von 60,- EUR als "gering" bezeichnet und unter Außerachtlassung des Zuwendungsgrundes eine Anrechnung bei einer Zuwendung ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 12/11 R –, SozR 4-3500 § 84 Nr 1, BSGE 113, 86-92, SozR 4-3500 § 5 Nr 1, Rn. 20), woraus sich ein "brauchbarer Orientierungswert" ergeben könnte (so Kokemoor, SGb 2014, 613, 619 mit dem Vorschlag, bis zu dieser Höhe die Anrechnungsfreiheit anzunehmen, und darüber hinaus in Abhängigkeit vom Einzelfall weitere Freibeträge zuzulassen).
Die Kammer weist darauf hin, dass ihr in der langen Beschäftigung mit dem SGB II kein Fall erinnerlich ist, in dem bei einem Leistungsbezieher fiktives oder tatsächliches Trinkgeld angerechnet worden ist. Einschlägige Rechtsprechung ist nicht ersichtlich. Insoweit stellt sich auch die Frage, ob hier nicht ein wesentliches Problem der Ungleichbehandlung bei der Vollziehung der Dienstanweisungen des Beklagten gegeben ist. Zwar gibt es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht, doch stellt es dennoch ein Problem der Gleichbehandlung dar, wenn eine Vorschrift nur in Einzelfällen, dann aber in aller Härte und mit der Anrechnung fiktiven Einkommens, angewendet wird. Eine Klarstellung des Gesetzgebers wäre hier sicherlich zu wünschen, da die Voraussetzungen des § 11a Abs. 5 SGB II insbesondere durch die doppelte Anknüpfung an extrem ausfüllungsbedürftige Begriffe wie "Sitte" (siehe oben) und "Billigkeit" in der Praxis der Rechtsanwendung offenkundig mit großer Unsicherheit verbunden sind.
Ein Gleichbehandlungsproblem besteht auch insoweit, als es für den Leistungsempfänger keinen Unterschied macht, ob ein nach dem Gesetz an sich billigenswerter und im Rahmen von § 11a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigender Motivationsanreiz aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck oder durch die freie Wohlfahrtspflege erbracht wird, oder aber durch eine andere, nicht von diesen Normen erfasste Person. Zu denken ist etwa an Angehörige, die aus freien Stücken den Erfolg einer Eingliederungsmaßnahme der Sozialhilfe oder Grundsicherung fördern wollen (Kokemoor, SGb 2014, 613, 618).
Danach lagen im streitgegenständlichen Zeitraum insgesamt die Voraussetzungen für die Anrechnungsfreiheit des Trinkgeldes nach § 11a Abs. 5 SGB II vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf dem Nichterreichen der Berufungssumme von 750,- EUR und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anrechnung von Trinkgeld auf die Gewährung von aufsto-ckenden Leistungen nach dem SGB II im Streit.
Die geborene Klägerin ist alleinerziehende Mutter von und geborenen Kindern (Kläger Ziff. 2 und Ziff. 3). Die Klägerin arbeitete seit mehreren Jahren als Friseurin und bezog hierbei ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Für ihre Unterkunft hatte sie im streitgegenständlichen Zeitraum einen monatlichen Aufwand von 580,- EUR (380,- EUR Grundmiete zuzüglich 100,- EUR Betriebskostenvorauszahlung und 100,- EUR Heizkostenvorauszahlung). Am 01.07.2015 begann sie ein neues befristetes Arbeitsverhältnis als Friseurin mit einer monatlichen Arbeitszeit von 60 Stunden für einen Bruttoarbeitslohn von 540,- EUR.
Auf ihren Weiterbewilligungsantrag bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 02.06.2015 vorläufige Leistungen nach dem SGB II für die Monate Juli bis Oktober 2015 in Höhe von 656,88 EUR, wobei er von einem fiktiven Einkommen in Höhe von 600,- EUR brutto und 500,- EUR netto ausging. Zur Vorläufigkeit der Bewilligung verwies der Beklagte auf § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III und teilte mit, dass wegen der Erzie-lung von Einkommen die genaue Leistungshöhe zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt werde. Zusätzlich übernahm der Beklagte die Kosten der Kinderbetreuung, wozu gesonderte Bescheide erfolgten.
