B 9 VJ 1/02 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 VJ 1/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 2001 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Kläger macht Anspruch auf Versorgung als Impfopfer geltend.

Nach erfolglosem Verwaltungs- und Vorverfahren hat das Sozialgericht Hildesheim (SG) die angegriffene Entscheidung des Beklagten (ablehnender Bescheid vom 13. Februar 1990 und Widerspruchsbescheid vom 8. September 1992) aufgehoben und festgestellt, dass die beim Kläger bestehende Polyneuropatie Folge zweier 1984 kurz hintereinander stattgehabter Tetanusimpfungen sei. Es hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1988 Beschädigtenversorgung nach dem Bundesseuchengesetz (jetzt: Infektionsschutzgesetz) zu gewähren (Urteil vom 30. November 1994). Dabei hat sich das Gericht auf ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T gestützt. Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat diese Entscheidung mit Urteil vom 26. September 1997 und - nach Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache durch das Bundessozialgericht ((BSG), Urteil vom 3. Februar 1999, SozR 3-1750 § 565 Nr 2) - erneut mit Urteil vom 22. März 2001 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es ist dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. B (mit Zusatzgutachten von Prof. Dr. M ) gefolgt, wonach ein Ursachenzusammenhang zwischen den Impfungen und jetzt beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen nicht wahrscheinlich sei.

Dem Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung am 22. März 2001 war Folgendes vorausgegangen: Mit Schreiben vom 10. Januar 2001 informierte das LSG die Beteiligten über den geplanten Termin und bat bei Bedenken dagegen um Nachricht. Dem folgte - nachdem keine Bedenken erhoben worden waren - am 20. Februar 2001 die Ladung. Darauf reagierte der Prozessbevollmächtigte des Klägers (ein in Hamburg ansässiger Rechtsanwalt) mit Schreiben vom 26. Februar 2001, in dem er mitteilte, dass "nunmehr" für den 22. März 2001 Fortsetzungsverhandlung in einem Mordverfahren anberaumt worden sei, in dem er Pflichtverteidiger sei. Er beantragte, den LSG-Termin zu verlegen. Der Vorsitzende des 10. Senats des LSG lehnte diesen Antrag mit Verfügung vom 27. Februar 2001 ab. Ein Vorrang des Termins im Strafverfahren sei nicht zu erkennen. Deshalb möge dieser Termin verschoben werden. Auch könne sich der Bevollmächtigte im LSG-Termin vertreten lassen. Mit seinem daraufhin gegen den Senatsvorsitzenden gerichteten Befangenheitsantrag vom 5. März 2001 machte der Bevollmächtigte zur Begründung eines Vorranges des Strafverfahrenstermins strafprozessuale Besonderheiten (Fortsetzungsverhandlung binnen zehn Tagen; mehrere in Haft befindliche Angeklagte) und überdies geltend, dass gerade am 22. März 2001 ein wichtiger Zeuge vernommen werden solle. Ferner wies er daraufhin, dass es in Anbetracht des Umfanges des vorliegenden Verfahrens für einen mit der Sache nicht vertrauten Anwalt unmöglich sei, sich kurzfristig einzuarbeiten. Nach Zurückweisung dieses Ablehnungsgesuchs hat das LSG am 22. März 2001 ohne den Kläger und seinen Bevollmächtigten mündlich verhandelt und entschieden.

Mit seiner - vom erkennenden Senat erneut zugelassenen - Revision rügt der Kläger ua eine Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens. Der Termin am 22. März 2001 habe in Abwesenheit des Bevollmächtigten stattgefunden, obwohl dieser durch einen anderen (vorrangigen) Gerichtstermin gehindert gewesen sei, an der Verhandlung teilzunehmen. Die aus erheblichen Gründen beantragte Terminverlegung habe das LSG verfahrensfehlerhaft abgelehnt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG vom 22. März 2001 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 30. November 1994 zurückzuweisen sowie im Wege der Anschlussberufung in Ergänzung dieses Urteils festzustellen, dass die bei ihm bestehende Polyneuropatie mit schwerer Gangstörung Schädigungsfolge iS des Bundesseuchengesetzes ist.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

II

Die Revision des Klägers ist in dem Sinne begründet, dass das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der vom Kläger formgerecht gerügte, das Berufungsurteil insgesamt betreffende Verfahrensmangel liegt vor. Das Berufungsgericht ist zu Unrecht dem Antrag des Klägers nicht gefolgt, den Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. März 2001 zu verlegen. Es hat an diesem Tage ohne den Kläger und seinen Bevollmächtigten mündlich verhandelt und entschieden; dadurch ist der Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz; § 62 SGG) verletzt worden.

Wird auf Grund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich in dieser Verhandlung zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Erhebliche Gründe, die ein Beteiligter für eine Verlegung des Termins geltend macht, eröffnen nicht nur die Möglichkeit, sie begründen vielmehr die Pflicht des Gerichts, den anberaumten Termin zu verlegen (vgl BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1; BVerwGE 96, 368; BFH/NV 1993, 105). Ein solcher Fall lag hier vor. Der Kläger hatte mit seinem Antrag vom 26. Februar 2001 (ergänzt durch seine Ausführungen im Befangenheitsgesuch vom 5. März 2001) einen erheblichen Grund iS des über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbaren § 227 Abs 1 Zivilprozessordnung für die Verlegung des Termins geltend und glaubhaft gemacht. Schon wegen der in § 229 Strafprozessordnung (StPO) geregelten verfahrensrechtlichen Besonderheiten hat eine Fortsetzungsverhandlung vor der Großen Strafkammer in einem Mordprozess ein so erhebliches Gewicht, dass nur in Ausnahmefällen andere Gerichtstermine als vorrangig eingestuft werden können. Für Letzteres gibt es hier keinen Anhaltspunkt.

Die mit der Terminkollision aufgetretenen Probleme ließen sich hier - anstelle einer Verlegung des LSG-Termins - auch nicht dadurch lösen, dass ein anderer Rechtsanwalt den Prozessbevollmächtigten des Klägers in diesem Termin vertreten hätte. Zwar wird die Terminsvertretung durch einen anderen Rechtsanwalt auch bei Alleinanwälten (wie hier) nicht von vornherein ausscheiden. Die dahingehende Aufforderung des LSG an den Prozessbevollmächtigten des Klägers wird aber unter den Umständen des vorliegenden Falles der Bedeutung der - möglichst einzigen - mündlichen Verhandlung als dem Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens ebenso wenig gerecht wie der Schwierigkeit und dem Umfang des hier zu entscheidenden Rechtstreits. Es erscheint - zumal bei den relativ niedrigen Rahmengebühren nach § 116 Abs 1 Nr 2 Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte - nahezu ausgeschlossen, in einem komplizierten Impfschadensfall einen qualifizierten Rechtsanwalt als Terminsvertreter zu gewinnen, der sich zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung mit mehreren Hundert Blatt Verfahrensakten gründlich vertraut machen muss und dabei zahlreiche medizinische Sachverständigengutachten zur Kausalitätsfrage durchzuarbeiten hat.

Die Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann zwar in der Regel nur dann erfolgreich sein, wenn zugleich angegeben wird, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist (BSGE 69, 280, 284 = SozR 3-4100 § 128a Nr 5 mwN; BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1). Obwohl das sozialgerichtliche Verfahrensrecht die Verletzung des rechtlichen Gehörs - anders als § 138 Nr 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 119 Nr 3 Finanzgerichtsordnung - nicht als absoluten Revisionsgrund geregelt hat, ist jedoch "wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung" im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung beeinflusst hat. Insoweit erübrigen sich Darlegungen des Klägers dazu, inwiefern das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (vgl zur Verletzung des § 124 SGG: BSGE 53, 83, 85 = SozR 1500 § 124 Nr 7 mwN und zu den Darlegungspflichten bei Gehörsrügen allgemein: BFHE 196, 39). Hier sind Gründe, die gegen die zu vermutende Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers für das angefochtene Urteil sprächen, nicht ersichtlich.

Der Senat verweist die Sache an das LSG Niedersachsen-Bremen zurück und nicht - wie vom Kläger beantragt - an das LSG eines anderen Bundeslandes. Ein solches Verfahren sieht das SGG nicht vor (vgl selbst zur Unanwendbarkeit des § 354 Abs 2 Satz 1 StPO - Verweisung an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung - im Rahmen des § 144 Abs 3 Nr 2 VwGO: BVerwG ZLA 1963, 106 f). Der Senat sieht auch keinen Anlass zur Verweisung an einen anderen Spruchkörper des LSG. Er teilt die Befürchtung des Klägers nicht, dass ihm vor dem 10. Senat des LSG kein faires Verfahren mehr zu Teil werden könne.

Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Rechtskraft
Aus
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