S 16 AS 236/05 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 16 AS 236/05 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Das Pflegegeld nach § 39 Abs. 1 SGB VIII ist nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II insgesamt nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Es dient der Sicherstellung des notwendigen Unterhaltes des Kindes und damit einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II. Dies betrifft auch den
sog. Erziehungsbeitrag.
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.08.2005, längstens je-doch bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des für das Pflegekind gezahlten Pflegegeldes zu gewähren.

II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Höhe von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Am 05.10.2004 beantragte die Antragstellerin die Gewährung von Leistungen zur Siche-rung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Dabei gab sie an, dass in ihrem Haushalt das Pflegekind ... A. lebt. Ausweislich eines Bescheides der Stadt A-Stadt, Jugendamt, vom 28.06.2004 erhält die Antragstellerin für das Pflegekind Pflegegeld nach § 39 SGB VIII in Höhe von 758,00 EUR. Dieses setzt sich aus Pflegegeld für materielle Aufwendungen in Höhe von 455,00 EUR und Pflegegeld als Erziehungsgeld 2fach in Höhe von 380,00 EUR, ab-züglich des hälftigen Kindergeldes in Höhe von 77,00 EUR zusammen.

Die Antragsgegnerin bewilligte mit Bescheid vom 08.11.2004 für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 86,46 EUR. Der Bescheid weist ein berücksichtigungsfähiges Einkommen in Höhe von 380,00 EUR, Kindergeld in Höhe von 77,00 EUR sowie eine Einkommensbereinigung von –30,00 EUR, also ein Gesamtein-kommen von 427,00 EUR aus. Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 17.11.2004 Widerspruch ein. Am 09.05.2005 erging ein Änderungsbescheid, mit der der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 in Höhe von 287,00 EUR bewilligt wurden. Der Bescheid weist ein berücksichtigungsfähiges Einkommen in Höhe von 179,46 EUR, Kindergeld in Höhe von 77,00 EUR sowie eine Einkommensbereinigung von –30,00 EUR, also ein Gesamtein-kommen von 226,46 EUR aus.

Mit Antrag vom 16.03.2005 beantragte die Antragstellerin eine Fortzahlung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Die Antragsgegnerin bewilligte mit Bescheid vom 06.04.2005 für die Zeit vom 01.04.2005 bis 31.08.2005 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 86,46 EUR. Der Bescheid entspricht inhaltlich dem Bescheid vom 08.11.2004. Hiergegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 28.04.2005 Wider-spruch ein. Am 11.05.2005 erging ein Änderungsbescheid, mit der der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.04.2005 bis 31.08.2005 in Höhe von 287,00 EUR bewilligt worden. Der Bescheid entspricht inhaltlich dem Bescheid vom 09.05.2005.

Die Widersprüche der Antragstellerin wies die Antragsgegnerin nach Erteilung der Ände-rungsbescheide vom 09.05.2005 und 11.05.2005 mit Widerspruchsbescheiden vom 10.05.2005 und 20.05.2005 als unbegründet zurück. Hierin wird ausgeführt, der Erzie-hungsbeitrag sei eine zweckgebundene Einnahme im Sinne von § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II. Sobald der Erziehungsbeitrag die hälftige Regelleistung übersteige, sei zu prüfen, ob daneben Leistungen nach dem SGB II noch gerechtfertigt sind. Wenn die Einnahmen die hälftige Regelleistung nicht übersteigen, werde ohne weitere Prüfung davon ausgegangen, dass die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II noch gerechtfertigt ist. Sollte eine Anrechnung stattfinden, sei ein Betrag nach § 11 Abs. 2 Nr. 5 und Nr. 6 SGB II in Abzug zu bringen, soweit davon auszugehen sei, dass es sich bei der Kinderbetreuung um eine Erwerbstätigkeit handele. In diesen Fällen werde das monatliche Betreuungsentgelt als monatliche Betriebseinnahme betrachtet. Die mit der Erzielung des Einkommens verbun-denen Betriebsausgaben seien pauschal in Höhe von 30 % der Betriebseinnahmen abzuset-zen. Nach einer verhältnismäßígen Anrechnung des hälftigen Kindergeldes auf das Pflege-geld verbleibe als Anteil für die materiellen Aufwendungen ein Betrag in Höhe von 413,04 EUR und als Anteil für das Erziehungsgeld ein Betrag in Höhe von 344,96 EUR, also insgesamt 758,00 EUR. Der Betrag des Pflegegeldes, der die Kosten der Erziehung betreffe und die halbe Regelleistung nach § 20 SGB II übersteige, sei Einkommen der Antragstellerin. Da es sich nicht um eine gewerbliche Pflege handele, werde von diesem Einkommen kein Freibetrag nach § 30 SGB II abgesetzt. Es erfolge jedoch gemäß der Sozialgeldverordnung zum Alg II der Abzug einer Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR. Bei einem Erziehungs-geld von 344,96 EUR verbleibe nach einem Abzug von 1/2 der Regelleistung (165,50 EUR) ein Betrag in Höhe von 179,46 EUR. Abzüglich der Versicherungspauschale von 30,00 EUR verbleibe ein Anrechnungsbetrag in Höhe von 149,46 EUR. Zuzüglich der Einnahmen aus Kindergeld in Höhe von 77,00 EUR ergebe dies ein monatliches Gesamteinkommen von 226,46 EUR.

