Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 51/98 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1998 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin höhere Regelaltersrente (RAR) zu gewähren ist.
Die im September 1925 geborene Klägerin gehörte von November 1952 bis Dezember 1995 der Gemeinschaft des Säkularinstituts der S. M. , Provinzialat B. (Westfalen), an. Ende 1995 schied sie dort ohne Versorgung aus. Auf ihren im Dezember 1995 gestellten Antrag wurde sie für die Zeit von März 1957 bis September 1990 nachversichert. Weiterhin wurde ihr auf ihren im selben Monat gestellten Antrag ab Dezember 1995 RAR bewilligt, bei deren Berechnung ein Zugangsfaktor von 1,0 zugrunde gelegt wurde (Bescheid vom 15. März 1996). Den hiergegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin die Berücksichtigung eines höheren Zugangsfaktors begehrte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 13. September 1996). Das Sozialgericht Münster (SG) verurteilte die Beklagte, bei der Berechnung der RAR der Klägerin gemäß § 77 Abs 2 Nr 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) einen erhöhten Zugangsfaktor zugrunde zu legen (Urteil vom 5. September 1997). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Mai 1998). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine höhere RAR. Die Voraussetzungen für eine Berechnung der RAR mit einem gemäß § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI erhöhten Zugangsfaktor seien nicht erfüllt. Dieser solle nur solchen Versicherten gewährt werden, die eine Rente nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres "nicht in Anspruch nähmen". Fälle, in denen Versicherte eine Rente deshalb nicht früher beanspruchen könnten, weil ein solcher Rentenanspruch noch nicht entstanden sei, seien von dieser Vorschrift nicht erfaßt. Die Klägerin habe im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres - im September 1990 - noch keinen Anspruch auf RAR gehabt, da sie erst auf ihren im Dezember 1995 gestellten Antrag nachversichert worden sei. Auch auf § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI könne ein Anspruch auf einen höheren Zugangsfaktor nicht gestützt werden. Zwar seien nach dieser Vorschrift im Wege der Nachversicherung geleistete Beiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge anzusehen, durch die Nachversicherung würden Rentenansprüche aber nicht rückwirkend begründet. Zweck der Nachversicherung sei es, die während der versicherungsfreien Beschäftigung bei rückschauender Betrachtung entstandene Sicherungslücke zu schließen; eine darüber hinausgehende rechtliche Wirkung komme ihr nicht zu. Der Berufungssenat schließe sich insoweit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) an (Bezug auf BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11 und SozR 5050 § 15 Nr 37). Außerdem ergebe sich aus § 96 SGB VI, daß Rente für Nachversicherte nicht zu leisten sei, solange Versorgungsbezüge gezahlt würden.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 77 und 181 ff SGB VI. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor: Aus der Formulierung des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI könne nicht der Schluß gezogen werden, eine Rente sei bei Vollendung des 65. Lebensjahres nur dann nicht in Anspruch genommen, wenn tatsächlich bereits ein Rentenanspruch bestanden habe. Vielmehr solle der Nachversicherte mit der Fiktion des § 185 SGB VI einem von Anfang an Pflichtversicherten gleichgestellt werden. Sinn und Zweck des erhöhten Zugangsfaktors sei es, die unterschiedliche Rentenbezugsdauer auszugleichen, die durch einen kürzeren Rentenbezug bzw späteren Beginn der Rente entstehe. Der Ausschluß der Rentenleistung für den Zeitraum, für den ein Anspruch auf Versorgung bestehe (§ 96 SGB VI), stehe der Berücksichtigung eines erhöhten Zugangsfaktors nicht entgegen, weil durch § 96 SGB VI nur eine Doppelversorgung ausgeschlossen werden solle.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1998 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 5. September 1997 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zugrundelegung eines höheren Zugangsfaktors. Bei Vollendung des 65. Lebensjahres habe sie die Wartezeit noch nicht erfüllt gehabt. Da somit zu diesem Zeitpunkt noch kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestanden habe, habe die Klägerin auch nicht auf ihr zustehende Rentenleistungen verzichtet. Der Anspruch auf Rente sei vielmehr gemäß § 96 SGB VI - solange die Klägerin gegenüber dem Träger des Ordens einen Anspruch auf Versorgung gehabt habe - ausgeschlossen gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die Höhe der RAR der Klägerin wurde zutreffend unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 berechnet.
Der Anspruch der Klägerin auf RAR richtet sich nach § 35 SGB VI in der zur Zeit der Antragstellung im Dezember 1995 geltenden Fassung (§ 300 Abs 1 und 2 SGB VI). § 35 SGB VI setzt die Vollendung des 65. Lebensjahres und die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren voraus (§ 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Diese Voraussetzungen lagen im Zeitpunkt der Stellung des Rentenantrages vor. Die Klägerin hat im September 1990 das 65. Lebensjahr vollendet. Die Wartezeit hat sie dadurch erfüllt, daß sie aufgrund des im Dezember 1995 gestellten Antrags gemäß § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI für mehr als fünf Jahre nachversichert worden ist und Nachversicherte gemäß § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VI den Personen gleichstehen, die versicherungspflichtig sind. Die nachentrichteten Beiträge gelten als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge (§ 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI).
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn (1) die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, (2) der Rentenartfaktor und (3) der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden (§ 64 SGB VI). Die Bestimmung des hier allein streitigen Zugangsfaktors ist in § 77 SGB VI geregelt: Nach Abs 1 dieser Vorschrift richtet er sich nach dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente zu berücksichtigen sind (Satz 1). Entgeltpunkte werden bei Renten wegen Alters, die mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres beginnen, in vollem Umfang berücksichtigt (Zugangsfaktor 1,0), es sei denn, sie waren bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer vorzeitig in Anspruch genommenen Rente wegen Alters oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten (Satz 2 Nr 3). Nach Abs 2 der Vorschrift ist der Zugangsfaktor bei Entgeltpunkten, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente wegen Alters waren, für jeden Kalendermonat, für den Versicherte (1) eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch nehmen, um 0,003 niedriger, (2) nach Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente wegen Alters trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch nehmen, um 0,005 höher als 1,0.
Der für die RAR der Klägerin maßgebliche Zugangsfaktor von 1,0 bestimmt sich allein nach § 77 Abs 1 SGB VI. Zu Unrecht beruft sich die Klägerin für die Zugrundelegung eines höheren Zugangsfaktors auf die Regelung in § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI. Vordergründig kann sich die Klägerin für ihre Ansicht auf den Wortlaut des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI stützen, wonach diese Vorschrift auch so gelesen werden kann, daß es allein darauf ankommt, ob trotz erfüllter Wartezeit eine Rente wegen Alters nach der Vollendung des 65. Lebensjahres bezogen worden ist oder nicht. Tatsächlich hat die Klägerin eine Rente wegen Alters in diesem Sinne nicht vor Dezember 1995 "in Anspruch genommen". Eine an der Gesetzessystematik und an Sinn und Zweck des § 77 SGB VI orientierte Auslegung, die die Rechtsentwicklung und die Gesetzesbegründung berücksichtigt, kann jedoch allein das Ergebnis haben, daß § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI nicht iS der Klägerin verstanden werden kann, sondern voraussetzt, daß nach der Vollendung des 65. Lebensjahres ein realisierbarer Anspruch auf Altersrente bestanden haben muß. Nur der Versicherte, der nach Erfüllung aller Voraussetzungen die Altersrente tatsächlich beziehen könnte, sie aber noch nicht in Anspruch nimmt, soll bei späterer Inanspruchnahme der Altersrente in den Genuß des erhöhten Zugangsfaktors nach § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI kommen.
Für diese Auslegung läßt sich zunächst die enge Verbindung zwischen § 77 Abs 2 SGB VI und § 63 Abs 5 SGB VI anführen. In der letztgenannten Vorschrift wird der Grundsatz aufgestellt, daß bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente oder bei (zeitweiligem) Verzicht auf eine Altersrente nach dem 65. Lebensjahr die Vorteile oder Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen versicherungsmathematischen Zu- oder Abschlag (Zugangsfaktor) vermieden werden sollen (vgl Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNrn 2, 13; VerbKomm, § 77 SGB VI Anm 3.1; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 8, 13). Der Umsetzung dieses Grundsatzes dient § 77 Abs 2 SGB VI (vgl Stahl in Hauck, SGB VI, § 63 RdNrn 1, 16). Dies spricht dafür, den Wortlaut des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI " ... eine Rente ... nicht in Anspruch nehmen ..." in dem Sinne zu verstehen, daß auf die - mögliche - Inanspruchnahme verzichtet wird, der Rentenversicherungsträger eine Leistung mithin nicht gewähren muß, obwohl - bis auf den Antrag - alle Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Besteht dagegen trotz Vollendung des 65. Lebensjahres noch kein realisierbarer Anspruch auf Altersrente, kann auf diese von dem Versicherten nicht "verzichtet" werden.
Des weiteren spricht die Gesetzesentwicklung dafür, daß ein erhöhter Zugangsfaktor nur dann in Betracht kommt, wenn im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres ein Anspruch auf Rente bestand und dieser nicht wahrgenommen wurde. § 77 SGB VI entspricht vom Ansatz her § 1254 Abs 1a und 1b der Reichsversicherungsordnung (RVO) (vgl auch § 31 Abs 1a und 1b des Angestelltenversicherungsgesetzes; § 53 Abs 4a und 4b des Reichsknappschaftsgesetzes). Diese Vorschriften, die ihre maßgebende Fassung durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) erhielten, sahen bei späterer Inanspruchnahme der Altersrente erstmals einen Ausgleich durch Gewährung eines Rentenzuschlags vor. Der Wortlaut des § 1254 Abs 1a RVO stellte ausdrücklich darauf ab, daß das Altersruhegeld (ARG) "nach Erfüllung der Voraussetzungen" nicht in Anspruch genommen wurde. Überdies begrenzte § 1254 Abs 1a RVO den Zeitraum für die Nichtinanspruchnahme einer Rente bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres. Weiter war Voraussetzung, daß für die Zeit des Rentenverzichts Beiträge gezahlt werden mußten (vgl zur damaligen Rechtslage insbesondere Maier/Heller in Berliner Komm, § 77 SGB VI RdNrn 3, 5; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 15; VerbKomm, § 77 SGB VI Anm 3.3; Schulin in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 281; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 5 ff).
