B 11 AL 37/01 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 37/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. November 2000 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 1. Januar 1994 bis 5. März 1996 wegen eines Wechsels der Lohnsteuerklasse und die Rückforderung überzahlter Beträge in Höhe von 5.893 DM, die die Beklagte mit Bescheid vom 14. Oktober 1996 (Widerspruchsbescheid vom 11. März 1997) geltend macht.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 29. Juli 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Änderung der Lohnsteuerklasse von III nach IV sei eine wesentliche Änderung, die die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) für eine rückwirkende Aufhebung erfülle.

Gegen das Urteil des SG hat der Kläger Berufung eingelegt. In den Gerichtsakten befindet sich ein vom Berichterstatter des Landessozialgerichts (LSG) unterschriebener Entwurf eines Schreibens an die Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 26. Juli 2000, in dem ausgeführt wird, der Kläger habe erkennen können, daß der Steuerklassenwechsel zu einer Änderung des Zahlbetrags führe. Werde die Berufung nicht zurückgenommen, so beabsichtige der Senat, die Berufung gemäß § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Heranziehung ehrenamtlicher Richter zurückzuweisen. Es werde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ein Beschluss werde nicht vor dem 20. August 2000 ergehen. Tatsächlich ist dieses Schreiben nicht dem Kläger, sondern der Beklagten übersandt worden, die auch das dem Schreiben beigefügte Empfangsbekenntnis zurückgesandt hat.

Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Beschluss vom 20. November 2000 ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter zurückgewiesen: Der Senat habe nach § 153 Abs 4 SGG über die Berufung durch Beschluss entscheiden dürfen, denn er habe sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich erachtet. Die Beteiligten hätten Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt. Im übrigen hat das LSG zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, durch den Lohnsteuerklassenwechsel sei mit Wirkung vom 1. Januar 1994 eine wesentliche Änderung eingetreten. Es lägen auch die Voraussetzungen für die Aufhebung mit Wirkung ab Änderung der Verhältnisse vor. Der Senat stimme dem SG in vollem Umfang darin zu, daß der Kläger unter besonders schwerer Sorgfaltsverletzung die Rechtswidrigkeit der weiteren Bewilligung verkannt habe.

Hiergegen richtet sich die - vom Senat zugelassene - Revision. Der Kläger rügt einen Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG und gegen Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG sowie gegen § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X iVm § 152 Abs 3 Arbeitsförderungsgesetz. Die Feststellung des LSG, die Beteiligten hätten Gelegenheit zur Stellungnahme dazu gehabt, daß das LSG nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden könne, sei unrichtig. Ein Schreiben des LSG vom 26. Juli 2000 sei aufgrund einer Verwechslung der Post zweimal an die Beklagte zugestellt worden. Dieser Sachverhalt sei durch den 12. Senat des LSG mit Schreiben vom 8. Dezember 2000 bestätigt worden. Unverzichtbare Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG sei, daß die Beteiligten vorher gehört würden (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG). Das LSG hätte sich vor seiner Entscheidung Gewißheit darüber verschaffen müssen, daß das Schreiben der Klägerseite überhaupt zugegangen sei. Es sei nicht auszuschließen, daß das Verfahren für den Kläger einen günstigeren Verlauf genommen hätte, wenn das LSG den aufgezeigten Verfahrensmangel vermieden hätte. Hätte er davon Kenntnis erlangt, daß das LSG die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte, so wäre weiterer Sachvortrag notwendig geworden. Insbesondere hätte er vorgetragen, daß eine Verpflichtung des Leistungsempfängers nicht bestehe, einen bereits lange zuvor ergangenen Bewilligungsbescheid auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Dies gelte selbst dann, wenn er über seine Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt worden sei, die abstrakte Erläuterungen über Voraussetzungen von Ansprüchen und deren Bemessung enthielten (vgl BSG Urteil vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Da die Konkretisierung des Begriffs "grobe Fahrlässigkeit" überwiegend auf tatsächlichem Gebiet liege, sei die Revision zumindest in Form der Zurückverweisung begründet.

Der Kläger beantragt,

den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. November 2000, das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 29. Juli 1999 und den Bescheid vom 14. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. März 1997 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß das LSG in der Sache zutreffend entschieden habe. Die Beklagte geht im übrigen davon aus, daß der von der Revision gerügte - und vom LSG eingeräumte - Verfahrensfehler vorliege und die Zurückverweisung der Sache allein aus diesem Grunde erfolgen werde.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Berufungsverfahren leidet an einem Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruht.

Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG (eingefügt durch Art 8 Nr 6 Buchst b des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl I, 50) kann das LSG, außer in den Fällen, in denen das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. § 153 Abs 4 Satz 2 SGG bestimmt dazu, daß die Beteiligten vorher zu hören sind. Diese Anhörungspflicht erfordert, daß der Berufungskläger über die Absicht des Gerichts informiert wird, ohne mündliche Verhandlung im Beschlussverfahren zu seinen Ungunsten zu entscheiden. Hierdurch wird den Beteiligten deutlich gemacht, daß der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 7, 9, 11). Die Anhörungsmitteilung soll den Beteiligten also die Gelegenheit geben, ggf die Gründe darzutun, deretwegen sie eine mündliche Verhandlung für sachdienlich halten.

Den Anforderungen, die nach der Rechtsprechung an eine Anhörungsmitteilung iS des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zu stellen sind (vgl hierzu BSG Urteil vom 21. Juni 2001 - B 7 AL 94/00 R - mwN), dürfte der Entwurf des Schreibens des Berichterstatters vom 26. Juli 2000 an die Prozeßbevollmächtigten des Klägers zwar genügen. Jedoch ist dieses Schreiben - wie zwischen den Beteiligten unstreitig und vom LSG ausdrücklich bestätigt worden ist - den Prozeßbevollmächtigten nicht zugegangen. Dennoch hat das LSG ohne mündliche Verhandlung und ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter entschieden.

Dieser Verfahrensfehler führt zur Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Frage, ob ein Beteiligter mit einer Verletzung des § 153 Abs 4 SGG regelmäßig, auch ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, zugleich die Besetzung des Berufungsgerichts nur mit Berufsrichtern und damit einen absoluten Revisionsgrund nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 1 Zivilprozeßordnung rügt, hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 2. Mai 2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 bejaht. Der Auffassung des 2. Senats ist zu folgen, denn eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG hat zwangsläufig zur Folge, daß das LSG ohne ehrenamtliche Richter - mithin in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung - entscheidet. Insoweit ist es auch im Ergebnis nicht unangemessen, die unwiderlegliche Vermutung des § 551 Nr 1 ZPO dafür, daß die angegriffene Entscheidung auf der Gesetzesverletzung beruht, eingreifen zu lassen, wenn das LSG durch Beschluss ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter entscheidet, ohne daß die Voraussetzungen für eine Entscheidung im Beschlussverfahren vorgelegen haben.

Das LSG hat bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden.
Rechtskraft
Aus
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