B 10 LW 7/00 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Alterssicherung der Landwirte
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 LW 7/00 R
Datum
Kategorie
Urteil

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 3. Februar 2000 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als landwirtschaftliche Unternehmerin der Versicherungspflicht unterliegt, obwohl sie nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) als Ehegatte eines Landwirts von der Versicherungspflicht befreit worden ist.

Die am 23. Mai 1942 geborene Klägerin wurde ab 1. Januar 1995 nach dem Agrarsozialreformgesetz vom 29. Juli 1994 (ASRG - BGBl I 1890) als Ehegatte eines Landwirts versicherungspflichtig. Auf ihren Antrag wurde sie mit Bescheid vom 12. Juli 1995 rückwirkend von der Versicherungspflicht befreit, weil sie vor dem 2. Januar 1945 geboren sei (§ 85 Abs 3 Satz 1 Nr 1 ALG). Nach dem Tod ihres Ehemannes übernahm sie ab 1. Mai 1999 die Bewirtschaftung des landwirtschaftlichen Betriebes. Mit Bescheid vom 7. Juli 1999 stellte die Beklagte fest, die im Juli 1995 ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht behalte auch über den 30. April 1999 hinaus Gültigkeit. Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit der Begründung, für sie bestehe nunmehr Versicherungspflicht als landwirtschaftliche Unternehmerin gemäß § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG. Die 1995 ausgesprochene Befreiung betreffe nur ihren Status als Ehegatte eines landwirtschaftlichen Unternehmers. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 1999 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte aus, die Befreiung gelte für alle Gründe einer Versicherungspflicht iS des § 1 Abs 1 ALG.

Mit Urteil vom 3. Februar 2000 hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 7. Juli 1999 idF des Widerspruchsbescheides vom 21. September 1999 verurteilt, die Versicherungspflicht der Klägerin ab 1. Mai 1999 festzustellen. Die grundsätzliche Versicherungspflicht gemäß § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Klägerin mit Bescheid vom 12. Juli 1995 gemäß § 85 Abs 3 ALG ab 1. Januar 1995 von der Versicherungspflicht befreit worden sei. Diese Befreiung beziehe sich nur auf die Versicherungspflicht als Ehegatte eines Landwirts und wirke sich auf die Versicherungspflicht wegen anderer Versicherungstatbestände nicht aus.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der vom SG zugelassenen (Sprung-) Revision. Die Befreiung nach § 85 Abs 3 ALG sei endgültig und umfassend erfolgt. Der Vorschrift komme die Bedeutung zu, einen bestimmten, exakt definierten Personenkreis von sämtlichen Rechtswirkungen des ALG auf Antrag freizustellen, insbesondere die Landwirtsehegatten, die bereits auf andere Weise Vorsorge getroffen hätten oder ersatzweise durch Privatversicherungen unverzüglich schaffen wollten. Rechtsvergleichend seien die entsprechenden Regelungen in der Krankenversicherung zu berücksichtigen. Die einmal ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht erstrecke sich dort auf alle später eintretenden Versicherungsgründe. Folge man der Ansicht des SG, so könne jeder nach § 85 Abs 3 ALG befreite Landwirtsehegatte durch Abgabe einer Erklärung zB nach § 1 Abs 3 Satz 4 ALG erneut - nunmehr nach § 1 Abs 2 ALG - versicherungspflichtig werden und den Anspruch auf Leistungen der Alterssicherung erlangen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des SG Münster vom 3. Februar 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 1999 aufgehoben und die Beklagte zur Feststellung der Versicherungspflicht ab 1. Mai 1999 verurteilt.

Die Klägerin ist seit 1. Mai 1999 versicherungspflichtig als landwirtschaftliche Unternehmerin nach § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG. Ihre - mit Bescheid vom 12. Juli 1995 erfolgte - Befreiung von der Versicherungspflicht steht dem nicht entgegen. Die Befreiung nach der Sonderregelung des § 85 Abs 3 ALG bezog sich ausschließlich auf die Versicherungspflicht als Ehegatte eines Landwirts nach § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 3 ALG und schloß den Eintritt der Versicherungspflicht als Landwirt nach § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG nicht aus.

Die einzelnen Versicherungspflichttatbestände und ihre Rechtsfolgen sind in § 1 des durch das ASRG eingeführten, zum 1. Januar 1995 in Kraft getretenen ALG differenziert geregelt. Diese Bestimmung unterscheidet deutlich zwischen der Versicherungspflicht als landwirtschaftlicher Unternehmer nach § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG und der Versicherungspflicht als Ehegatte eines Landwirts nach § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 3 ALG. Dabei ist es nicht von Bedeutung, daß in § 1 Abs 3 Satz 1 ALG der Ehegatte eines Landwirts bezüglich der Versicherungspflicht durch eine Fiktion einem Landwirt iS des Abs 2 gleichgestellt wird ("gilt als Landwirt"), während die Rechtsfolge - Versicherungspflicht - für beide Gruppen der Versicherten in § 1 Abs 1 Nr 1 ALG zusammenfassend geregelt ist. Trotz dieser redaktionellen Besonderheit handelt es sich um zwei verschiedene Versicherungspflichttatbestände. Das geht schon daraus hervor, daß die Versicherungspflicht als landwirtschaftlicher Unternehmer diejenige als Ehegatte eines Landwirts verdrängen kann, wie sich aus § 1 Abs 3 Satz 7 ALG ergibt. Betreiben nämlich beide Ehegatten das Unternehmen gemeinschaftlich, so sind nach der zuletzt genannten Bestimmung beide "Landwirte" nach § 1 Abs 2 ALG und jeder von ihnen als "Ist-Landwirt", dh als Unternehmer versicherungspflichtig. Die Versicherungspflicht des "Gilt-Landwirts" iS des § 1 Abs 3 ALG ist mithin nachrangig.

Gemäß der in § 85 Abs 3 ALG enthaltenen Übergangsvorschrift sind "Versicherte nach § 1 Abs 3" von der Versicherungspflicht ua dann befreit, wenn sie - wie die Klägerin - vor dem 2. Januar 1945 geboren sind (Abs 3 Satz 1 Nr 1) und die - auf die Klägerin ebenfalls zutreffenden - weiteren Voraussetzungen des § 85 Abs 3 Satz 2 ALG erfüllen. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, ob der Bescheid, mit dem die Befreiung ausgesprochen wird, konstitutive (rechtsgestaltende) oder nur deklaratorische (feststellende) Wirkung hat, jedenfalls hängt die Befreiung vom Antrag des versicherungspflichtigen Ehegatten ("Gilt- Landwirt" iS des § 1 Abs 3 ALG) ab. Nur diesem hat der Gesetzgeber in § 85 Abs 3 ALG ein derartiges, die Befreiung von der Versicherungspflicht bewirkendes Antragsrecht eingeräumt. Schon dieser Umstand rechtfertigt die Auslegung der Vorschrift dahin, daß sich auch die nach ihr bewirkte Befreiung nur auf die Versicherungspflicht als Ehegatte erstrecken kann.

Entgegen der Auffassung der Beklagten läßt sich auch der Gesetzesbegründung zu § 85 ALG nicht entnehmen, daß die Befreiung nach § 85 Abs 3 ALG alle Versicherungspflichttatbestände, also auch den des § 1 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 ALG, erfassen soll. Neben der allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 3 ALG wurde mit § 85 ALG eine übergangsrechtliche befristete Sonderregelung für Ehegatten geschaffen. Mit dieser Sonderregelung wurde den Ehegatten, die nach neuem Recht nunmehr der Versicherungspflicht unterworfen waren, ein Wahlrecht eingeräumt. Dabei wurde das Alter der Ehegatten und deren bereits erworbene Versorgungssituation berücksichtigt (vgl Begründung zu § 89 Abs 5 des Entwurfs des ASRG, BT-Drucks 12/5700, S 84). Die Tatsache, daß § 85 ALG - anders als § 3 ALG - die individuelle Situation der versicherungspflichtigen Ehegatten berücksichtigt, kann jedoch nicht als Argument dafür herangezogen werden, daß eine Befreiung nach § 85 Abs 3 ALG auch beim Eintreten eines anderen Versicherungspflichttatbestandes weiterwirkt. Vielmehr spricht der Umstand, daß die Versicherungspflicht nach § 1 Abs 1 Nr 1, Abs 3 ALG in § 85 ALG ausnahmsweise vom individuellen Schutzbedürfnis abhängig gemacht wurde, um für eine Übergangszeit ein Wahlrecht zu eröffnen, gerade dagegen, bei Vorliegen eines anderen Sachverhaltes diese individuelle Betrachtungsweise beizubehalten. Dies wäre auch weder mit dem Solidargedanken vereinbar noch mit dem Sinn und Zweck der Alterssicherung der Landwirte, die für landwirtschaftliche Unternehmer einen sozialen Schutz mit für den betreffenden Berufsstand angepaßten Leistungen bietet. Die Erfüllung des Versicherungspflichttatbestandes des § 1 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 ALG löst eine Beitragspflicht unabhängig von den Lebensumständen aus, insbesondere ohne Rücksicht auf eine bereits bestehende ausreichende private Vorsorge. Von ihr kann der Landwirt nur in den Grenzen der allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 3 ALG, nicht aber nach § 85 ALG befreit werden.

Hinzu kommt der Gesichtspunkt der bereits weiter oben aufgezeigten Nachrangigkeit des Versicherungspflichttatbestandes nach § 1 Abs 3 gegenüber demjenigen nach § 1 Abs 2 ALG (jeweils iVm § 1 Abs 1 Nr 1 ALG). Auch dieses Rangverhältnis der beiden Versicherungspflichttatbestände spricht gegen eine umfassende und absolute Befreiung aufgrund des § 85 Abs 3 ALG. Denn die Befreiung von einer nachrangigen Versicherungspflicht kann nicht auch die vorrangige Versicherungspflicht einschließen.

Das gilt selbst für die von der Beklagten als vergleichbar angesehenen Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese betreffen zunächst einen - auch für den Bereich des Agrarsozialrechts - unterschiedlich geregelten und einem anderen sozialen Sicherungszweck dienenden Versicherungszweig; sie eignen sich schon deswegen nicht als Maßstab für die Auslegung des ALG. Außerdem gilt dort der Grundsatz der Absolutheit der Befreiung nur aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung (§ 6 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)), für die es im Recht der landwirtschaftlichen Alterssicherung an einer Entsprechung fehlt. Aber auch nach der krankenversicherungsrechtlichen Regelung schließt die Befreiung von der Versicherungspflicht eine vorrangige Versicherungspflicht nicht aus. Der Gesetzgeber wollte mit dem "Absolutheitsgrundsatz" Mißbräuche verhindern und die uneingeschränkte Einbeziehung grundsätzlich nicht schutzbedürftiger Personengruppen in die gesetzliche Krankenversicherung verhindern (Begründung zum Gesundheits-Reformgesetz, BT-Drucks 11/2237, S 159 zu § 5 Abs 2 des Entwurfs). Aufgrund dieser Zielsetzung ist dieser Grundsatz insofern wieder einzuschränken, als die Befreiung nur eine nachrangige, allenfalls gleichrangige Versicherungspflicht ausschließt, nicht aber eine vorrangige (vgl Peters in Kasseler Komm, Stand 2000, § 6 SGB V RdNr 55).

Näher läge es, die im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung für die Befreiung von der Versicherungspflicht geltenden Grundsätze für das Recht der landwirtschaftlichen Alterssicherung zu übernehmen. Dort gilt aber der von der Beklagten angenommene Grundsatz von der Absolutheit der Befreiung gerade nicht, vielmehr sind dort voneinander unabhängige Tätigkeiten im Hinblick auf das Bestehen von Versicherungspflicht selbständig zu beurteilen, wenn nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist (vgl BSG SozR 2200 § 1227 Nr 29; BSGE 34, 205, 206 = SozR Nr 69 zu § 165 RVO mwN; Boecken in GK-SGB VI, § 6 RdNr 156 ff, 160, § 5 RdNr 111, § 2 RdNr 172; Gürtner in Kasseler Komm RdNr 4 zu § 5 SGB VI; Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 6 RdNr 79 ff). Die Befreiung ist hier tätigkeits- und nicht personenbezogen (vgl § 6 Abs 5 Satz 1 SGB VI). Das Prinzip der (nur) tätigkeitsbezogenen Befreiung in der Rentenversicherung rechtfertigt sich daraus, daß die befreiten Personen im Falle der Ausübung weiterer (rentenversicherungspflichtiger) Tätigkeiten einen zusätzlichen sozialen Schutz erwerben (vgl BT-Drucks 11/4124, S 152). Außerdem wird damit dem Grundsatz der Solidarität aller Rentenversicherungspflichtigen insofern Rechnung getragen, als es mit diesem Solidargedanken unvereinbar wäre, die Versicherungspflicht von dem Vorliegen eines individuellen Schutzbedürfnisses abhängig zu machen (Boecken in GK-SGB VI, § 6 RdNr 160; vgl Begründung zur Beschränkung der Versicherungsfreiheit, BSG SozR 2200 § 169 Nr 6; Boecken aaO, § 5 RdNr 112). Die Versicherungspflichttatbestände des § 1 Abs 2 ALG und § 1 Abs 3 ALG knüpfen - wie schon angedeutet - in ähnlicher Weise an verschiedene Sachverhalte an, die nach der Systematik des Gesetzes selbständig zu beurteilen sind.

Die von der Beklagten angenommene Gefahr, daß durch Gestaltungsmöglichkeiten der Versicherten ein jeweils aktuell günstigeres Versicherungssystem gewählt werden kann, ist gering zu veranschlagen. Zwar können die Ehegatten gemäß § 1 Abs 3 Satz 3 und 4 ALG nach Belieben erklären, welcher Ehegatte das Unternehmen als Landwirt betreibt oder daß beide Ehegatten das Unternehmen gemeinschaftlich betreiben. Für diese Erklärung gilt jedoch eine Ausschlußfrist von drei Monaten nach der Eheschließung. Danach kann ein Wechsel des Versichertenstatus nicht mehr jederzeit durch Abgabe einer entsprechenden Erklärung erfolgen, sondern setzt gemäß § 1 Abs 3 Satz 6 ALG eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen voraus. Die Wahrnehmung von Rechten, die mit dem Status als versicherungspflichtiger Landwirt verbunden sind, etwa die Beantragung von Betriebs- und Haushaltshilfe iS des §§ 36 ff ALG, kann nicht als Mißbrauch gelten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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