Mit Widerspruch vom 15.06.2015 wies die Klägerbevollmächtigte zunächst zutreffend darauf hin, dass die erste Lohnzahlung erst im Folgemonat erfolge, weswegen im Juli noch kein Arbeitseinkommen angerechnet werden dürfe. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass der Bruttolohn 540,- EUR und nicht 600,- EUR betrage.
Mit Widerspruchsbescheid vom 02.07.2015 wurde auf eine Einkommensanrechnung im Leistungsmonat Juli 2015 verzichtet, wodurch sich die weiterhin vorläufig bewilligten Leistungen in diesem Monat auf 956,88 EUR erhöhten. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen, und für die Monate August bis Oktober 2015 ein vorläufiger Bedarf von lediglich 656,88 EUR angenommen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei der Tätigkeit einer Friseurin mit 60 Arbeitsstunden pro Monat die Einnahme eines monatlichen Trinkgeldes in Höhe von 60,- EUR anzunehmen sei. Gehe man davon aus, dass ein Kunde pro Arbeitsstunde bedient werde und je Kunde 1,- EUR Trinkgeld gezahlt werde, ergebe sich dieser weitere Betrag, der als Arbeitseinkommen anzurechnen sei. Der Beklagte hatte die Klägerin auch im vorherigen Leistungszeitraum nach ihren Trinkgeldeinnahmen befragt, hierzu jedoch keine Antwort der Klägerin erhalten und letztlich von einer Anrechnung von Trinkgeld abgesehen. Der Beklagte ging von einem Gesamtbedarf von 1.637,88 EUR aus (Tatsächliche Mietkosten 580,- EUR; Mehrbedarf für Warmwassererzeugung 14,25 EUR; Regelbedarfe in Höhe von 399,- EUR, 267,- EUR und 234,- EUR; Mehrbedarf für Alleinerziehende 143,64). Auf diesen Bedarf rechnete der Beklagte im Juli 2015 das Einkommen der beiden Kinder in Form des Kindergelds und Unterhaltsvorschusszahlungen in Höhe von 133,- EUR und 180,- EUR an. In den Monaten August bis Oktober 2015 wurde zusätzlich das Arbeitseinkommen einschließlich angenommenem fiktiven Trinkgeld von 60,- EUR monatlich berücksichtigt; der Beklagte ging demnach von Bruttoeinnahmen aus Arbeitsverdienst in Höhe von 600,- EUR aus, von denen er 300,- EUR monatlich anrechnete (Bereinigung um Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 100,- EUR, einen Grundfreibetrag von 100,- EUR und einen weiteren Freibetrag nach § 11b Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II von nochmals 100,- EUR). Diese Änderungen wurden mit dem ersten Änderungsbescheid vom 14.07.2015 umgesetzt.
Am 22.07.2015 hat die Bevollmächtigte der Kläger beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Die Klage richtet sich ausschließlich gegen die Anrechnung von vermutetem Trinkgeld in Höhe von 60,- EUR monatlich ab August 2015.
Mit dem zweiten Änderungsbescheid vom 11.08.2015 hat die Beklagte anschließend die Leistungen für die Monate September und Oktober 2015 auf 633,88 EUR erhöht, da ein höherer monatlicher Unterhaltsvorschuss für die beiden Kinder in Höhe von 144,- EUR bzw. 192,- EUR zu berücksichtigen war.
Im August 2015 hat die Klägerin die Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2015 mit einer Nachforderung ihres Vermieters in Höhe von 1.478,46 EUR sowie den Nachweis der geänderten Vorauszahlungen vorgelegt. Der Beklagte bewilligte daraufhin mit dem dritten Änderungsbescheid vom 19.08.2015 vorläufig zusätzliche Leistungen für Juli 2015 in Höhe von 1.158,48 EUR, für August 2015 in Höhe von 7,63 EUR und für September und Oktober 2015 in Höhe von 50,- EUR. Gleichzeitig wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass ihre Heizungskosten deutlich zu hoch seien und die Klägerin sparsamer und wirtschaftlicher haushalten müsse.
Schließlich erließ der Beklagte am 23.10.2015 den vierten Änderungsbescheid mit der end-gültigen Festsetzung der Leistungen nach dem SGB II für den streitgegenständlichen Zeit-raum, in dem er eine Gesamtüberzahlung in Höhe von 136,78 EUR feststellte, welche die Kläger zu erstatten hätten. Hierbei entfiel auf die Klägerin ein Erstattungsbetrag für den Monat Au-gust 2015 in Höhe von 5,61 EUR und für den Monat Oktober 2015 in Höhe von 18,33 EUR. Für ihren geborenen Sohn wurde ein Erstattungsbetrag in Höhe von 90,60 EUR (12,- EUR KdU im Juli 2015, 8,99 EUR KdU im August 2015 und 69,61 EUR KdU im Oktober 2015) sowie für ihren geborenen Sohn 22,24 EUR als Erstattungssumme (11,- EUR KdU im Juli 2015, 8,40 EUR KdU im August 2015 und 2,84 EUR KdU im Oktober 2015) festgesetzt.
Die Klage wird damit begründet, dass die Annahme von monatlich erzieltem Trinkgeld in Höhe von 60,- EUR falsch sei. Zudem seien Trinkgelder kein Arbeitsentgelt, da sie ohne Aner-kennung einer Rechtspflicht freiwillig von Dritten bei einem bestimmenden Mindestmaß an persönlicher Beziehung gewährt würden, weswegen § 11a Abs. 5 SGB II einschlägig sei. Jedenfalls sei eine fiktive Anrechnung nicht rechtmäßig, zumal auch Arbeitszeiten anfielen, in denen keine Kundschaft vorhanden sei. Es könne zudem nicht generell unterstellt werden, dass jeder Kunde oder jede Kundin 1,- EUR Trinkgeld gebe.
Die Klägerin hat in dem Erörterungstermin vom 09.03.2016 ausgeführt, dass in dem heißen Sommer 2015 generell wenig Kundschaft in ihrem Friseursalon gewesen sei. Da sie zudem zum 01.07.2015 eine neue Stelle angetreten habe und deswegen auch noch keine Stammkun-den gehabt habe, seien ihre Trinkgeldeinnahmen zu Beginn ihrer Tätigkeit sehr gering gewe-sen. Tatsächlich habe sie damals an manchen Tagen überhaupt kein Trinkgeld bekommen, an manchen Tagen vielleicht 2,- EUR oder 2,50 EUR, die sie dann sofort für das Mittagessen ausgegeben habe. Es sei auch üblich, dass Trinkgeld in Form von Keksen oder Schokolade gegeben werde, insbesondere von älteren Kunden und zur Weihnachtszeit. Das von dem Beklagten angenommene regelmäßige Trinkgeld von 60,- EUR halte sie für völlig überzogen, allenfalls im Dezember 2015 habe sie so viel Trinkgeld erzielt. Zuvor seien es maximal 40,- EUR monatlich gewesen, teils jedoch auch weniger. Der Beklagte habe zudem auch nicht berücksichtigt, dass sie teilweise Urlaub gehabt habe oder ein Kind krank gewesen sei und sie dann weniger als 60 Stunden im Monat gearbeitet habe.
Die Kläger beantragen, teils sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 02.06.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2015 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14.07.2015, 11.08.2015, 19.08.2015 und 23.10.2015 zu verurteilen, ihnen Leis-tungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe ab dem 01.08.2015 ohne die Anrech-nung von Trinkgeldeinnahmen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Entgegen der Auffassung der Klägerin seien bei der Berechnung der Einkünfte in Geld oder Geldeswert grundsätzlich alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Rechtsnatur zugrunde zu legen. Unerheb-lich sei zudem, ob sie zu den Einkommensarten im Sinne des Einkommensteuergesetzes gehörten oder ob sie der Steuerpflicht unterlägen. Trinkgeld sei danach Erwerbseinkommen, das dem Arbeitsentgelt hinzuzurechnen sei, zumal es bei Berufen im Dienstleistungssektor einen nicht unerheblichen Anteil des Einkommens ausmache. Die Gewährung von Trinkgeld im Dienstleistungsgewerbe falle nicht unter die Befreiungsmöglichkeiten nach § 11 a Abs. 5 SGB II. Sofern die Klägerin vortrage, dass nicht jeder Kunde 1,- EUR Trinkgeld gebe und es nicht immer Kunden gebe, sei dem entgegen zu halten, dass manche Kunden auch höheres Trinkgeld geben und auch die Möglichkeit der Bedienung mehrerer in einer Stunde bestehe. Ein durchschnittliches Trinkgeld von 1,- EUR pro Arbeitsstunde erscheine als reell und angemessen. Da die Klägerin trotz mehrfacher Aufforderung keine Nachweise über ihre Trinkgeldeinnahmen vorgelegt habe, sei auch die fiktive Bemessung zulässig.
Die Beteiligten haben in dem Erörterungstermin übereinstimmend mitgeteilt, dass sie ledig-lich über die Anrechnung fiktiven Trinkgeldes in Höhe von 60,- EUR monatlich streiten und dass sie im Übrigen beidseitig von einer zutreffenden Leistungsberechnung durch den Beklagten ausgehen. Außerdem haben die Beteiligten in dem Termin einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Entscheidung erging aufgrund des Einverständnis-ses der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG.
Die Anrechnung von Trinkgeld im streitgegenständlichen Zeitraum war rechtswidrig. Streit-gegenständlich ist die Höhe von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von August bis Oktober 2015. Die Kläger wenden sich ausschließlich gegen die Anrechnung von Trinkgeld als Einkommen. Sie haben in dem Erörterungstermin vom 09.03.2016 ausdrücklich angege-ben, dass sie die Berechnungen des Beklagten im Übrigen für zutreffend halten und daher mit ihrer Klage nicht angreifen.
Da nach den vorliegenden schlüssigen Berechnungen der Leistungshöhe in der Verwaltungs-akte und in den angegriffenen Bescheiden mit Gewissheit davon ausgegangen werden kann, dass bei einem Verbot der Anrechnung von Trinkgeld höhere Leistungen nach dem SGB II zustehen, sieht die Kammer die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 SGG als erfüllt an. Ein Grundurteil nach § 130 Abs. 1 SGG ist zulässig, weil die Kläger mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1, 4 SGG keinen bezifferten Betrag, sondern (nur) höhere Leistungen ohne Anrechnung von Trinkgeld begehren, welche ihnen für den Fall des Zutreffens ihrer Rechtsansicht auch zustünden. Die Zulässigkeit eines Grundurteils ist in dieser prozessualen Situation allgemein anerkannt (BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 81/12 R –, SozR 4-4225 § 1 Nr. 2, Rn. 10 zu einem Fall betreffend die Gewährung von SGB II-Leistungen ohne die Anrechnung von Kindergeld, mit zahlreichen weiteren Nachweisen), wenn der Modus der Umsetzung des Urteils klar und eindeutig ist, auch wenn das Ergebnis – etwa wegen unterschiedlicher variabler oder dynamischer Faktoren oder anderer Entscheidungsgrößen – noch nicht beziffert werden kann oder, weil das Verfahren so klar ist, muss (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. April 2015 – L 32 AS 2447/14 –, Rn. 36, juris mit Hinweis auf BSG, Beschluss v. 18.08.1999, B 4 RA 25/99 B, Rn. 12). Im Übrigen kann auch die Kammer keinen Fehler in der sonstigen Berechnung der SGB II-Leistungen erkennen, wozu auf die Akten verwiesen wird.
Rechtsgrundlage für den von den Klägern geltend gemachten höheren - ohne die Anrechnung von Trinkgeld zu erbringenden - Leistungen nach dem SGB II sind die § 19 Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Kläger erfüllen die Grundvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II als Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (bestimmtes Alter, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland), während ein Ausschlusstatbestand (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2, §§ 4, 5 SGB II) nicht vorliegt.
Der Beklagte hat auf den monatlichen Bedarf der Kläger in Höhe von 1.637,88 EUR zu Recht gemäß § 11 SGB II Einkommen in Form von nachgewiesenem Arbeitslohn (bereinigt um die oben genannten Freibeträge), Kindergeld und Unterhaltsvorschuss angerechnet und demnach einen geringeren Bedarf nach dem SGB II angenommen. Denn als Einkommen zu berücksichtigen sind nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen.
Unzulässig war es jedoch, eine Anrechnung von Trinkgeld vorzunehmen. Trinkgeldeinahmen erfüllen grundsätzlich die Voraussetzungen des Befreiungstatbestandes nach § 11a Abs. 5 SGB II. Nach dieser Vorschrift sind Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit 1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder 2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.
Trinkgeldzahlungen sind regelmäßig Zuwendungen eines anderen, zu deren Erbringung keine rechtliche Pflicht besteht. Nach der Legaldefinition in § 107 Abs. 3 Satz 2 der Gewerbeordnung (GewO) ist Trinkgeld ein Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber geschuldeten Leistung zahlt.
Auch eine sittliche Verpflichtung zur Zahlung von Trinkgeld dürfte in den meisten Fällen nicht vorliegen. Eine Schenkung zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht liegt nicht schon dann vor, wenn der Schenker nach den Geboten der Sittlichkeit aus Nächstenliebe hilft, vielmehr muss es sich um eine Pflicht handeln, die aus den konkreten Umständen des Falls erwachsen ist und in den Geboten der Sittlichkeit wurzelt, wobei das Vermögen, die Lebensstellung der Beteiligten und ihre persönlichen Beziehungen untereinander zu berücksichtigen sind (BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 7a/7 AL 4/04 R –, SozR 4-4300 § 194 Nr. 7, Rn. 15). Der Kammer ist allerdings bewusst, dass die Annahme einer sittlichen Verpflichtung vom Wandel des Zeitgeists und subjektiven Wertungen abhängt, weswegen die Feststellung einer sittlichen Verpflichtung Schwierigkeiten bereitet. Einerseits waren Trinkgeldzahlungen in Deutschland bis zum Kaiserreich gelegentlich sogar die einzige Einnahmequelle von Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe (https://de.wikipedia.org/wiki/Trinkgeld; Abschnitt Deutschland/Gewerberecht), was heute nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GewO verboten ist. Andererseits wurde sie auch schon 1882 von dem deutschen Rechtsgelehrten Rudolf von Ihering als schädliche Doppelzahlung für eine Dienstleistung bezeichnet, die zu einer Unsitte geworden sei (R. v. Ihering, Das Trinkgeld, Braunschweig 1882, S. 14 ff.).
Am ehesten dürfte davon auszugehen sein, dass Trinkgeldzahlungen bei guten Dienstleistun-gen üblich, aber nicht verpflichtend sind, und zwar auch nicht sittlich-verpflichtend (vgl. http://www.knigge.de/archiv/artikel/der-trinkgeld-knigge-6317.htm). Solche Zahlungen sind in Deutschland zwar eine verbreitete "Sitte", ohne dass jedoch hiermit eine sittliche Ver-pflichtung in Verbindung gebracht wird (vgl. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/trinkgeld-zahlen-bitte-1438083.html). Zwar beinhaltet der Begriff der "Sitte" auch eine verpflichtende Kraft, da die Sitte als "Volksgewohnheit" definiert wird, der eine verpflichtende Kraft innewohnt (R. v. Ihering, a.a.O. S. 10). Die sittliche Verpflichtung zur Zahlung von Trinkgeld in diesem Sinne knüpft aber zugleich wieder an den Maßstab der individuellen Zufriedenheit des Kunden mit einer Dienstleistung an und ist daher auch unter der von § 11a Abs. 5 SGB II geforderten Betrachtungsweise nicht allgemein objektiv messbar.
Zwar hat der Arbeitgeber gegenüber seinem Arbeitnehmer insbesondere im Dienstleistungs-gewerbe einen Anspruch, dass dieser Kunden freundlich und zuvorkommend bedient. Damit korrespondiert aber keine allgemeine sittliche Verpflichtung, bei freundlicher und zuvor-kommender Bedienung Trinkgeld zu zahlen. Denn es ist anerkannt, dass die individuellen Einzelfallumstände und ihre subjektive Bewertung hierbei immer Berücksichtigung finden können. Trinkgeld ist damit letztendlich nichts anderes als eine Art "Spende" und damit nicht verpflichtend, weil die Trinkgeldvergabe keinen Bestandteil des geschlossenen Vertrages im juristischen Sinne darstellt (Dobler, Der irrationale Umgang mit Geld am Beispiel der deutschen Trinkgeldkultur in Gaststätten, Dissertation 2009, S. 79). Dementsprechend wird das Trinkgeld auch als eine freiwillige Zahlung des Käufers oder Kunden an den Angestellten eines Dienstleisters, die über den Kaufpreis hinaus oder als eigenständige Zahlung geleistet wird, definiert (https://de.wikipedia.org/wiki/Trinkgeld), und zwar ohne "den mindesten Anspruch, weder dem Recht noch der Billigkeit nach" (R. v. Ihering, a.a.O. S. 16).
Jedenfalls war dies im Falle der Klägerin so, da diese den gesetzlichen Mindestlohn erhielt und ihre Kunden daher davon ausgehen durften, dass die Trinkgelder bei der Vereinbarung des Arbeitslohns nicht maßgeblich mit einbezogen worden sind, und die Klägerin hierauf nicht im Sinne einer für sie wesentlichen Einnahme angewiesen war.
Nach der Wertung des Steuerrechts sind gemäß § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes (EstG) Gelder, die anlässlich einer Arbeitsleistung dem Arbeitnehmer von Dritten freiwillig und ohne dass ein Rechtsanspruch auf sie besteht, zusätzlich zu dem Betrag gegeben werden, der für diese Arbeitsleistung zu zahlen ist, in unbegrenztem Umfang von der Einkommensteuer befreit. Seit dem Gesetz zur Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern (08.08.2002, BGBl I 3111) sind diese Einnahmen daher nicht zu versteuern, und es liegt insoweit entgegen dem Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz SGB VI, der alle auch ohne rechtliche Verpflichtung erzielten Einnahmen aus einer Beschäftigung erfasst, auch keine Beitragspflicht in der Sozialversicherung mehr vor, vgl. § 1 Arbeitsentgeltverordnung und § 1 der Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt.
Es liegt nahe, diese Freistellung von der Anrechnung auch für den Leistungsbereich des SGB II zu übernehmen, sofern die genannten Begriffsmerkmale - wie vorliegend - erfüllt sind und § 11a Abs. 5 SGB II die Freistellung von der Anrechnung zulässt. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass aufgrund der Regelmäßigkeit der Einnahme in bestimmten Berufen im Dienstleistungsgewerbe eine einkommensgleiche Funktion vorliegt (so aber Geiger in Münder, SGB II, 5. Aufl. 2013, § 11a Rn. 19). Jedenfalls war im Falle der Klägerin gemäß der Tatbestandsalternative des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II die Berücksichtigung von Trinkgeld grob unbillig.
Da Trinkgelder für die individuellen Bemühungen der die Leistung ausführenden Person und für die Art und Weise der Leistungsausführung oder die Begleitumstände (Freundlichkeit, besonderes Engagement) gegeben werden und nicht für die Gegenleistung des Vertragspart-ners (Gastronom, Friseur), erscheint eine generelle sozialhilfe- und grundsicherungsrechtliche Zuordnung der Trinkgelder Dritter zu den Zuwendungen sachgerecht, da im Rahmen der nach und § 11a Abs. 4 und 5 SGB II (und § 84 SGB XII) mit Blick auf die individuelle Lage des Leistungsempfängers zu treffenden Gerechtfertigtkeits- oder Härtefallprüfung derartigen persönlichen Verdiensten individueller und angemessener begegnet werden kann, als bei der eher schematisch erfolgenden Behandlung von Arbeitseinkommen (Kokemoor, Die Anrechnung von Zuwendungen im Grundsicherungs- und Sozialhilferecht, SGb 2014, 613, 620).
Die Kammer lässt ausdrücklich offen, ob die Methode der Schätzung des Trinkgelds durch den Beklagten zulässig war, nachdem die Klägerin zur Höhe der erhaltenen Trinkgelder erst-malig im Erörterungstermin der Kammer konkrete Angaben zu Protokoll gegeben hat (vgl. hierzu aber Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Mai 2001 – L 4 KR 4448/99 –, juris; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.03.2007 - L 7 B 23/07 AS ER, juris, zur Schätzung von vermuteten Einnahmen aus Bettelei und deren Anrechnung).
Jedenfalls wäre auch bei den von dem Beklagten unterstellten monatlichen Trinkgeldeinnah-men von 60,- EUR im Monat - eine Verböserung darüber hinaus ist im Klageverfahren ausge-schlossen - eine Anrechnung grob unbillig im Sinne des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II. Bei der groben Unbilligkeit im Sinne dieser Vorschrift handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher der vollen gerichtlichen Prüfung unterfällt. Dem Beklagten ist auch insoweit kein Ermessen oder Beurteilungsspielraum eingeräumt (Geiger in Münder, SGB II, 5. Aufl. 2013, § 11a Rn. 17). Die Annahme grober Unbilligkeit stützt die Kammer darauf, dass der von dem Kunden mit der Zahlung beabsichtigte Dank bzw. die gewollte Motivation der Klägerin weitestgehend ins Leere laufen würde, wenn das Trinkgeld auf der Seite der Klägerin keine Erhöhung ihrer Einnahmen zur Folge hätte. Die Anerkennung einer gelunge-nen Dienstleistung durch die Gabe des Trinkgelds würde - abgesehen von der freundlichen Geste der Gabe des Geldgeschenks - jedenfalls wirtschaftlich völlig entwertet. Der Gesetzgeber hat bei der Schaffung der Regelung des § 11a Abs. 5 Nr. 1 SGB II im Übrigen gerade als Indiz für die gewollte Anrechnungsfreiheit genannt, dass die Zuwendung erkennbar nicht auch zur Deckung des physischen Existenzminimums verwendet werden soll (BT-Drucks. 17/3404, S. 94). Es dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass Kunden im Friseursalon das Trinkgeld nicht in der Absicht geben, dass physische Existenzminimum der Beschäftigten zu sichern.
Auch würden wohl kaum noch Kunden Trinkgeld geben, wenn sie wüssten, dass das Geld vollständig auf das Jobcenter umgeleitet wird. Auch das SGB II setzt auf vielfältige Weise auf Motivations- und Leistungsanreize, womit es nicht vereinbar wäre, eine so verbreitete Sitte wie die Gabe von Trinkgeld für gelungene Dienstleistungen auf dem Weg über den Erlass von Kürzungsbescheiden auszuhebeln. Insbesondere dürfte für die Klägerin auch kaum nachvollziehbar sein, dass ihre Kollegen außerhalb des SGB II-Leistungsbezugs neben ihrem höheren Arbeitslohn auch noch das vollständige Trinkgeld steuer- und abgabenfrei vereinnahmen können.
Hilfsweise stellt die Kammer auch darauf ab, dass die Einnahme von Trinkgeldern von ma-ximal 60,- EUR im Monat bzw. rund 10 % ihrer Leistungen nach dem SGB II die Lage der Leis-tungsberechtigten auch nicht im Sinne von § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II so günstig beeinflusst hat, dass daneben insoweit aufstockende Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären. Die Klägerin hat in dem Erörterungstermin der Kammer einen glaubwürdigen Ein-druck vermittelt. Sie hat schlüssig dargelegt, dass sie geringere Einnahmen an Trinkgeld als von dem Beklagten angenommen erzielt und diese regelmäßig noch am Tag der Einnahme für das Mittagessen verwendet hat. Damit hat die Klägerin das Trinkgeld im klassischen Sinn für Speise und Trank verwendet und darüber hinaus nichts davon einbehalten.
Das BSG hat bezeichnenderweise in einem anderen Zusammenhang einen Zuwendungsbetrag von 60,- EUR als "gering" bezeichnet und unter Außerachtlassung des Zuwendungsgrundes eine Anrechnung bei einer Zuwendung ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 – B 8 SO 12/11 R –, SozR 4-3500 § 84 Nr 1, BSGE 113, 86-92, SozR 4-3500 § 5 Nr 1, Rn. 20), woraus sich ein "brauchbarer Orientierungswert" ergeben könnte (so Kokemoor, SGb 2014, 613, 619 mit dem Vorschlag, bis zu dieser Höhe die Anrechnungsfreiheit anzunehmen, und darüber hinaus in Abhängigkeit vom Einzelfall weitere Freibeträge zuzulassen).
Die Kammer weist darauf hin, dass ihr in der langen Beschäftigung mit dem SGB II kein Fall erinnerlich ist, in dem bei einem Leistungsbezieher fiktives oder tatsächliches Trinkgeld angerechnet worden ist. Einschlägige Rechtsprechung ist nicht ersichtlich. Insoweit stellt sich auch die Frage, ob hier nicht ein wesentliches Problem der Ungleichbehandlung bei der Vollziehung der Dienstanweisungen des Beklagten gegeben ist. Zwar gibt es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht, doch stellt es dennoch ein Problem der Gleichbehandlung dar, wenn eine Vorschrift nur in Einzelfällen, dann aber in aller Härte und mit der Anrechnung fiktiven Einkommens, angewendet wird. Eine Klarstellung des Gesetzgebers wäre hier sicherlich zu wünschen, da die Voraussetzungen des § 11a Abs. 5 SGB II insbesondere durch die doppelte Anknüpfung an extrem ausfüllungsbedürftige Begriffe wie "Sitte" (siehe oben) und "Billigkeit" in der Praxis der Rechtsanwendung offenkundig mit großer Unsicherheit verbunden sind.
Ein Gleichbehandlungsproblem besteht auch insoweit, als es für den Leistungsempfänger keinen Unterschied macht, ob ein nach dem Gesetz an sich billigenswerter und im Rahmen von § 11a Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigender Motivationsanreiz aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck oder durch die freie Wohlfahrtspflege erbracht wird, oder aber durch eine andere, nicht von diesen Normen erfasste Person. Zu denken ist etwa an Angehörige, die aus freien Stücken den Erfolg einer Eingliederungsmaßnahme der Sozialhilfe oder Grundsicherung fördern wollen (Kokemoor, SGb 2014, 613, 618).
Danach lagen im streitgegenständlichen Zeitraum insgesamt die Voraussetzungen für die Anrechnungsfreiheit des Trinkgeldes nach § 11a Abs. 5 SGB II vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf dem Nichterreichen der Berufungssumme von 750,- EUR und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
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