S 1 U 60/08

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 60/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 225/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 245/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 10.12.2007 und des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 verpflichtet, dem Kläger Leistungen der Unfallversicherung im gesetzlichen Umfang nach einer MdE von 100 % zu bewilligen.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund eines Unfalles vom 25.06.2005.

An diesem Tag befand er sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Nach dem Ende seiner Arbeitszeit gegen 14.00 Uhr fuhr er auf der Autobahn zurück in Richtung A-Stadt. Bei nassem Straßenzustand kam er nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen kleineren Baum. Der Kläger musste von der Feuerwehr aus dem Fahrzeug herausgeschnitten werden. Der Durchgangsarztbericht weist als Angabe des Klägers aus, er sei mit seinem Pkw ins Schleudern geraten und in einen Graben gerutscht. Die Unfallanzeige des Arbeitgebers vermerkt, dass sich der Kläger an den Unfallhergang nicht erinnern könne. Am Fahrzeug des Verletzten gab es erhebliche Schäden. Bei diesem Unfall war der Kopf des Klägers einem Rotationstrauma ausgesetzt. Der Durchgangsarzt berichtet diesbezüglich von einer oberflächlichen Kratzverletzung am Schädel links parietal. Nach dem chirurgischen Zwischenbericht kam es zudem zu einer Prellung des Thorax und zu einer Distorsion der HWS und LWS (vgl. auch Durchgangsarztbericht vom 01.07.2005). Am 27.06.2005 wurde der Kläger nach Hause entlassen. Noch während des stationären Aufenthaltes wirkte der Kläger nach Angaben seiner Ehefrau wortkarg und zog sich dann auch zu Hause zurück und verbrachte die Zeit überwiegend im Bett. Es folgte dann vom 11. bis 18.07.2005 eine zweite stationäre Krankenhausbehandlung, anlässlich derer eine Fraktur der 8. Rippe links festgestellt wurde. Es wurde in dieser Zeit auch eine neurologische Konsiliaruntersuchung durchgeführt und eine Kernspintomographie des Kopfes empfohlen. Am 14.07.2005 wurde darauf eine hyperintense Signalveränderung im occipitalen Marklager am Hinterhorn des Seitenventrikels links festgestellt ohne weitere Auffälligkeiten. Zum Ausschluss einer Blutung wurde eine Computertomographie empfohlen, die aber dann nicht durchgeführt wurde. Während dieses stationären Aufenthaltes stellte die Ehefrau des Klägers Veränderungen fest, so habe er sich den Namen des Mitpatienten im Zimmer nicht merken können. Auch seien ihr Merkfähigkeitsstörungen aufgefallen. Ebenso habe er Orientierungsschwierigkeiten auf der Station gehabt. Eine neurologische Untersuchung erfolgte dann am 17.08.2005 durch Dr. Böger, der die Diagnose einer Contusio cerebri mit neuropsychiologischen Defiziten stellte. Der Kläger klagte bei dieser Untersuchung über Vergesslichkeit und subjektives Kribbeln in Armen und Beinen. Bei der neuro-psychologischen Testung fielen eine deutliche Verlangsamung der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, Störung des Kurzzeitgedächtnisses der Konzentration und der Aufmerksamkeit auf. Darauf kam der Neurologe Dr. C. zu dem Ergebnis, dass dieses ausgeprägte neuro-psychologische Defizit nur auf den Unfall vom 25.06.2005 zurückzuführen sei, er halte eine Contusio cerebri für wahrscheinlich. Am 17.10.2005 schloss sich dann ein stationäres Heilverfahren in der neurologischen Klinik Hessisch Oldendorf an. Diese Behandlung wurde am 01.12.2005 wegen eines Suizidversuches abgebrochen, so dass eine Verlegung in das psychiatrische Landeskrankenhaus in Hildesheim erfolgte. Es werden in dieser Zeit überwiegend Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen beschrieben, eine Antriebsminderung und Depressionen. Als Diagnose wurde ein hirnorganisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma, depressives Syndrom mit akuter suizidaler Tendenz (Strangulationsversuch) gestellt. Nach dem stationären psychiatrischen Bericht aus dem Landeskrankenhaus Hildesheim lagen bei der Aufnahme des Klägers ausgeprägte Hirnleistungsdefizite vor mit unzureichender zeitlicher, örtlicher und situativer Orientierung. Beschrieben sind deutliche Sprachverständigungsschwierigkeiten und Störungen des abstraktiven Denkens, ausgeprägte Sprachverständnis- und Leseschwierigkeiten. Es erfolgte dann am 3. Januar 2006 die Rückverlegung aus der psychiatrischen Klinik in die neurologische Klinik Hessisch Oldendorf, wo der Kläger stationär verblieb. In der dort durchgeführten Kernspintomographie des Gehirns am 10.01.2006 zeigten sich kleinere Haemosiderinablagerungen im subcortikalen Marklager, teilweise auch im Cortex, links occipital paramedian mit einer Größe von 4 mm, leinere Läsionen in der Zentralregion links und im Gyrus frontalis medius rechts von jeweils ebenfalls 2 mm Größe. Die neuropsychiologische Testuntersuchung ergab schwere Beeinträchtigungen, die selbst für Patienten mit schwersten strukturellen Hirnschädigungen ungewöhnlich stark ausgeprägt wären. Zur Behandlung einer depressiven Symptomatik wurde der Kläger in die psychiatrische Klinik Lübecke verlegt. Dort fand man aber keine Hinweise auf ein dauerhaftes depressives Syndrom. Es erfolgte in der Folge die Rückverlegung zur neurologischen Rehabilitationsbehandlung nach Hessisch Oldendorf. Dort wurde der Kläger erneut vom 18.04. bis 19.07.2006 behandelt. Von dort entließ man ihn mit einer antidepressiven, antipsychiotischen und antieleptischen medikamentösen Behandlung in die psychiatrische tagesklinische Behandlung nach Kassel. Diese wurde vom 24.07. bis 13.10.2006 unter den Diagnosen organische depressive Störung, hirnorganisches Psychodrom bei Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma am 25.06.2005 durchgeführt. Es kam zu keiner wesentlichen Besserung des Zustandes.

Das erste Rentengutachten vom 11.05.2006 von Prof. Dr. D. gelangte zu dem Ergebnis, dass auf chirurgischem Fachgebiet die MdE 0 von Hundert betrage. Dr. E. führte in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten unter dem 15.06.2006 aus, dass es bei dem Unfall zu einem Schädel-Hirn-Trauma gekommen sei mit im Januar 2006 nachweisbaren Blutungsresten. Als Folgen dieser Verletzungen seien hirnorganische Veränderungen festzustellen im Zusammenhang mit reaktiv-depressiven Veränderungen und epileptischen Anfällen. Die dadurch verursachte unfallbedingte MdE betrage 70 %. Es erfolgte zudem eine radiologische Begutachtung im Friederikenstift Hannover vom 30.08.2006. Diese gelangte zu dem Ergebnis, dass die Kernspintomogramme Haemosiderinablagerungen zeigten, also Reste einer abgelaufenen Blutung, schon sichtbar auf den Kernspinbildern vom 14.07.2005 mit einem Durchmesser von 3 bis 4 mm als Hinweis auf eine mindestens mehrere Tage bis Wochen zurückliegende Einblutung. Eine weitere hypertensive Struktur links paraventikulär zeige kein Haemosiderin, so dass es sich nicht um eine ältere Einblutung handele. Auf den Kernspin-Bildern vom Januar 2006 befänden sich die Haemosiderinablagerungen paramedian links occipital, weitere Herde partiell in den linken Zentralregionen und postzentral linkshemisphärisch links und frontal. Dass diese Veränderungen auf den Kernspin-Bildern vom 14.07.2005 nicht sichtbar gewesen seien, erklärte der Gutachter mit der besseren räumlichen Auflösung bei der Untersuchung am 10.01.2006. Die Blutungsreste seien gut vereinbar mit einer Scherverletzung mit Verletzung von Kommisurfasern.

Unter dem 17.10.2007 wurde ein neuro-radiologisches Fachgutachten und unter dem 01.11.2007 ein fachneurologisches Gutachten erstellt. Das Gutachten des Dr. F. vom 01.11.2007 gelangte dabei zu dem Ergebnis, dass der Kläger beim Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe. Drauf beruhten mit Wahrscheinlichkeit die radiologisch nachgewiesenen Veränderungen. Da die Dauer der Bewusstlosigkeit und die Länge der posttraumatischen Amnesie in guter Korrelation zur Schwere der Hirnverletzung ständen, sei bei dem Kläger von einer allenfalls leichten Hirnverletzung auszugehen. Bei leichtem Schädel-Hirn-Trauma trete in der Regel eine vollständige Rückbildung der Symptome innerhalb von 6 bis maximal 12 Wochen ein. Bei den in 10 bis 15 % zu beachtenden persistierenden posttraumatischen Syndrom sei die Inzidenz der einzelnen Beschwerden fast identisch mit der Inzidenz bei Menschen, die nie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hätten. Da zudem der derzeitige neurologisch-psychiatrische Befund nicht als Ausdruck einer schweren hirnorganischen Beeinträchtigung zu werten sei, müsse in erster Linie von einer psychogenen Symptombildung mit flukturierendem pseudodementem Verhalten ausgegangen werden. Beim Zustandekommen spiele möglicherweise die psychiatrischerseits mehrfach diagnostizierte Depression eine wichtige Rolle.

Mit Bescheid vom 10.12.2007 erkannte die Beklagte darauf das Ereignis vom 25.06.2005 zwar als Arbeitsunfall an, versagte jedoch einen Anspruch auf Verletztenrente. Das gleiche gelte für sonstige Leistungen nach dem 10.07.2005. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach Auswertung der Gutachten feststehe, dass sich der Kläger bei dem Unfall vom 25.06.2005 zwar Prellungen des Brustkorbes, der Lenden- und Brustwirbelsäule und eine Zerrung der Halswirbelsäule zugezogen habe. Diese unfallbedingten Unfallschäden bedingten allerdings nur eine Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bis zum 10.07.2005 und seien danach folgenlos ausgeheilt. Anders als die vorbezeichneten Unfallfolgen seien die erstmals am 11.07.2005 festgestellten und sich in der Folgezeit verschlimmernden Defizite auf neuropsychologischem Fachgebiet, die Ursache der seit dem 11.07.2005 unverändert bestehenden Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit seien, nicht durch den Arbeitsunfall vom 25.06.2005 verursacht worden. Gegen diesen am 10.12.2007 zur Post gegebenen Bescheid legte der Kläger mit anwaltlichem Schreiben vom 21.12.2007 am 27.12.2007 Widerspruch ein, den er mit Schreiben vom 04.02.2008 begründete. Wegen des Inhalts der Widerspruchsbegründung wird auf Blatt 939 bis 943 der Behördenakte verwiesen. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008 zurück.

Dagegen hat der Kläger mit anwaltlichem Schreiben vom 20.03.2008 am 25.03.2008 Klage erhoben.

Zur Begründung trägt der Kläger vor, dass sein Fahrzeug ganz erhebliche Schäden aufgewiesen habe, welche nicht allein dadurch hätten entstehen können, dass das Fahrzeug von nasser Fahrbahn gerutscht und in einen Graben geraten sei. Aufgrund dessen sei die Art der Verletzungen auch anders gewesen als von der Beklagten zugrunde gelegt. Überdies sei im Rahmen der Erstbehandlung im Rotes-Kreuz-Krankenhaus in Kassel eine unzureichende Diagnostik erfolgt. Aus seiner Sicht sei aufgrund des Unfallereignisses ein Schädel-Hirn-Trauma entstanden, welches die Ursache für den aktuellen Gesundheitszustand sei. Die Ansicht, dass der aktuelle Zustand auf einer rezidivierenden depressiven Entwicklung beruhe, gehe fehl.

Der Kläger beantragt daher,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 10.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 zu verpflichten, dem Kläger Leistungen der Unfallversicherung im gesetzlichen Umfang nach einer MdE von 100 % zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffenen Bescheide.

Neben der Einholung von Befundberichten hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. G. mit neurologischer Zusatzbegutachtung durch den Facharzt für Neurologie Dr. H. Das Gutachten des Dr. G. vom 22.07.2009 gelangt aus psychiatrischer Sicht zu dem Ergebnis, dass die sich progredient entwickelnde Demenz dem Unfallereignis nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als alleinige Ursache zugeordnet werden könne. Ein Schädel-Hirn-Trauma sei nicht dokumentiert worden und würde auch nicht die Progredienz der Erkrankung begründen. Dr. H. vertritt in seinem Gutachten vom 20.06.2009 die Auffassung, dass die Demenz des Klägers nur als unfallunabhängig einzuschätzen sei, da sie aufgrund der medizinischen Tatsachen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als unfallabhängig betrachtet werden könne. Anders als der Hauptgutachter Dr. G. empfiehlt er indes eine neurologische Begutachtung durch einen Spezialisten für Schädel-Hirn-Traumen. Das Gericht hat des Weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG durch Dr. C. Dieser gelangte in seinem nervenfachärztlichen Gutachten zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine erhebliche psychische Einschränkung vorliege. Das Unfallereignis sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als alleinige Ursache für die festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen anzusehen, unabhängig davon, ob die Genese organisch, reaktiv oder eine Kombination von beidem sei. Eine alternative Ursache sei nicht bekannt, eine sich zeitgleich entwickelnde demenzielle Entwicklung z. B. vom Alzheimer-Typ sei extrem unwahrscheinlich. Vor dem Unfallereignis habe es auch keine Hinweise auf eine konkurrierende psychische Erkrankung oder einen anderen hirnorganischen Prozess gegeben. Die MdE betrage 100 %. Nach Durchführung einer ersten mündlichen Verhandlung am 30.11.2010 hat das Gericht zudem Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens durch Dr. J. Dieser gelangte unter dem 02.05.2011 zu dem Ergebnis, dass der Kläger anlässlich des Unfalles ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe, welches Ursache für ein schweres chronisches hirnorganisches Psychodrom mit Wesensveränderung, Multismus, Antriebsverminderung und Verlust der Sprache sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Gutachten wie auch wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten (2 Bände) und die beigezogenen Behördenvorgänge (5 Bände) verwiesen. Sämtliche Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung besteht bei Vorliegen eines Versicherungsfalles im Sinne der Vorschriften des SGB VII. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 SGB VII). Ein Arbeitsunfall liegt vor, wenn der Versicherte einen Unfall in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleidet (§ 8 Abs. 1 SGB VII).

Die Anerkennung eines Arbeitsunfalls setzt voraus, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer Zusammenhang), dass die Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt hat (Unfallkausalität) und letzteres einen Gesundheitserstschaden bzw. Gesundheitsprimärschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen längerandauernder Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (BSG U. v. 12.04.05 B 2 U 11/04 R; BSG U. v. 12.04.05 B 2 U 27/04 und BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Weitere Voraussetzung für die Gewährung von Verletztenrente ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen, die als Folge des Arbeitsunfallereignisses eingetreten sind sogenannte haftungsausfüllende Kausalität)

Die Glieder der Kausalkette, d. h. das Vorliegen einer versicherten Tätigkeit, das Unfallereignis an sich, die Entstehung bestimmter Gesundheitsprimärschäden und das Vorliegen eines bestimmten Gesundheitsdauerschadens müssen im Vollbeweis nachgewiesen werden. In diesem Sinne gilt eine Tatsache als bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 54, 285, 287; BSGE 61, 127, 128; BSGE 8, 59, 61: 58, 80, 83).

Der Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und einem Gesundheitsprimärschaden (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen dem Gesundheitsprimärschaden und längerandauernden gesundheitlichen Beeinträchtigungen (haftungsausfüllende Kausalität) beurteilt sich nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis (BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einem zweiten Prüfungsschritt die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die für den Erfolg rechtlich verantwortlich gemacht werden und den für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Auf dieser zweiten Prüfungsstufe kommt die Theorie von der rechtlichen wesentlichen Bedingung zur Anwendung. Nach dieser werden als rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (Grundlegend: Reichsversicherungsamt, AN 1912, S. 930; übernommen durch BSG in BSGE 1, 72, 76; 150, 156 f. st. Rspr. zuletzt BSGE 94, 269). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76). Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich relevant ist allein, ob das Unfallereignis wesentlich war (BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Ist eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannten Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSGE 12, 242, 245; BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220, 222 f.; BSGE 94, 269; BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Von beweisrechtlicher Bedeutung ist, dass der Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss. Es besteht im Bereich des Unfallversicherungsrechts keine Beweisregel, nach der bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch als wesentliche Ursache anzusehen ist, da dies bei komplexen Krankheitsgeschehen zu einer Umkehr der Beweislast führen würde (BSGE 19, 52; BSG U. v. 07.09.04 B 2 U 34/03 R).

Ist die kausale Bedeutung eines äußeren Ereignisses mit einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage abzuwägen, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220, 222 f.; BSGE 94, 269; BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs sind Art und Ausmaß der Einwirkung, Art und Ausmaß der konkurrierenden Ursache, der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, die Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte zu berücksichtigen (BSGE 38, 127, 129; BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Die Abwägung im Rahmen der Theorie der wesentlichen Bedingung ist wiederum zweistufig ausgestaltet. Die Kausalitätsbeurteilung erfolgt zunächst auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten. Dabei ist auch zu beurteilen, ob das Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Dieser Erkenntnisstand bildet jedoch nur die wissenschaftliche Grundlage. In einem zweiten Schritt ist unter Berücksichtigung dieser wissenschaftlichen Grundlage die Ursachenbeurteilung im Einzelfall anhand des konkreten Versicherten unter Berücksichtigung seiner Krankheiten und Vorschäden durchzuführen (so BSG U. v. 09.05.06 B 2 U 26/04 R). Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSGE 19, 52; BSGE 32, 203, 209; BSGE 45, 285, 287; BSGE 58, 80, 83). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht.

Unter Berücksichtigung dessen kann der Erfolg der Klage nicht versagt werden. Zunächst legt das Gericht zugrunde, dass der Kläger unter einem schweren chronischen hirnorganischen Psychodrom mit den beschriebenen Wesensveränderungen, Antriebsminderung und Verlust der Sprache leidet. Nach dem Gutachten des Dr. J. vom 02.05.2011, dem die Kammer wegen seiner zwingenden Argumentation ohne Weiteres folgen kann, sind diese Gesundheitsbeeinträchtigungen auch auf das Unfallereignis vom 25.06.2005 zurückzuführen. Das Gericht muss dabei zugrunde legen, dass der Kläger anlässlich des Unfallereignisses ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hat. Das sieht Dr. G. in seinem Gutachten vom 22.07.2009 ebenso, wenngleich unklaren Ausmaßes. Dr. J. vermag auch schlüssig darzulegen, warum dem offensichtlich nur leichten Schädel-Hirn-Trauma zunächst keine Bedeutung zugemessen wurde, weil nämlich andere Verletzungen im Vordergrund standen. Vor diesem Hintergrund wurde zunächst auch ein Schädel-CT nicht durchgeführt. Ein MRT wurde erst 3 Wochen nach dem Unfall, dann allerdings mit einem ungeeigneten Gerät, vorgenommen. Dr. J. weist darauf hin, das für Untersuchungen an Gelenken konzipierte Kernspin-Gerät habe eine zu geringe Auflösung gehabt, um geringe Veränderungen am Gehirn aufspüren zu können. Bei der neurologischen Untersuchung im August 2005 waren dann neuropsychologische Defizite feststellbar einschließlich einer neuropsychologischen Testung, so dass von einer Diagnose der Hirnkontusion ausgegangen werden konnte. Dies wurde dann auch bestätigt durch eine erneute Kernspintomographie am 10.01.2006 mit Nachweis mehrerer älterer kleiner kortikaler Blutungsresiduen in Form von Haemosiderin (Eisen)-Ablagerungen. Die Kammer kann Dr. J. weiterhin folgen, dass dieser Befund für eine diffuse axonale Hirnschädigung spricht. Dr. J. weist darauf hin, dass eine solche diffuse axonale Hirnschädigung nur kernspintomographisch nachweisbar sei in Form von Mikroblutungen. Sie komme durch Scherverletzungen von Axonen (Nervenfasern) und Blutgefäßen zustande, meist durch Rotations-/Beschleunigungsverletzungen des Gehirns. Das Gericht hat hier keinen Zweifel, dass der Kläger entsprechende Verletzungen erlitten hat. Sein Fahrzeug wies auf der linken (Fahrer-) Seite unabhängig vom Einsatz der Rettungsschere erhebliche Beschädigungen über die gesamte Längsseite auf, so dass eine erhebliche Gewalteinwirkung zugrunde zu legen ist. Insofern erscheint es auch von daher für die Kammer schlüssig, dass hier eine Rotations- und/oder Beschleunigungsverletzung des Gehirns hat erfolgen können. Dr. J. setzt sich des Weiteren auch mit dem Problem des vorliegenden Falles auseinander, dass es innerhalb mehrerer Wochen und Monate nach dem Unfall zu einer gravierenden Verschlechterung der psychopathologischen Defizite mit Entwicklung einer Depression bis hin zur Suizidalität und Antriebsminderung und im Laufe von Monaten auch zu einem Verlust der Sprache gekommen ist, ohne dass weitere neurologische Herdsymptome auftraten. Diese Zunahmen der neuropsychologischen Unfallfolgen nach dem Unfall sind zweifellos äußerst ungewöhnlich. Ganz überwiegend zeigen Defizite nach einer Hirnverletzung einen Decrescendoverlauf. Davon zu unterscheiden sind Hirnverletzungen, bei denen sich zunächst im Krankenhaus und in den Wochen danach keine besonderen Beeinträchtigungen zeigen, die sich jedoch erst dann im Alltag und bei Wiedereintritt in den Beruf bemerkbar machen. Ganz anders ist es in Bezug auf den Kläger, bei dem ganz erhebliche Beeinträchtigungen erst progredient im Laufe von Monaten aufgetreten sind. Der im Vordergrund stehende Verlust der Sprache erinnert nach Dr. J. an das seltene neurologische Krankheitsbild der "primär-progressiven Aphasien". Es handele sich dabei um eine Variante einer speziellen Demenzform der fronto-temporalen Demenz. Bei dieser Erkrankung komme es im Laufe von 2 bis 8 Jahren zu einem Endzustand mit Verlust der Sprachfunktion. Das Durchschnittsalter zu Beginn der Erkrankung liege nach der Literatur bei 59 Jahren. Bei einer Übersicht mit 112 Patienten wird kein vorausgegangenes Schädel-Hirn-Trauma berichtet. Die rasche Entwicklung des Sprachverlustes bei dem Kläger und das damalige Erkrankungsalter von 38 Jahren sprechen nach Dr. J. gegen das Vorliegen einer unfallunabhängigen neurodegenerativen Erkrankung in Form einer "primär-progressiven Aphasie". Andere neurogenerative demenzielle Erkrankungen sieht Dr. J. ebenfalls nicht, da diese Erkrankung üblicherweise noch nicht in diesem Alter sondern erst im höheren Lebensalter auftrete, nicht so rasch progredient sei und zu keinem Zustand wie bei dem Kläger komme. Auch die weiteren Umstände sprächen gegen eine unfallunabhängige primäre neuro-degenerative Erkrankung. Auch eine zeitgleich mit dem Unfall auftretende andere neurologische Erkrankung liege nicht vor, insbesondere keine chronisch-progrediente Entzündung. Dafür spreche, dass die Liquoruntersuchung während des erneuten stationären Aufenthaltes vom Januar bis März 2006 in Hessisch Oldendorf unauffällig bis auf eine leichte unspezifische Störung gewesen sei. Dr. J. räumt ein, dass der über mehrere Monate nach dem Unfall noch progrediente Verlauf ungewöhnlich für Hirnverletzungen ist. Es besteht aber ein enger zeitlicher Zusammenhang. Die kernspintomographisch nachgewiesene Hirnkontusionsblutungen, die initialen, wenn auch leichtgradigen Rückensymptome lassen nach Dr. J. trotz des atypischen Verlaufs keine andere Schlussfolgerung zu. Überdies sind andere unfallunabhängige Hirnerkrankungen nicht nachzuweisen. Dem folgt die Kammer. Die Kammer sieht auch nicht unbedingt einen Widerspruch zu dem Gutachten des Dr. G. vom 22.07.2009, welcher wegen der Crescendo-Symptomatik einen Unfallzusammenhang verneint. Auch Dr. J. weist darauf hin, dass ein solcher Verlauf ungewöhnlich ist. Möglicherweise ist das Gutachten des Dr. G. auch aus psychiatrischer Sicht folgerichtig. Aber auch er hat Zweifel an der Unabhängigkeit vom Unfall. Es sei aber nach wissenschaftlichen Maßstäben "sicher richtig, dass sich ein Zusammenhangsbeweis nicht erbringen" lasse. Diesen Zusammenhang sieht das Gericht mit der Begutachtung durch Dr. J. als erbracht an. Der Vorwurf, den man dem Gutachten des Dr. C. vom 28.06.2010 möglicherweise noch hätte machen können, dass er nämlich quasi mit einem Ausschlussverfahren einen Unfallzusammenhang bejaht, wird man dem Gutachten des Dr. J. nicht mehr vorhalten können. Für die Kammer ist damit erwiesen, dass der Kläger als Folge des Unfallereignisses ein Krankheitsbild entwickelt hat, welches allein mit einer MdE von 100 % zu bewerten ist. Auch hinsichtlich der MdE-Bewertung folgt das Gericht Herrn Dr. J. und darüber hinaus Herrn Dr. C. (Gutachten vom 28.06.2010).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 109 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved