S 9 SO 75/05 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 9 SO 75/05 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1) Bei der Berechnung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§ 41 f. SGB XII) darf bei einem Volljährigen das Kindergeld nicht als Einkommen angerechnet werden.
2) Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sind die tatsächlich angefallenen Miet- und Mietnebenkosten bei der Berechnung der Grundsicherung (§ 41 f. SGB XII) nur dann zu berücksichtigen, wenn sie glaubhaft gemacht sind.
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem Monat Mai 2005 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ohne Anrechnung von Kindergeld zu gewähren. Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller dessen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten. I
II. Der Antragsteller erhält Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiord-nung von Rechtsanwalt ... in ... D ...

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung des Kindergeldes und unter Berücksich-tigung eines Anteiles an den Mietkosten.

Der im Jahre 1979 geborene Ast ist schwerbehindert. Der Grad der Behinderung ist nach dem Schwerbehindertenausweis des Amtes für Familie und Soziales Leipzig mit 80 v.H. festgestellt. Außerdem ist nach dem Beschluss des Amtsgerichts Eilenburg (Az: XVII 5026/99) vom 30.08.2004 über die Verlängerung der Betreuung die Mutter des Ast als Betreuerin für die Vermögenssorge, die Sorge für Gesundheit, die Geltendmachung von sozialrechtlichen Ansprüchen sowie der Vertretung vor Behörden, bestellt worden.

Die Antragsgegnerin (Ag) gewährt dem Ast seit April 2003 laufende Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz; zuletzt betrug der monatliche Zahlbetrag 244,22 EUR.

Auf den Antrag des Ast auf Weitergewährung der Grundsicherungsleistung erließ die Ag den Bescheid vom 31.01.2005 über die Änderung von laufenden Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Darin wird ausgeführt, dass auf Grund der "Änderung der Bedarfsbestände" die Höhe der Grundsicherungsleistungen unter Berück-sichtigung der wirtschaftlichen bzw. persönlichen Verhältnisse neu berechnet worden sei-en. Nach dieser Berechnung habe der Ast Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung ab Januar 2005 in Höhe von 91,65 EUR.

Dagegen erhob die Mutter des Ast Widerspruch, weil die Minderung der Grundsicherung nicht gerechtfertigt sei. Ihrem Widerspruchsschreiben legte sie einen Wohnraummietver-trag, abgeschlossen zwischen dem Ast und seinen Eltern vom 01.09.2004, vor. Darin wird in § 3 Abs. 1 bestimmt, dass die Vermietung von 2 Zimmern, einer Küche und einer Du-sche (Gesamtwohnfläche 36 m²) unentgeltlich erfolge.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.04.2005 wies die Ag den Widerspruch zurück. Nach § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII sei bei Minderjährigen das Kindergeld dem jeweiligen Kind als Einkommen zuzurechnen. Daraus sei der Schluss zu ziehen, dass das Kindergeld bei Voll-jährigen erst recht als Einkommen des Kindes anzurechnen sei.

Am 25.04.2005 stellte der Ast einen Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechts-schutz in dem er u.a. erstmals darauf hinwies, dass Kosten der Unterkunft – die er pauschal mit 177,42 EUR angab – bei der Berechnung der Grundsicherung ebenfalls berücksichtigt werden müssten.

Der Ast beantragt (sinngemäß),

die Ag im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verurteilen, ihm ab Monat Mai 2005 Leistungen der Grundsicherung ohne Anrechnung des Kindergeldes und unter Berücksichtigung eines Anteiles an den Mietkosten zu zahlen und dem Ast Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H ... aus D ... zu bewil-ligen.

Die Ag beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest, wonach dem Ast das Kindergeld als Einkommen zuzurechnen ist und Unterkunftskosten nicht zu gewähren sind. Der Gewährung von mo-natlichen Unterkunftskosten stehe bereits entgegen, dass die Vermietung unentgeltlich er-folge.

II.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig, im Hinblick auf die Anrechnung des Kindergeldes bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen. Er wurde von der Mutter des Ast als dessen Betreuerin und damit prozessual ordnungsgemäß gestellt.

Der Antrag ist, soweit es die Anrechnung von Kindergeld bei der Berechnung der Grundsi-cherungsleistungen betrifft, auch begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhält-nis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig er-scheint (Regelungsanordnung). Eine Regelungsanordnung kann nach allgemeiner Ansicht (vgl. Binder a.a.O., SGG, Handkommentar, § 86 b Rdnr. 32, 33) nur getroffen werden, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sowie keine Vorwegnahme der Hauptsache gegeben sind.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der Ast einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit hat. Ein An-ordnungsgrund liegt hingegen dann vor, wenn eine besondere Eilbedürftigkeit gegeben ist und deshalb ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache dem Ast nicht zumutbar ist.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheidet grundsätzlich dann aus, wenn diese die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Von diesem Grundsatz ist aller-dings dann abzuweichen, wenn nur die Befriedigung des vom Ast geltend gemachten An-spruches in der Lage ist, einen irreparablen Schaden zu verhindern (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl., V, Rdnr. 41).

Unter Anwendung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen sowohl für den Anord-nungsanspruch als auch für den Anordnungsgrund in Bezug auf die Anrechnung des Kin-dergeldes vor.

Der Ast hat mit ausreichende Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung des Kindergeldes, so dass hierfür der An-ordnungsanspruch gegeben ist.

Der Ast hat unstreitig einen Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen. Streitig ist lediglich, ob das Kindergeld bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen als Einkommen ist zu berücksichtigen ist.

Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert (mit ein paar wenigen Ausnahmen die hier keine Rolle spielen). Das bedeutet, das Kindergeld Einkommen im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Klärungsbedürftig ist da-her, ob dies Einkommen des Ast oder das eines Elternteiles ist. § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bestimmt hierzu, dass bei Minderjährigen das Kindergeld dem jeweiligen Kind als Ein-kommen zuzurechnen ist, soweit es bei diesem zur Deckung des notwendigen Lebensun-terhaltes benötigt wird. Eine entsprechende Regelung für volljährige Behinderte fehlt.

Die Ag vertritt nun die Auffassung, dass § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII erst Recht für Voll-jährige gelten müsse. Dieser Argumentation und Rechtsauffassung der Ag kann aber nicht gefolgt werden, weil sie mit der Gesetzessystematik nicht in Einklang zu bringen ist.

Das Kindergeld wird grundsätzlich an den Berechtigten ausgezahlt (§ 64 Einkommensteu-ergesetz (EStG)). Berechtigter ist in der Regel ein Elternteil (§ 62 Abs. 1 i.V.m. § 64 Abs. 1 EStG). Daraus folgt, dass dem Berechtigten das Kindergeld als Einkommen zugerechnet wird.

Da gesetzlich die Berechtigung zum Kindergeldbezug geregelt ist, bedarf es bei einer Ab-weichung hiervon ebenfalls einer gesetzlichen Regelung. Daraus ergibt sich, dass für die Änderung der Kindergeldberechtigung es genauso einer Rechtsvorschrift bedarf (vgl. § 74 Abs. 1 EStG) wie für die Änderung der Zurechnung des Kindergeldes. Dementsprechend wird in § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII die Änderung der Zurechnung von Kindergeld als Ein-kommen bei Minderjährigen geregelt.

Eine entsprechende gesetzliche Regelung für Volljährige – zu denen auch der Ast zählt – gibt es aber nicht.

Demzufolge kann bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen bei Volljährigen das Kindergeld nicht als Einkommen Berücksichtigung finden.

Darauf hat im Übrigen das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einem obiter dictum hingewiesen. Es hat nämlich in seinem Urteil vom 28.04.2005 – 5 C 28/04 – ausgeführt, dass § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII eine Zurechnung des Kindergeldes als Einkommen des Kindes allein bei Minderjährigen regele.

Demnach stellt das Kindergeld kein Einkommen des Ast dar und darf deshalb auch bei der Berechung für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nicht als Einkommen be-rücksichtigt werden.

Es besteht hierfür auch ein Anordnungsgrund, weil eine besondere Eilbedürftigkeit gege-ben ist. Der Ast erhält seit Januar 2005 monatlich Grundsicherungsleistungen in Höhe von 91,65 EUR. Bis zum 31.12.2004 erhielt er Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz in Höhe von monatlich 244,22 EUR. Dem Ast ist es nicht zumutbar, bis zur Entscheidung in der Hauptsache mit den reduzierten Leistungen weiterhin sein tägliches Auskommen zu bestreiten. Eilbedürftigkeit ist daher gegeben.

Durch die einstweilige Anordnung wird die Hauptsache vorweggenommen; dies ist aber grundsätzlich verboten. Eine Ausnahme vom Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache ist jedoch zu machen, wenn die ohne die Regelung zu erwartenden Nachteile unzumutbar und im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Dabei ist u.a. zu berücksichtigen, ob der Ast in wirtschaftliche Not geraten würde (Binder, a.a.O., Rdnr. 40).

Letzteres ist hier der Fall, zumal der Ast lediglich über ein Einkommen von monatlich 119,10 EUR verfügt.

Bezüglich der monatlichen Kosten für die Unterkunft kann es dahingestellt bleiben, ob der Antrag überhaupt zulässig ist, weil es bereits am Anordnungsanspruch fehlt. Der Ast hat mit ausreichender Wahrscheinlichkeit keinen materiell-rechtlichen Anspruch auf Gewäh-rung von Leistungen für die Unterkunft. Zwar bestimmt § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, dass die Ag Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbrin-gen hat. Der Ast hat jedoch nicht einmal glaubhaft gemacht, dass er tatsächliche Aufwen-dungen für die Miete zu erbringen hat. Nach dem vorgelegten Mietvertrag erfolgt die Ver-mietung unentgeltlich.

Hinsichtlich der Mietnebenkosten wurden die tatsächlich angefallenen Kosten weder be-nannt noch glaubhaft gemacht. Es wurden keine Nachweise vorgelegt, aus denen sich die konkreten Kosten für Heizung, Wasser usw. ergeben und anhand derer der auf den Ast anfallende Anteil hätte errechnet werden können. Eine pauschale Abrechnung der Neben-kosten – wie dies hier erfolgte – reicht nicht aus, weil das Gesetz von den tatsächlich ent-standenen Aufwendungen ausgeht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gem. § 73 a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) ist auf Antrag PKH zu gewähren, soweit der Ast nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Die hinreichende Erfolgsaussicht ist dann gegeben, wenn eine reelle Chance auf Erfolg besteht. Deshalb reicht die bloße Möglichkeit eines Erfolges nicht aus (vgl. Sche-rer/Wiesner, Prozesskostenhilfe in der sozialgerichtlichen Praxis in NZA 1985, 47 f).

Im vorliegenden Fall ist – wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt – die Erfolgswahr-scheinlichkeit zumindest für die Anrechnung des Kindergeldes gegeben. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war auch nicht mutwillig und der Ast kann nach seinen per-sönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen; dies ergibt sich aus dem Berechnungsbogen des Kostenbeamten.

Deshalb war PKH unter Beiordnung von Rechtsanwalt A ... zu gewähren.
Rechtskraft
Aus
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