B 4 RA 47/01 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 11 An 43/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RA 2/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 47/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 2000 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin ein Recht auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) hat.

Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Juni 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 1994 verurteilt, der Klägerin Rente wegen BU ab 1. April 1993 zu zahlen (Urteil vom 11. November 1997). Während des Berufungsverfahrens hat das LSG den medizinischen Sachverhalt weiter aufgeklärt. In dem orthopädischen Gutachten vom 19. Januar 1999 vertrat Dr. med. Li. die Auffassung, daß die Klägerin aus orthopädischer Sicht noch täglich 5 Stunden arbeiten könne. In dem augenfachärztlichen Gutachten vom 6. Dezember 1999 gelangten Prof. Dr. med. Lo. und die Ärztin K. ua zu der Beurteilung, daß die Klägerin noch 18 Wochenstunden arbeiten könne, so daß ihr die derzeit ausgeübte Halbtagsbeschäftigung als Sekretärin gesundheitlich zumutbar sei; aufgrund eines Fibromyalgiesyndroms sowie einer bekannten Migräne sei die Einholung eines internistischen und eines neurologischen Gutachtens indiziert.

In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 15. Juni 2000 hat die Klägerin einen Beweisantrag gestellt und darin

"die internistisch-neurologische Untersuchung der Klägerin zum Beweis der Behauptung,

1. dass die Klägerin ihre Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen auf 18 Stunden reduzieren mußte

2. dass nur noch unter halbschichtige Tätigkeiten möglich sind

3. dass die derzeitige Beschäftigung zu Lasten der Gesundheit ausgeübt wird,"

begehrt.

Mit Urteil vom 15. Juni 2000 hat das LSG die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt worden, daß die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen wöchentlich noch 18 Stunden und damit "wenigstens halbschichtig" ihren derzeitigen Beruf als Sekretärin ausüben könne. Sie habe ihre Arbeitszeit zwar auf geringfügig weniger als halbschichtig reduziert (täglich 15 Minuten), dies sei jedoch nicht gesundheitlich bedingt gewesen; deshalb sei sie so zu behandeln als habe sie einen Halbtagsarbeitsplatz inne. Für eine weitere Sachaufklärung aufgrund der Anregung der Gutachter Prof. Dr. med. Lo. und der Ärztin K. habe kein Anlaß bestanden; die Gutachter seien offenbar im Rentenrecht nicht erfahren; die noch im Raum stehenden Diagnosen eines Spannungskopfschmerzes bzw des Verdachtes auf Fibromyalgiesyndrom könnten nicht zu wesentlich neuen Erkenntnissen bezüglich des verbliebenen Leistungsvermögens beitragen.

Auf die Beschwerde der Klägerin hat der Senat die Revision gegen das Urteil des LSG wegen eines Verfahrensmangels zugelassen (Beschluss vom 24. Juli 2001).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, daß die angefochtene Entscheidung auf einem Verfahrensfehler beruhe. Das LSG habe ihren in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht übergehen dürfen. Bei Durchführung der weiteren ärztlichen Beweisaufnahme hätte sich ergeben, daß ihr Anspruch auf Rente wegen BU begründet sei.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 2000 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 11. November 1997 zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat keinen Sachantrag gestellt.

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen unter Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Unter Zugrundelegung der bislang vom LSG getroffenen Feststellungen steht der Klägerin das geltend gemachte Recht auf eine Rente wegen BU zwar nicht zu. Das Urteil des Berufungsgerichts beruht jedoch auf einem zulässig gerügten Verfahrensmangel (§§ 162, 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Die Klägerin rügt eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Diese Rüge ist zulässig und begründet erhoben worden. Dem in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gestellten Beweisantrag ist das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

Nach § 43 Abs 1 Nr 1 SGB VI, in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, ist ua Voraussetzung, daß der Versicherte berufsunfähig ist. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist (Abs 2 Satz 1 aaO). Ist ein Versicherter im bisherigen Beruf zumindest halbschichtig einsatzfähig und hat er einen entsprechenden Arbeitsplatz inne, ist er nicht berufsunfähig (vgl ua BSG, Urteil vom 19. März 1980, 4 RJ 13/79, SozR 2200 § 1246 Nr 60).

Das LSG hat festgestellt, daß die Regelarbeitszeit im bisherigen Beruf der Klägerin als Sekretärin bei einer Vollzeitbeschäftigung 38,5 Wochenstunden beträgt und demzufolge bei einer Halbtagsbeschäftigung 19,25 Wochenstunden. Unter Würdigung der im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten hat das LSG ferner festgestellt, daß die Klägerin aus orthopädischer Sicht noch 5 Stunden täglich (= 25 Wochenstunden) und aus augenfachärztlicher Sicht noch 4 Stunden täglich (= 20 Wochenstunden) tätig sein kann und die auf ihren Wunsch vorgenommene Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 18 Stunden nicht gesundheitlich bedingt ist und zu jeder Zeit wieder aufgestockt werden kann. Da die Klägerin nach diesen Feststellungen einen ihrem bisherigen Beruf entsprechenden Arbeitsplatz inne hat, auf dem sie mehr als halbschichtig tätig sein kann, ist sie jedenfalls unter Zugrundelegung dieses Sachverhaltes nicht berufsunfähig.

Die Klägerin hat jedoch einen ordnungsgemäßen Beweisantrag gemäß § 403 ZPO gestellt. Das LSG hätte unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung, nämlich daß es darauf ankomme, ob die Klägerin halbschichtig bzw nur noch unterhalbschichtig einsatzfähig sei, die beantragte Beweiserhebung durchführen müssen. Zwar steht es grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, ob eine zusätzliche Sachaufklärung durch Einholung eines weiteren Gutachtens durchgeführt werden soll. Die Entscheidung des LSG ist aber nicht fehlerfrei ergangen, weil es sich auf der Grundlage seiner eigenen - hier maßgeblichen - Rechtsauffassung hätte gedrängt fühlen müssen, dem Antrag zu folgen.

Die Gutachter Prof. Dr. med Lo. und die Ärztin K. hatten die Einholung eines weiteren internistischen und neurologischen Gutachtens für erforderlich angesehen, um die gesundheitliche Einsatzfähigkeit der Klägerin abschließend klären zu können. Die Erwägungen des LSG sind nicht rechtsfehlerfrei. Es ist dieser Anregung der medizinischen Sachverständigen nicht gefolgt, weil es sich bei den Sachverständigen, die es selbst bestellt hatte, um "im Rentenrecht offenbar nicht erfahrene Gutachter" gehandelt habe; weshalb fehlende Erfahrungen im Rentenrecht Anlaß geben können, die medizinische Kompetenz für die Beurteilung der Notwendigkeit weiterer medizinischer Gutachten abzusprechen, ist schlechthin nicht ersichtlich. Dies steht im übrigen im Widerspruch dazu, daß das LSG ansonsten das augenfachärztliche Gutachten in vollem Umfang zugrunde gelegt hat.

Des weiteren wird nicht nachvollziehbar angegeben, worauf sich die Auffassung stützt, die Verdachtsdiagnose des Fibromyalgiesyndroms habe sich bisher nicht erhärtet. Es wird nicht mitgeteilt, welcher Sachverständige diese medizinische Schlußfolgerung vorgetragen und begründet hat oder woher die Richter die Kompetenz zur Beurteilung dieser medizinischen Frage bezogen hatten und wie dieser Sachverstand ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden ist.

Ferner ist nicht nachvollziehbar, warum das LSG meint, aufgrund der eingeholten Befundberichte auch der von den Gutachtern angegebenen Migräne keine die Leistungsfähigkeit einschränkende Bedeutung zumessen zu dürfen. Gerade weil sich nach Auffassung des LSG die Einsatzfähigkeit der Klägerin schon auf eine nur 20 Wochenstunden umfassende Tätigkeit begrenzt hatte, also nur eine geringfügige weitere Minderung der Leistungsfähigkeit das Recht auf Rente wegen BU möglicherweise begründet hätte, hätte dringender Anlaß für das LSG bestanden, den Hinweisen der Gutachter und damit dem Beweisantrag der Klägerin zu folgen.

Da der Verfahrensmangel im Revisionsverfahren nicht geheilt werden kann, ist das Urteil des LSG mit den Feststellungen, auf denen es beruht, aufzuheben und die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Rechtskraft
Aus
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