Daß ein Rentenzuschlag nach der damaligen Rechtslage nur möglich war, wenn die Voraussetzungen für das ARG im Zeitpunkt der möglichen Inanspruchnahme erfüllt waren, wurde auch ausdrücklich in den Gesetzesmaterialien zum RRG 1972 betont. Dort heißt es, die Ergänzung des § 1254 RVO über die Gewährung von Zuschlägen an Versicherte betreffe die Fälle, in denen trotz Erfüllens der Voraussetzungen für den Bezug eines ARG von der Möglichkeit des ARG-Bezuges kein Gebrauch gemacht worden sei, so daß der Zuschlag für Zeiten gewährt werde, in denen der Versicherte auf den ARG-Bezug verzichte und weiterhin Beiträge entrichte (zu BT-Drucks VI/3767 S 7, 14).
Die durch das RRG 1972 geänderten Vorschriften des § 1254 RVO wurden durch das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (4. RVÄndG) vom 30. März 1973 (BGBl I S 257) rückwirkend modifiziert (Art 1 § 1 Nr 2 Buchst a, Art 2 §§ 2, 4; vgl dazu auch Niemeyer/Schenke, BArbBl 1973, 141), doch blieb es bei der Gesetzesformulierung, daß das ARG "nach Erfüllung der Voraussetzungen" nicht in Anspruch genommen worden sein mußte. Auch aus der Gesetzesbegründung zum 4. RVÄndG ergibt sich, daß sich insoweit gegenüber der früheren Rechtslage nichts ändern sollte; denn Bemessungsgrundlage für den Zuschlag sollte der Jahresbetrag des ARG sein, auf den der Versicherte im Zeitpunkt der Erfüllung der Voraussetzungen Anspruch gehabt hätte (BT-Drucks 7/3 S 6).
Die zu § 1254 RVO ergangene Rechtsprechung ging ebenfalls davon aus, daß die Gewährung des Rentenzuschlags nach altem Recht - entsprechend seinem Charakter als Anreiz und Entschädigung für einen zeitweisen Verzicht auf das ARG - die Erfüllung der Voraussetzungen für den Bezug von ARG und dessen Nichtinanspruchnahme voraussetzte (BSG SozR 2200 § 1254 Nr 5). Demnach mußte nach altem Recht ein "realisierbarer" Anspruch auf Altersrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres, also eine Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Beginns der Rente, bestanden haben (BSGE 65, 53 f = SozR 2200 § 1254 Nr 8). Diese Auffassung wurde auch von der Literatur geteilt (vgl zB Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Bd 2, § 1254 RVO Anm V.1).
An diese Rechtslage knüpft § 77 SGB VI, eingeführt durch das RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261) und in Kraft ab 1. Januar 1992 (Art 85 Abs 1 RRG 1992), im Grunde an. Nach der allgemeinen Begründung des Gesetzesentwurfs sollen Versicherte für Zeiten nach Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Inanspruchnahme ihrer Altersrente verzichten können (BT-Drucks 11/4124 S 144 zu VII), was voraussetzt, daß eine Inanspruchnahme nach Erfüllung aller Voraussetzungen möglich ist. Unmißverständlicher noch heißt es in der Begründung zu § 77 SGB VI: "Der Zugangsfaktor ist grundsätzlich 1,0. Er ist kleiner, wenn der Versicherte eine Altersrente vor der für ihn maßgeblichen Altersgrenze in Anspruch nimmt, er ist größer bei Hinausschieben einer möglichen Altersrente über das 65. Lebensjahr hinaus" (BT-Drucks 11/4124 S 172 zu § 76). Demzufolge ist der Gesetzgeber offenkundig davon ausgegangen, daß die Inanspruchnahme von RAR "möglich" sein muß, was nur der Fall sein kann, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen haben.
Für dieses Ergebnis sprechen auch Sinn und Zweck des § 77 Abs 2 SGB VI. Diese Vorschrift steht in Zusammenhang mit der durch das RRG 1992 ebenfalls erfolgten Anhebung der Altersgrenzen nach den §§ 36, 38, 39 SGB VI auf die Regelaltersgrenze von 65 Jahren und der gleichzeitigen Flexibilisierung dieser Altersgrenzen, dh der dem Versicherten eingeräumten Möglichkeit, die Altersrente bis zu drei Jahren vor der für ihn maßgebenden Altersgrenze in Anspruch zu nehmen (vgl von Einem in Gesamtkomm, § 77 SGB VI Anm 2), und regelt den Zugangsfaktor, durch den das Alter des Versicherten beim Rentenzugang in die Rentenberechnung einfließt. Gemäß § 66 Abs 1 SGB VI wird der Zugangsfaktor bei der Rentenberechnung berücksichtigt, indem er mit der Summe der ermittelten Entgeltpunkte multipliziert wird. Erst durch die Multiplikation mit dem Zugangsfaktor wird die Summe der Entgeltpunkte zu persönlichen Entgeltpunkten, die ihrerseits ein Faktor der Rentenformel (§ 64 SGB VI) sind. Je nach dem, ob der Zugangsfaktor größer oder kleiner als 1,0 ist, errechnen sich aus der Summe der Entgeltpunkte mehr oder weniger persönliche Entgeltpunkte und dementsprechend höhere oder niedrigere Renten (vgl auch Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNr 4).