Die Antragstellerin trägt vor, sie habe keine Ersparnisse und habe Probleme, noch über die Runden zu kommen. Auf Grund der starken Behinderung des Pflegekindes ergebe sich auch ein erhöhter Kostenaufwand. Im Übrigen verweist sie auf den Inhalt des Widerspru-ches.

Die Antragstellerin beantragt,

ihr vor dem Sozialgericht A-Stadt einstweiligen Rechtsschutz und ab Januar 2005 ein erhöhtes Alg II zu gewähren, indem das Pflegegeld meines Pflegekindes nicht bei der Berechnung als Einkommen gewertet wird.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Sie meint, es sei unzulässig, den Erziehungsgeldanteil aus dem Pflegegeld des Pflegekin-des völlig außer Acht zu lassen.

Zur Ergänzung der Sachverhaltsdarstellung wird Bezug auf alle Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und sonstige Aktenteile, insbesondere auf die beigezogene Verwaltungsak-te.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vor-läufigen Zustandes in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Grundsätzlich kann da-her mit der einstweiligen Anordnung lediglich die Sicherung von Rechten, nicht aber ihre Befriedigung erreicht werden. Eine Ausnahme wird jedoch für den Fall anerkannt, dass ohne die einstweilige Anordnung ein wirksamer Rechtsschutz in der Hauptsache nicht er-reicht werden kann und dies im Interesse des Antragstellers unzumutbar wäre (vgl. nur Meyer-Ladewig, SGG 7. Aufl., § 86 b Rdnr. 31 m.w.N.). Der Antrag hat dann Erfolg, wenn ein Anordnungsgrund und ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden, so dass bei summarischer Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg des Begehrens in der Hauptsache zu erwarten ist. Das bedeutet, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung dann nicht beansprucht werden kann, wenn im Rahmen der im einstweiligen Verfahren allein möglichen summarischen Prüfung das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes nicht mit zumindest überwiegender Wahrscheinlichkeit festge-stellt werden kann.

2. Gemessen hieran liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor.

a) Es besteht ein Anordnungsanspruch, d.h. ein Anspruch im Sinne des materiellen Rechts.

aa) Es besteht für die Antragstellerin nach den §§ 7 ff., 19 ff. SGB II ein Anspruch auf Ar-beitslosengeld II sowie ein Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung. Diese Voraussetzungen liegen offenkundig vor und sind zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Im Streit steht nur die Frage, ob ein Teil des für das Pflegekind bezogenen Pflege-geldes als Einkommen nach § 11 SGB II zu berücksichtigen ist.

bb) Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen insbesondere zu berücksichtigen Ein-nahmen in Geld oder Geldeswert. Nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II Einnahmen, soweit sie als zweckbestimmte Einnahmen einem ande-ren Zweck als die Leistungen nach diesem Buch dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfer-tigt wären. Gemessen hieran ist das bezogene Pflegegeld insgesamt nicht als Einkommen zu berücksichtigen.

(1) Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist bei der Gewährung von Hilfen nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35 a Abs. 2 Nr. 2 – 4 SGB VIII auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst er, also der notwendige Unterhalt des Kindes, auch die Kosten der Er-ziehung. Das bedeutet, dass das Pflegegeld insgesamt, also auch der sogenannte Erzie-hungsbeitrag, zur Sicherstellung des notwendigen Unterhalts des Kindes dient. Er ist nach der gesetzlichen Definition deshalb keine (reine) Anerkennung für die Pflegeleistung des Kindes. Nach dem Gesetzeswortlaut ist das Pflegegeld insgesamt unterhaltsbezogen, stellt also insgesamt den notwendigen Unterhalt des Kindes dar. Es handelt sich deshalb bei dem Erziehungsbeitrag nicht um einen der freien Verfügbarkeit der Pflegeeltern unterfallenden Betrag. Die Antragstellerin ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht berechtigt, den Erzie-hungsbeitrag frei ohne jegliche Bindung zu benutzen und deshalb wie sonstiges Einkom-men einzusetzen. Es muss immer die Sicherstellung des notwendigen Unterhaltes des Pfle-gekindes im Auge behalten werden. In Übereinstimmung mit der überwiegenden Recht-sprechung (vgl. nur SG Aurich, Beschluss vom 15. April 2005 – Az: S 15 AS 27/05 ER; SG Aurich, Beschluss vom 01.03.2005 – Az: S 25 AS 6/05 E; zur alten Rechtslage der §§ 76, 77 BSHG und § 39 KJHG: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24. November 1995, Az: 24 A 4833/94, zitiert nach Juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 9. De-zember 1996 – Az: 6 S 2472/94, zitiert nach Juris) und Kommentarliteratur (Gru-be/Wahrendorf, SGB XII, § 83 Rdnr. 7; Brühl in LPK-BSHG, 6. Aufl., § 77 Rdnr. 37; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG 15. Aufl., § 76 Rdnr. 18) ist deshalb auf Grund der Zweckbestimmtheit das Pflegegeld nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Es dient einem völlig anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II. Es dient – wie schon erwähnt – nicht der Sicherung des Lebensunterhaltes der An-tragstellerin, sondern der Sicherung des Unterhaltes des Pflegekindes.

(2) Anzumerken ist zudem, dass die Praxis der Antragsgegnerin, den Erziehungsbeitrag anzu-rechnen, soweit er die hälftige Regelleistung überschreitet, nur schwerlich mit § 11 Abs. 3 Nr. 1 a SGB II in Einklang zu bringen ist. Damit gibt die Antragsgegnerin zu erkennen, dass bis zu einem gewissen Betrag, nämlich der der hälftigen Regelleistung, das Pflegegeld und damit auch der Erziehungsbeitrag nicht als Einkommen anzusehen ist. Ab einer be-stimmten Höhe, d.h. ab Überschreiten der hälftigen Regelleistung wird seitens der An-tragsgegnerin dann aber der die hälftige Regelleistung überschreitende Betrag doch wieder als Einkommen angerechnet. Im Erörterungstermin vom 15.07.2005 konnte die Antrags-gegnerin keinerlei Auskunft darüber geben, aus welchen Gründen sie eine solche Grenz-ziehung vorgenommen hat. Das Pflegegeld unterhalb einer willkürlich gezogenen Grenze nicht als Einkommen zu betrachten, weil es einem anderen Zweck als das Arbeitslosengeld II dient, oberhalb dieser Grenze jedoch von einem Einkommen auszugehen, weil es nun doch keinem anderen Zweck dienen soll, ist nicht plausibel.

b) Auch der Anordnungsgrund ist gegeben. Die Antragstellerin besitzt kein Vermögen und verfügt über kein Einkommen. Sie erhält derzeit noch nicht einmal die Regelleistung. Er ist deshalb offensichtlich gegeben.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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