Bei der Rentenreform 1972, mit der das sog flexible ARG eingeführt wurde, hatte man aufgrund zu optimistischer Schätzungen der weiteren finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung darauf verzichtet, versicherungsmathematische Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Leistung vorzusehen. Die Höhe der einzelnen Altersrente war zwar insofern beitragsgerecht, als sie - grundsätzlich - von der erbrachten Beitragsleistung abhing; nicht beitragsgerecht war aber die Rentensumme für die Altersrenten, weil bei der Berechnung das jeweilige Lebensalter bei Rentenbeginn und damit die unterschiedliche zu erwartende Rentenlaufzeit nicht beachtet wurde. Dies sollte mit dem RRG 1992 im Hinblick auf die Systemfremdheit der alten Regelung und die demographische Entwicklung geändert werden (vgl näher Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 1 mit Nachweisen zum Diskussions- und Referentenentwurf eines RRG 1992).
Entscheidend ist somit - im Gegensatz zur Auffassung der Klägerin - der Einsparungseffekt ab Erfüllung der Voraussetzungen für den Rentenanspruch, nicht ab Vollendung des 65. Lebensjahres. Dies folgt letztlich auch aus der Beitragsbezogenheit der Rente (Schulin in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 258). Wenn ein Versicherter keinen Anspruch auf Rente hat, kann schließlich keine Ersparnis an Rente für den Versicherungsträger vorliegen. Zwar ist die Regelung des § 77 Abs 2 SGB VI auch dann anwendbar, wenn die Wartezeit erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt wird; doch können dann für die Erhöhung des Zugangsfaktors nur die Monate berücksichtigt werden, die nach der Erfüllung der Wartezeit und vor dem Rentenbeginn liegen (Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNr 14).
Die Auffassung, daß ein Anspruch auf den erhöhten Zugangsfaktor nach der Vollendung des 65. Lebensjahres nur dann besteht, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch auf ARG vorlagen, wird im übrigen von der überwiegenden Meinung in der Literatur geteilt (vgl Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNr 14; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 14; Eicher/Haase/ Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Komm, § 77 SGB VI Anm 3b; Schulin in Schulin, in Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 281; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 14, 16; Seiter in Gemeinschaftskomm, § 77 SGB VI RdNrn 12, 14; Maier/Heller in Berliner Komm, § 77 SGB VI RdNr 6).
Anders als in § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI verlangt, fehlt es bei der Klägerin an der Voraussetzung, daß sie "nach Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente wegen Alters trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch" genommen hat. Aufgrund der durchgeführten Nachversicherung hat die Klägerin zwar bei der Antragstellung auf RAR im Dezember 1995 die Wartezeit erfüllt, dies traf aber nicht bereits im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres bzw vor Stellung des Antrags auf Nachversicherung zu. Die in § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VI geregelte Gleichstellung von Nachversicherten mit Pflichtversicherten beinhaltet keine Fiktion für die Vergangenheit. Eine Gleichstellung mit echten Beitragszeiten wird nur für die Zukunft bewirkt (vgl BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11) und kann deshalb keine Ansprüche für die Zeit vor der Nachentrichtung der Beiträge begründen. Die Klägerin, die ursprünglich versicherungsfrei war (§ 5 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI), hat mit ihrem Ausscheiden aus der Gemeinschaft des Säkularinstituts ihren Anspruch auf Versorgung gegenüber dieser Einrichtung verloren. Erst mit der Verpflichtung zur Nachentrichtung von Beiträgen wurde zwischen ihr und der Beklagten ein Versicherungsverhältnis begründet; nicht etwa wurde ihre versicherungsfreie Beschäftigung nachträglich in eine versicherungspflichtige umgewandelt (BSGE 1, 219, 221 f; BSGE 11, 278, 285 = SozR Nr 1 zu Art 2 § 4 AnVNG). Demzufolge war die Klägerin im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert und konnte zu diesem Zeitpunkt keine Rentenansprüche aus der Rentenversicherung haben.
Aus § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI, wonach die im Rahmen der Nachversicherung gezahlten Beiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge gelten, folgt nichts anderes. Die in § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI normierte gesetzliche Fiktion bedeutet, daß die Nachversicherungsbeiträge so zu behandeln sind, als wären sie in dem Zeitraum rechtzeitig gezahlt worden, für den die Nachversicherung durchgeführt wurde. Dies hat nur zur Folge, daß im Rahmen der Rentenberechnung nachversicherte Entgelte nach dem "Für-Prinzip" des § 70 Abs 1 SGB VI abgegolten werden (vgl hierzu VerbKomm, § 185 SGB VI RdNr 6). Zweck der Nachversicherung ist es, Personen, die im Hinblick auf eine anderweitige Versorgung in ihrer Beschäftigung vormals versicherungsfrei waren, eine soziale Sicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung in der Weise zu verschaffen, daß sie für die Zukunft so gestellt werden, als wären sie versicherungspflichtig beschäftigt gewesen (BSG SozR 3-2200 § 1402 Nr 1; BSGE 76, 267, 272 = SozR 3-2200 § 1232 Nr 5; BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11).
Schließlich ergibt sich, worauf das LSG bereits hingewiesen hat, auch aus § 96 SGB VI, daß die Klägerin vor Dezember 1995 keinen Anspruch auf RAR haben konnte, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt noch Versorgungsbezüge erhalten hatte.
Da nach alledem die Voraussetzungen des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI nicht gegeben sind, ist bei der Rentenberechnung der Klägerin zu Recht der Zugangsfaktor 1,0 gemäß dem in § 77 Abs 1 SGB VI normierten Regelfall zugrunde gelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin höhere Regelaltersrente (RAR) zu gewähren ist.
Die im September 1925 geborene Klägerin gehörte von November 1952 bis Dezember 1995 der Gemeinschaft des Säkularinstituts der S. M. , Provinzialat B. (Westfalen), an. Ende 1995 schied sie dort ohne Versorgung aus. Auf ihren im Dezember 1995 gestellten Antrag wurde sie für die Zeit von März 1957 bis September 1990 nachversichert. Weiterhin wurde ihr auf ihren im selben Monat gestellten Antrag ab Dezember 1995 RAR bewilligt, bei deren Berechnung ein Zugangsfaktor von 1,0 zugrunde gelegt wurde (Bescheid vom 15. März 1996). Den hiergegen eingelegten Widerspruch, mit dem die Klägerin die Berücksichtigung eines höheren Zugangsfaktors begehrte, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 13. September 1996). Das Sozialgericht Münster (SG) verurteilte die Beklagte, bei der Berechnung der RAR der Klägerin gemäß § 77 Abs 2 Nr 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) einen erhöhten Zugangsfaktor zugrunde zu legen (Urteil vom 5. September 1997). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Mai 1998). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine höhere RAR. Die Voraussetzungen für eine Berechnung der RAR mit einem gemäß § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI erhöhten Zugangsfaktor seien nicht erfüllt. Dieser solle nur solchen Versicherten gewährt werden, die eine Rente nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres "nicht in Anspruch nähmen". Fälle, in denen Versicherte eine Rente deshalb nicht früher beanspruchen könnten, weil ein solcher Rentenanspruch noch nicht entstanden sei, seien von dieser Vorschrift nicht erfaßt. Die Klägerin habe im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres - im September 1990 - noch keinen Anspruch auf RAR gehabt, da sie erst auf ihren im Dezember 1995 gestellten Antrag nachversichert worden sei. Auch auf § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI könne ein Anspruch auf einen höheren Zugangsfaktor nicht gestützt werden. Zwar seien nach dieser Vorschrift im Wege der Nachversicherung geleistete Beiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge anzusehen, durch die Nachversicherung würden Rentenansprüche aber nicht rückwirkend begründet. Zweck der Nachversicherung sei es, die während der versicherungsfreien Beschäftigung bei rückschauender Betrachtung entstandene Sicherungslücke zu schließen; eine darüber hinausgehende rechtliche Wirkung komme ihr nicht zu. Der Berufungssenat schließe sich insoweit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) an (Bezug auf BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11 und SozR 5050 § 15 Nr 37). Außerdem ergebe sich aus § 96 SGB VI, daß Rente für Nachversicherte nicht zu leisten sei, solange Versorgungsbezüge gezahlt würden.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 77 und 181 ff SGB VI. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor: Aus der Formulierung des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI könne nicht der Schluß gezogen werden, eine Rente sei bei Vollendung des 65. Lebensjahres nur dann nicht in Anspruch genommen, wenn tatsächlich bereits ein Rentenanspruch bestanden habe. Vielmehr solle der Nachversicherte mit der Fiktion des § 185 SGB VI einem von Anfang an Pflichtversicherten gleichgestellt werden. Sinn und Zweck des erhöhten Zugangsfaktors sei es, die unterschiedliche Rentenbezugsdauer auszugleichen, die durch einen kürzeren Rentenbezug bzw späteren Beginn der Rente entstehe. Der Ausschluß der Rentenleistung für den Zeitraum, für den ein Anspruch auf Versorgung bestehe (§ 96 SGB VI), stehe der Berücksichtigung eines erhöhten Zugangsfaktors nicht entgegen, weil durch § 96 SGB VI nur eine Doppelversorgung ausgeschlossen werden solle.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Mai 1998 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 5. September 1997 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zugrundelegung eines höheren Zugangsfaktors. Bei Vollendung des 65. Lebensjahres habe sie die Wartezeit noch nicht erfüllt gehabt. Da somit zu diesem Zeitpunkt noch kein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestanden habe, habe die Klägerin auch nicht auf ihr zustehende Rentenleistungen verzichtet. Der Anspruch auf Rente sei vielmehr gemäß § 96 SGB VI - solange die Klägerin gegenüber dem Träger des Ordens einen Anspruch auf Versorgung gehabt habe - ausgeschlossen gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Die Höhe der RAR der Klägerin wurde zutreffend unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 berechnet.
Der Anspruch der Klägerin auf RAR richtet sich nach § 35 SGB VI in der zur Zeit der Antragstellung im Dezember 1995 geltenden Fassung (§ 300 Abs 1 und 2 SGB VI). § 35 SGB VI setzt die Vollendung des 65. Lebensjahres und die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren voraus (§ 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI). Diese Voraussetzungen lagen im Zeitpunkt der Stellung des Rentenantrages vor. Die Klägerin hat im September 1990 das 65. Lebensjahr vollendet. Die Wartezeit hat sie dadurch erfüllt, daß sie aufgrund des im Dezember 1995 gestellten Antrags gemäß § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI für mehr als fünf Jahre nachversichert worden ist und Nachversicherte gemäß § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VI den Personen gleichstehen, die versicherungspflichtig sind. Die nachentrichteten Beiträge gelten als rechtzeitig entrichtete Pflichtbeiträge (§ 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI).
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn (1) die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, (2) der Rentenartfaktor und (3) der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden (§ 64 SGB VI). Die Bestimmung des hier allein streitigen Zugangsfaktors ist in § 77 SGB VI geregelt: Nach Abs 1 dieser Vorschrift richtet er sich nach dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente zu berücksichtigen sind (Satz 1). Entgeltpunkte werden bei Renten wegen Alters, die mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres beginnen, in vollem Umfang berücksichtigt (Zugangsfaktor 1,0), es sei denn, sie waren bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer vorzeitig in Anspruch genommenen Rente wegen Alters oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten (Satz 2 Nr 3). Nach Abs 2 der Vorschrift ist der Zugangsfaktor bei Entgeltpunkten, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente wegen Alters waren, für jeden Kalendermonat, für den Versicherte (1) eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch nehmen, um 0,003 niedriger, (2) nach Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente wegen Alters trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch nehmen, um 0,005 höher als 1,0.
Der für die RAR der Klägerin maßgebliche Zugangsfaktor von 1,0 bestimmt sich allein nach § 77 Abs 1 SGB VI. Zu Unrecht beruft sich die Klägerin für die Zugrundelegung eines höheren Zugangsfaktors auf die Regelung in § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI. Vordergründig kann sich die Klägerin für ihre Ansicht auf den Wortlaut des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI stützen, wonach diese Vorschrift auch so gelesen werden kann, daß es allein darauf ankommt, ob trotz erfüllter Wartezeit eine Rente wegen Alters nach der Vollendung des 65. Lebensjahres bezogen worden ist oder nicht. Tatsächlich hat die Klägerin eine Rente wegen Alters in diesem Sinne nicht vor Dezember 1995 "in Anspruch genommen". Eine an der Gesetzessystematik und an Sinn und Zweck des § 77 SGB VI orientierte Auslegung, die die Rechtsentwicklung und die Gesetzesbegründung berücksichtigt, kann jedoch allein das Ergebnis haben, daß § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI nicht iS der Klägerin verstanden werden kann, sondern voraussetzt, daß nach der Vollendung des 65. Lebensjahres ein realisierbarer Anspruch auf Altersrente bestanden haben muß. Nur der Versicherte, der nach Erfüllung aller Voraussetzungen die Altersrente tatsächlich beziehen könnte, sie aber noch nicht in Anspruch nimmt, soll bei späterer Inanspruchnahme der Altersrente in den Genuß des erhöhten Zugangsfaktors nach § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI kommen.
Für diese Auslegung läßt sich zunächst die enge Verbindung zwischen § 77 Abs 2 SGB VI und § 63 Abs 5 SGB VI anführen. In der letztgenannten Vorschrift wird der Grundsatz aufgestellt, daß bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente oder bei (zeitweiligem) Verzicht auf eine Altersrente nach dem 65. Lebensjahr die Vorteile oder Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen versicherungsmathematischen Zu- oder Abschlag (Zugangsfaktor) vermieden werden sollen (vgl Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNrn 2, 13; VerbKomm, § 77 SGB VI Anm 3.1; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 8, 13). Der Umsetzung dieses Grundsatzes dient § 77 Abs 2 SGB VI (vgl Stahl in Hauck, SGB VI, § 63 RdNrn 1, 16). Dies spricht dafür, den Wortlaut des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI " ... eine Rente ... nicht in Anspruch nehmen ..." in dem Sinne zu verstehen, daß auf die - mögliche - Inanspruchnahme verzichtet wird, der Rentenversicherungsträger eine Leistung mithin nicht gewähren muß, obwohl - bis auf den Antrag - alle Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Besteht dagegen trotz Vollendung des 65. Lebensjahres noch kein realisierbarer Anspruch auf Altersrente, kann auf diese von dem Versicherten nicht "verzichtet" werden.
Des weiteren spricht die Gesetzesentwicklung dafür, daß ein erhöhter Zugangsfaktor nur dann in Betracht kommt, wenn im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres ein Anspruch auf Rente bestand und dieser nicht wahrgenommen wurde. § 77 SGB VI entspricht vom Ansatz her § 1254 Abs 1a und 1b der Reichsversicherungsordnung (RVO) (vgl auch § 31 Abs 1a und 1b des Angestelltenversicherungsgesetzes; § 53 Abs 4a und 4b des Reichsknappschaftsgesetzes). Diese Vorschriften, die ihre maßgebende Fassung durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) erhielten, sahen bei späterer Inanspruchnahme der Altersrente erstmals einen Ausgleich durch Gewährung eines Rentenzuschlags vor. Der Wortlaut des § 1254 Abs 1a RVO stellte ausdrücklich darauf ab, daß das Altersruhegeld (ARG) "nach Erfüllung der Voraussetzungen" nicht in Anspruch genommen wurde. Überdies begrenzte § 1254 Abs 1a RVO den Zeitraum für die Nichtinanspruchnahme einer Rente bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres. Weiter war Voraussetzung, daß für die Zeit des Rentenverzichts Beiträge gezahlt werden mußten (vgl zur damaligen Rechtslage insbesondere Maier/Heller in Berliner Komm, § 77 SGB VI RdNrn 3, 5; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 15; VerbKomm, § 77 SGB VI Anm 3.3; Schulin in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 281; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 5 ff).
Daß ein Rentenzuschlag nach der damaligen Rechtslage nur möglich war, wenn die Voraussetzungen für das ARG im Zeitpunkt der möglichen Inanspruchnahme erfüllt waren, wurde auch ausdrücklich in den Gesetzesmaterialien zum RRG 1972 betont. Dort heißt es, die Ergänzung des § 1254 RVO über die Gewährung von Zuschlägen an Versicherte betreffe die Fälle, in denen trotz Erfüllens der Voraussetzungen für den Bezug eines ARG von der Möglichkeit des ARG-Bezuges kein Gebrauch gemacht worden sei, so daß der Zuschlag für Zeiten gewährt werde, in denen der Versicherte auf den ARG-Bezug verzichte und weiterhin Beiträge entrichte (zu BT-Drucks VI/3767 S 7, 14).
Die durch das RRG 1972 geänderten Vorschriften des § 1254 RVO wurden durch das Vierte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (4. RVÄndG) vom 30. März 1973 (BGBl I S 257) rückwirkend modifiziert (Art 1 § 1 Nr 2 Buchst a, Art 2 §§ 2, 4; vgl dazu auch Niemeyer/Schenke, BArbBl 1973, 141), doch blieb es bei der Gesetzesformulierung, daß das ARG "nach Erfüllung der Voraussetzungen" nicht in Anspruch genommen worden sein mußte. Auch aus der Gesetzesbegründung zum 4. RVÄndG ergibt sich, daß sich insoweit gegenüber der früheren Rechtslage nichts ändern sollte; denn Bemessungsgrundlage für den Zuschlag sollte der Jahresbetrag des ARG sein, auf den der Versicherte im Zeitpunkt der Erfüllung der Voraussetzungen Anspruch gehabt hätte (BT-Drucks 7/3 S 6).
Die zu § 1254 RVO ergangene Rechtsprechung ging ebenfalls davon aus, daß die Gewährung des Rentenzuschlags nach altem Recht - entsprechend seinem Charakter als Anreiz und Entschädigung für einen zeitweisen Verzicht auf das ARG - die Erfüllung der Voraussetzungen für den Bezug von ARG und dessen Nichtinanspruchnahme voraussetzte (BSG SozR 2200 § 1254 Nr 5). Demnach mußte nach altem Recht ein "realisierbarer" Anspruch auf Altersrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres, also eine Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Beginns der Rente, bestanden haben (BSGE 65, 53 f = SozR 2200 § 1254 Nr 8). Diese Auffassung wurde auch von der Literatur geteilt (vgl zB Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Bd 2, § 1254 RVO Anm V.1).
An diese Rechtslage knüpft § 77 SGB VI, eingeführt durch das RRG 1992 vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261) und in Kraft ab 1. Januar 1992 (Art 85 Abs 1 RRG 1992), im Grunde an. Nach der allgemeinen Begründung des Gesetzesentwurfs sollen Versicherte für Zeiten nach Vollendung des 65. Lebensjahres auf die Inanspruchnahme ihrer Altersrente verzichten können (BT-Drucks 11/4124 S 144 zu VII), was voraussetzt, daß eine Inanspruchnahme nach Erfüllung aller Voraussetzungen möglich ist. Unmißverständlicher noch heißt es in der Begründung zu § 77 SGB VI: "Der Zugangsfaktor ist grundsätzlich 1,0. Er ist kleiner, wenn der Versicherte eine Altersrente vor der für ihn maßgeblichen Altersgrenze in Anspruch nimmt, er ist größer bei Hinausschieben einer möglichen Altersrente über das 65. Lebensjahr hinaus" (BT-Drucks 11/4124 S 172 zu § 76). Demzufolge ist der Gesetzgeber offenkundig davon ausgegangen, daß die Inanspruchnahme von RAR "möglich" sein muß, was nur der Fall sein kann, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen haben.
Für dieses Ergebnis sprechen auch Sinn und Zweck des § 77 Abs 2 SGB VI. Diese Vorschrift steht in Zusammenhang mit der durch das RRG 1992 ebenfalls erfolgten Anhebung der Altersgrenzen nach den §§ 36, 38, 39 SGB VI auf die Regelaltersgrenze von 65 Jahren und der gleichzeitigen Flexibilisierung dieser Altersgrenzen, dh der dem Versicherten eingeräumten Möglichkeit, die Altersrente bis zu drei Jahren vor der für ihn maßgebenden Altersgrenze in Anspruch zu nehmen (vgl von Einem in Gesamtkomm, § 77 SGB VI Anm 2), und regelt den Zugangsfaktor, durch den das Alter des Versicherten beim Rentenzugang in die Rentenberechnung einfließt. Gemäß § 66 Abs 1 SGB VI wird der Zugangsfaktor bei der Rentenberechnung berücksichtigt, indem er mit der Summe der ermittelten Entgeltpunkte multipliziert wird. Erst durch die Multiplikation mit dem Zugangsfaktor wird die Summe der Entgeltpunkte zu persönlichen Entgeltpunkten, die ihrerseits ein Faktor der Rentenformel (§ 64 SGB VI) sind. Je nach dem, ob der Zugangsfaktor größer oder kleiner als 1,0 ist, errechnen sich aus der Summe der Entgeltpunkte mehr oder weniger persönliche Entgeltpunkte und dementsprechend höhere oder niedrigere Renten (vgl auch Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNr 4).
Bei der Rentenreform 1972, mit der das sog flexible ARG eingeführt wurde, hatte man aufgrund zu optimistischer Schätzungen der weiteren finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung darauf verzichtet, versicherungsmathematische Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Leistung vorzusehen. Die Höhe der einzelnen Altersrente war zwar insofern beitragsgerecht, als sie - grundsätzlich - von der erbrachten Beitragsleistung abhing; nicht beitragsgerecht war aber die Rentensumme für die Altersrenten, weil bei der Berechnung das jeweilige Lebensalter bei Rentenbeginn und damit die unterschiedliche zu erwartende Rentenlaufzeit nicht beachtet wurde. Dies sollte mit dem RRG 1992 im Hinblick auf die Systemfremdheit der alten Regelung und die demographische Entwicklung geändert werden (vgl näher Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 1 mit Nachweisen zum Diskussions- und Referentenentwurf eines RRG 1992).
Entscheidend ist somit - im Gegensatz zur Auffassung der Klägerin - der Einsparungseffekt ab Erfüllung der Voraussetzungen für den Rentenanspruch, nicht ab Vollendung des 65. Lebensjahres. Dies folgt letztlich auch aus der Beitragsbezogenheit der Rente (Schulin in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 258). Wenn ein Versicherter keinen Anspruch auf Rente hat, kann schließlich keine Ersparnis an Rente für den Versicherungsträger vorliegen. Zwar ist die Regelung des § 77 Abs 2 SGB VI auch dann anwendbar, wenn die Wartezeit erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt wird; doch können dann für die Erhöhung des Zugangsfaktors nur die Monate berücksichtigt werden, die nach der Erfüllung der Wartezeit und vor dem Rentenbeginn liegen (Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNr 14).
Die Auffassung, daß ein Anspruch auf den erhöhten Zugangsfaktor nach der Vollendung des 65. Lebensjahres nur dann besteht, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch auf ARG vorlagen, wird im übrigen von der überwiegenden Meinung in der Literatur geteilt (vgl Niesel in Kasseler Komm, § 77 SGB VI RdNr 14; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, 3. Aufl, § 77 SGB VI RdNr 14; Eicher/Haase/ Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Komm, § 77 SGB VI Anm 3b; Schulin in Schulin, in Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 3, Rentenversicherung, § 38 RdNr 281; Stahl in Hauck, SGB VI, § 77 RdNrn 14, 16; Seiter in Gemeinschaftskomm, § 77 SGB VI RdNrn 12, 14; Maier/Heller in Berliner Komm, § 77 SGB VI RdNr 6).
Anders als in § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI verlangt, fehlt es bei der Klägerin an der Voraussetzung, daß sie "nach Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente wegen Alters trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch" genommen hat. Aufgrund der durchgeführten Nachversicherung hat die Klägerin zwar bei der Antragstellung auf RAR im Dezember 1995 die Wartezeit erfüllt, dies traf aber nicht bereits im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres bzw vor Stellung des Antrags auf Nachversicherung zu. Die in § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VI geregelte Gleichstellung von Nachversicherten mit Pflichtversicherten beinhaltet keine Fiktion für die Vergangenheit. Eine Gleichstellung mit echten Beitragszeiten wird nur für die Zukunft bewirkt (vgl BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11) und kann deshalb keine Ansprüche für die Zeit vor der Nachentrichtung der Beiträge begründen. Die Klägerin, die ursprünglich versicherungsfrei war (§ 5 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI), hat mit ihrem Ausscheiden aus der Gemeinschaft des Säkularinstituts ihren Anspruch auf Versorgung gegenüber dieser Einrichtung verloren. Erst mit der Verpflichtung zur Nachentrichtung von Beiträgen wurde zwischen ihr und der Beklagten ein Versicherungsverhältnis begründet; nicht etwa wurde ihre versicherungsfreie Beschäftigung nachträglich in eine versicherungspflichtige umgewandelt (BSGE 1, 219, 221 f; BSGE 11, 278, 285 = SozR Nr 1 zu Art 2 § 4 AnVNG). Demzufolge war die Klägerin im Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert und konnte zu diesem Zeitpunkt keine Rentenansprüche aus der Rentenversicherung haben.
Aus § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI, wonach die im Rahmen der Nachversicherung gezahlten Beiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge gelten, folgt nichts anderes. Die in § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI normierte gesetzliche Fiktion bedeutet, daß die Nachversicherungsbeiträge so zu behandeln sind, als wären sie in dem Zeitraum rechtzeitig gezahlt worden, für den die Nachversicherung durchgeführt wurde. Dies hat nur zur Folge, daß im Rahmen der Rentenberechnung nachversicherte Entgelte nach dem "Für-Prinzip" des § 70 Abs 1 SGB VI abgegolten werden (vgl hierzu VerbKomm, § 185 SGB VI RdNr 6). Zweck der Nachversicherung ist es, Personen, die im Hinblick auf eine anderweitige Versorgung in ihrer Beschäftigung vormals versicherungsfrei waren, eine soziale Sicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung in der Weise zu verschaffen, daß sie für die Zukunft so gestellt werden, als wären sie versicherungspflichtig beschäftigt gewesen (BSG SozR 3-2200 § 1402 Nr 1; BSGE 76, 267, 272 = SozR 3-2200 § 1232 Nr 5; BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 11).
Schließlich ergibt sich, worauf das LSG bereits hingewiesen hat, auch aus § 96 SGB VI, daß die Klägerin vor Dezember 1995 keinen Anspruch auf RAR haben konnte, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt noch Versorgungsbezüge erhalten hatte.
Da nach alledem die Voraussetzungen des § 77 Abs 2 Nr 2 SGB VI nicht gegeben sind, ist bei der Rentenberechnung der Klägerin zu Recht der Zugangsfaktor 1,0 gemäß dem in § 77 Abs 1 SGB VI normierten Regelfall zugrunde gelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved