Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 1/00 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. November 1999 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG" entziehen durfte.
Zuletzt stellte der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin im Jahr 1986 mit 40 fest. Nach einem im Februar 1991 erlittenen Arbeitsunfall, bei dem sich die Klägerin das linke Bein verletzte, beantragte sie im November 1991 die Neufeststellung des GdB. Nach Einholung eines Befundberichts und Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen, stellte der Beklagte mit "Vorbehaltsbescheid" vom 10. Juli 1992 einen Gesamt-GdB von 80 fest und erkannte der Klägerin außerdem die Merkzeichen "B" (Erforderlichkeit einer ständigen Begleitung), "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) zu. Die Ermittlungen der Berufsgenossenschaft (BG) wegen des Arbeitsunfalls vom Februar 1991 waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und daher noch nicht berücksichtigt worden. Nach Abschluß dieser Ermittlungen bezeichnete der Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 1995 die Behinderung neu, verminderte den Gesamt-GdB auf 60 und beließ der Klägerin lediglich das Merkzeichen "G". Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Klägerin Klage.
Während des Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) erging am 3. Mai 1999 ein Bescheid, durch den eine weitere Gesundheitsstörung mit einem GdB von 10 und das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B" festgestellt wurden.
Das SG hat der Klage insoweit stattgegeben als der Beklagte den Nachteilsausgleich "aG" entzogen hat. Soweit der GdB streitig war, hat die Klägerin die Klage zurückgenommen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 22. Mai 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1996 und des Abhilfebescheides vom 3. Mai 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei seit Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 nicht mehr außergewöhnlich gehbehindert. Die angefochtenen Bescheide seien entgegen der Auffassung des SG nicht deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Die Klägerin habe im Hinblick auf den "Vorbehaltsbescheid" zur Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht angehört werden müssen, denn sie sei bereits in dem Vorbehaltsbescheid darauf hingewiesen worden, daß sich eine Änderung der rechtlichen Bewertung auch bezüglich des Nachteilsausgleichs "aG" aufgrund der ihr bekannten Feststellungen der BG ergeben könne. Die Feststellung der Arbeitsunfallfolgen und der Höhe der MdE durch die BG hätten den Beklagten gebunden. Wenngleich dies nach § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) nicht für das Verfahren der Zuerkennung von Nachteilsausgleichen gelte, sei hier auch die Entscheidung über die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nach dem eindeutigen Bescheidtext unter Vorbehalt erfolgt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und legt dar, der Beklagte sei gehalten gewesen, sie vor Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 anzuhören. Denn sie habe sich nicht zu den entscheidungserheblichen Fragen äußern können. Der Beklagte habe seiner Entscheidung über den Entzug des Nachteilsausgleichs "aG" Tatsachen aus einem gänzlich anderen Verwaltungsverfahren zugrunde gelegt. In dem Bescheid vom 22. Mai 1995 sei nur angegeben "Arbeitsunfallfolgen linkes Bein". Dies betreffe nur einen Teilbereich für die Feststellung des GdB, nicht aber die für die Revisionsentscheidung wesentlichen Tatsachen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. November 1999 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision hat Erfolg. Der Beklagte durfte der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG" nicht entziehen. Die angefochtenen Bescheide waren, soweit sie den Nachteilsausgleich "aG" betreffen, wegen eines Mangels des Verwaltungsverfahrens aufzuheben.
1. Nach § 42 Sätze 1 und 2 SGB X kann derjenige, demgegenüber ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung beanspruchen, sofern die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und auch bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§§ 78 ff SGG) nicht nachgeholt worden ist. Der Beklagte hat durch den Bescheid vom 22. Mai 1995 in die Rechte der Klägerin eingegriffen, indem er ihr den mit bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 10. Juli 1992 zuerkannten Nachteilsausgleich "aG" entzogen und den ebenfalls zuerkannten GdB herabgesetzt hat. In die Rechte eines Beteiligten wird bereits dann eingegriffen, wenn die Verwaltungsentscheidung den Rechtskreis des Betroffenen beeinträchtigt (vgl die Begründung zur Vorgängervorschrift des § 24 SGB X - § 34 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) - in BT-Drucks 7/868 zu § 34). Das ist hier der Fall. Nach Zuerkennung des Merkzeichens "aG" konnte die Klägerin dieses in den Schwerbehindertenausweis eintragen lassen (§ 3 Ausweisverordnung zum SchwbG) und die damit verbundenen Vergünstigungen steuerlicher und verkehrsrechtlicher Art, zB die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer und Ausnahmen von Park- und Halteverbotvorschriften (vgl näher Bürck, ZfS 1998, 97, 102 ff) in Anspruch nehmen.
Der Annahme, daß der Beklagte in die Rechte der Klägerin eingegriffen hat, steht nicht entgegen, daß ihr der Nachteilsausgleich lediglich mit einem Vorbehaltsbescheid nach § 22 Abs 4 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV) iVm § 4 SchwbG gewährt worden ist und sich dieser Bescheid mit Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 erledigt hat (§ 39 Abs 2 SGB X, vgl Senatsurteil vom 16. Juni 1999 - B 9 V 4/99 R, unveröffentlicht sowie BSGE 67, 104, 109 f = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 und BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 4). Vorbehaltsbescheide nach § 22 Abs 4 VfG-KOV schaffen als vorläufige Verwaltungsakte zwar nur für einen begrenzten Zeitraum Rechtssicherheit und Rechtswirkungen zwischen den Beteiligten, und der Berechtigte kann auf ihre Regelung nur bis zum Erlaß des abschließenden Bescheides vertrauen. Auch ihre Bindungswirkung (§ 77 SGG) ist von vornherein auf den Zeitraum bis zum Erlaß des endgültigen Bescheides begrenzt. Gleichwohl muß die durch den Vorbehaltsbescheid geschaffene Rechtsposition als ein "eingriffsfähiges" Recht angesehen werden. Denn nach der Rechtsprechung sind iS von § 24 SGB X selbst vorläufige, noch nicht voll verfestigte Positionen, die zB auf einem noch nicht unanfechtbar gewordenen Bescheid beruhen, eingriffsfähige Rechte (vgl BSG SozR 1200 § 34 Nr 8 S 38). Ferner ist anerkannt, daß Bescheide, die eine vorläufige Rente entziehen und zugleich die Gewährung einer Dauerrente ablehnen, oder sie niedriger als die vorläufige Rente festsetzen, in Rechte des Versicherten eingreifen (vgl BSG SozR 1200 § 34 Nrn 3, 4, 6, 9, 12). Für den Eingriff in den Rechtskreis des Betroffenen ist nicht entscheidend, auf welche Weise die gewährte Rechtsposition untergeht. Maßgeblich ist allein, daß durch einen neuen Bescheid die gleiche Rechtsfolge eintritt, wie wenn der Beklagte gewährte Rechte durch ausdrücklichen Entziehungsbescheid aberkennt.
2. Der Beklagte hätte der Klägerin gemäß § 24 Abs 1 SGB X Gelegenheit geben müssen, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Die Vorschrift dient der Wahrung und Betonung des rechtlichen Gehörs und soll Beteiligte nicht nur vor Überraschungsentscheidungen und vor vorschnellen Eingriffen schützen, sondern vor allem auch das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Behörden stärken (vgl hierzu die Senatsurteile vom 25. März 1999 - B 9 SB 14/97 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 14 und vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 15 mwN sowie BSGE 69, 247 ff = SozR 3-1300 § 24 Nr 4). Außerdem soll die Verwaltung vor Erlaß des Verwaltungsaktes anhand der Stellungnahme des Betroffenen prüfen können, ob Veranlassung besteht, von dem Verwaltungsakt abzusehen oder ihn erst nach weiteren Ermittlungen, in anderer Form oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erlassen (vgl Senatsurteil vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R aaO). Der Betroffene kann sich jedoch nur sachgemäß äußern, wenn ihm die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen von der Behörde unterbreitet werden (vgl hierzu BSGE 69, 247, 251 f sowie Senatsurteil vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R aaO).
Entgegen der Auffassung des LSG durfte der Beklagte nicht von der Anhörung der Klägerin absehen. Bei den entscheidungserheblichen Tatsachen, zu denen die Klägerin sich hätte äußern können, handelte es sich nicht um solche, die in gleicher oder ähnlicher Weise bereits im berufsgenossenschaftlichen Verfahren der Klägerin aufgetreten sind oder hätten auftreten können. Dies gilt nicht nur für die Feststellung und Herabsetzung des GdB, sondern vor allem bezüglich des allein noch zu beurteilenden Entzugs des Nachteilsausgleichs "aG". Die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen im Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII (§§ 8, 56 Abs 1 und 2)) zur Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Gewährung einer Rente sind andere als zur Feststellung des GdB nach §§ 3, 4 SchwbG. Dies gilt insbesondere, wenn - wie hier - der GdB unter Berücksichtigung verschiedener Funktionsbeeinträchtigungen gebildet werden muß.
Die Zuerkennung oder Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" ist im Unfallversicherungsrecht nicht geregelt. Diese Entscheidung wird auch nicht durch die nach unfallversicherungsrechtlichen Bestimmungen zu treffende Feststellung der MdE präjudiziert. Dem steht § 4 Abs 2 SchwbG nicht entgegen. Zwar hat die Versorgungsverwaltung davon abzusehen, eigene Ermittlungen durchzuführen, wenn bereits ein anderer Leistungsträger eine Gesundheitsstörung oder Behinderung und den Grad der durch sie hervorgerufenen MdE in einem Rentenbescheid oder einer sonstigen Verwaltungsentscheidung festgestellt hat. Dies gilt auch im Verhältnis zwischen einer BG als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und einem Versorgungsträger, obwohl die Maßstäbe zur Bestimmung der MdE bzw des GdB teilweise voneinander abweichen (vgl § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz, § 3 Abs 3 SchwbG sowie Cramer, SchwbG-Komm, 5. Aufl 1998, § 4 RdNr 11). Für die Feststellung des Gesamt-GdB war der unfallbedingte Beinschaden der Klägerin nur eine Einsatzgröße (vgl zur Bildung des Gesamt-GdB BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 19). Im übrigen bot die Kenntnis von den für die Bewertung der MdE im berufsgenossenschaftlichen Verfahren maßgeblichen Umständen keine ausreichende Basis, sich zur beabsichtigten Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" sachgerecht zu äußern. Ob einem Schwerbehinderten der Nachteilsausgleich "aG" zusteht, richtet sich nach § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz iVm § 11 II 1 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung ergangenen Verwaltungsvorschriften vom 22. Juli 1976 (BAnz 1976 Nr 142 S 3) iVm den jeweils geltenden AHP (vgl AHP 1996 Nr 27 (4); vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nrn 22 und 23). Der Nachteilsausgleichs "aG" ist anzuerkennen, wenn die Fortbewegung auf das schwerste durch die Behinderung beim Gehen eingeschränkt ist und die Auswirkungen der Gehstörungen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung denen der in den Verwaltungsverfahren genannten Vergleichsgruppen entsprechen (ua Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen ...). Für die unfallversicherungsrechtliche MdE-Bewertung und die Entscheidung über das Merkzeichen "aG" sind somit unterschiedliche Kriterien von Bedeutung.
Die Verletzung der Anhörungspflicht durch den Beklagten ist nicht nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X als geheilt anzusehen. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn entweder der Bescheid vom 22. Mai 1995 ausreichende Hinweise zur Sach- und Rechtslage der Entziehung des Merkzeichens "aG" enthalten oder aber der Beklagte die Klägerin auf andere Weise über die rechtserheblichen Umstände informiert hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Der Bescheid vom 22. Mai 1995 enthält nur den Hinweis, daß bei der Bildung des Gesamt-GdB die "Arbeitsunfallfolgen linkes Bein" zu berücksichtigen seien. Zur Entziehung des Merkmals "aG" fehlt jedoch jede Begründung.
Der Senat konnte offenlassen, ob die Versorgungsverwaltung den Vorbehaltsbescheid - so wie geschehen - erlassen durfte. Selbst wenn dies nicht zulässig gewesen sein sollte, stellt der mit seinem Erlaß bindend gewordene Bescheid gleichwohl eine ausreichende Basis für die Begründung von Rechten dar, in die erst nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betroffenen eingegriffen werden durfte. Insoweit unterscheidet sich ein rechtswidriger Vorbehaltsbescheid nicht von einem sonstigen begünstigenden Verwaltungsakt, der im Widerspruch zu einer Rechtsvorschrift erlassen worden ist. Beide können, weil ihre Rücknahme in Rechte des Begünstigten eingreift, nur nach Anhörung des Betroffenen aufgehoben werden (vgl dazu BSG SozR 1300 § 45 Nr 12; BSGE 81, 156, 158 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG" entziehen durfte.
Zuletzt stellte der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin im Jahr 1986 mit 40 fest. Nach einem im Februar 1991 erlittenen Arbeitsunfall, bei dem sich die Klägerin das linke Bein verletzte, beantragte sie im November 1991 die Neufeststellung des GdB. Nach Einholung eines Befundberichts und Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen, stellte der Beklagte mit "Vorbehaltsbescheid" vom 10. Juli 1992 einen Gesamt-GdB von 80 fest und erkannte der Klägerin außerdem die Merkzeichen "B" (Erforderlichkeit einer ständigen Begleitung), "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) zu. Die Ermittlungen der Berufsgenossenschaft (BG) wegen des Arbeitsunfalls vom Februar 1991 waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen und daher noch nicht berücksichtigt worden. Nach Abschluß dieser Ermittlungen bezeichnete der Beklagte mit Bescheid vom 22. Mai 1995 die Behinderung neu, verminderte den Gesamt-GdB auf 60 und beließ der Klägerin lediglich das Merkzeichen "G". Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Klägerin Klage.
Während des Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) erging am 3. Mai 1999 ein Bescheid, durch den eine weitere Gesundheitsstörung mit einem GdB von 10 und das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B" festgestellt wurden.
Das SG hat der Klage insoweit stattgegeben als der Beklagte den Nachteilsausgleich "aG" entzogen hat. Soweit der GdB streitig war, hat die Klägerin die Klage zurückgenommen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 22. Mai 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 28. Oktober 1996 und des Abhilfebescheides vom 3. Mai 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin sei seit Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 nicht mehr außergewöhnlich gehbehindert. Die angefochtenen Bescheide seien entgegen der Auffassung des SG nicht deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Die Klägerin habe im Hinblick auf den "Vorbehaltsbescheid" zur Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht angehört werden müssen, denn sie sei bereits in dem Vorbehaltsbescheid darauf hingewiesen worden, daß sich eine Änderung der rechtlichen Bewertung auch bezüglich des Nachteilsausgleichs "aG" aufgrund der ihr bekannten Feststellungen der BG ergeben könne. Die Feststellung der Arbeitsunfallfolgen und der Höhe der MdE durch die BG hätten den Beklagten gebunden. Wenngleich dies nach § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) nicht für das Verfahren der Zuerkennung von Nachteilsausgleichen gelte, sei hier auch die Entscheidung über die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nach dem eindeutigen Bescheidtext unter Vorbehalt erfolgt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und legt dar, der Beklagte sei gehalten gewesen, sie vor Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 anzuhören. Denn sie habe sich nicht zu den entscheidungserheblichen Fragen äußern können. Der Beklagte habe seiner Entscheidung über den Entzug des Nachteilsausgleichs "aG" Tatsachen aus einem gänzlich anderen Verwaltungsverfahren zugrunde gelegt. In dem Bescheid vom 22. Mai 1995 sei nur angegeben "Arbeitsunfallfolgen linkes Bein". Dies betreffe nur einen Teilbereich für die Feststellung des GdB, nicht aber die für die Revisionsentscheidung wesentlichen Tatsachen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. November 1999 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 29. Juni 1999 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.
II
Die Revision hat Erfolg. Der Beklagte durfte der Klägerin den Nachteilsausgleich "aG" nicht entziehen. Die angefochtenen Bescheide waren, soweit sie den Nachteilsausgleich "aG" betreffen, wegen eines Mangels des Verwaltungsverfahrens aufzuheben.
1. Nach § 42 Sätze 1 und 2 SGB X kann derjenige, demgegenüber ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung beanspruchen, sofern die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und auch bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§§ 78 ff SGG) nicht nachgeholt worden ist. Der Beklagte hat durch den Bescheid vom 22. Mai 1995 in die Rechte der Klägerin eingegriffen, indem er ihr den mit bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 10. Juli 1992 zuerkannten Nachteilsausgleich "aG" entzogen und den ebenfalls zuerkannten GdB herabgesetzt hat. In die Rechte eines Beteiligten wird bereits dann eingegriffen, wenn die Verwaltungsentscheidung den Rechtskreis des Betroffenen beeinträchtigt (vgl die Begründung zur Vorgängervorschrift des § 24 SGB X - § 34 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) - in BT-Drucks 7/868 zu § 34). Das ist hier der Fall. Nach Zuerkennung des Merkzeichens "aG" konnte die Klägerin dieses in den Schwerbehindertenausweis eintragen lassen (§ 3 Ausweisverordnung zum SchwbG) und die damit verbundenen Vergünstigungen steuerlicher und verkehrsrechtlicher Art, zB die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer und Ausnahmen von Park- und Halteverbotvorschriften (vgl näher Bürck, ZfS 1998, 97, 102 ff) in Anspruch nehmen.
Der Annahme, daß der Beklagte in die Rechte der Klägerin eingegriffen hat, steht nicht entgegen, daß ihr der Nachteilsausgleich lediglich mit einem Vorbehaltsbescheid nach § 22 Abs 4 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VfG-KOV) iVm § 4 SchwbG gewährt worden ist und sich dieser Bescheid mit Erlaß des Bescheides vom 22. Mai 1995 erledigt hat (§ 39 Abs 2 SGB X, vgl Senatsurteil vom 16. Juni 1999 - B 9 V 4/99 R, unveröffentlicht sowie BSGE 67, 104, 109 f = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 und BSG SozR 3-1300 § 32 Nr 4). Vorbehaltsbescheide nach § 22 Abs 4 VfG-KOV schaffen als vorläufige Verwaltungsakte zwar nur für einen begrenzten Zeitraum Rechtssicherheit und Rechtswirkungen zwischen den Beteiligten, und der Berechtigte kann auf ihre Regelung nur bis zum Erlaß des abschließenden Bescheides vertrauen. Auch ihre Bindungswirkung (§ 77 SGG) ist von vornherein auf den Zeitraum bis zum Erlaß des endgültigen Bescheides begrenzt. Gleichwohl muß die durch den Vorbehaltsbescheid geschaffene Rechtsposition als ein "eingriffsfähiges" Recht angesehen werden. Denn nach der Rechtsprechung sind iS von § 24 SGB X selbst vorläufige, noch nicht voll verfestigte Positionen, die zB auf einem noch nicht unanfechtbar gewordenen Bescheid beruhen, eingriffsfähige Rechte (vgl BSG SozR 1200 § 34 Nr 8 S 38). Ferner ist anerkannt, daß Bescheide, die eine vorläufige Rente entziehen und zugleich die Gewährung einer Dauerrente ablehnen, oder sie niedriger als die vorläufige Rente festsetzen, in Rechte des Versicherten eingreifen (vgl BSG SozR 1200 § 34 Nrn 3, 4, 6, 9, 12). Für den Eingriff in den Rechtskreis des Betroffenen ist nicht entscheidend, auf welche Weise die gewährte Rechtsposition untergeht. Maßgeblich ist allein, daß durch einen neuen Bescheid die gleiche Rechtsfolge eintritt, wie wenn der Beklagte gewährte Rechte durch ausdrücklichen Entziehungsbescheid aberkennt.
2. Der Beklagte hätte der Klägerin gemäß § 24 Abs 1 SGB X Gelegenheit geben müssen, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Die Vorschrift dient der Wahrung und Betonung des rechtlichen Gehörs und soll Beteiligte nicht nur vor Überraschungsentscheidungen und vor vorschnellen Eingriffen schützen, sondern vor allem auch das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Behörden stärken (vgl hierzu die Senatsurteile vom 25. März 1999 - B 9 SB 14/97 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 14 und vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 15 mwN sowie BSGE 69, 247 ff = SozR 3-1300 § 24 Nr 4). Außerdem soll die Verwaltung vor Erlaß des Verwaltungsaktes anhand der Stellungnahme des Betroffenen prüfen können, ob Veranlassung besteht, von dem Verwaltungsakt abzusehen oder ihn erst nach weiteren Ermittlungen, in anderer Form oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erlassen (vgl Senatsurteil vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R aaO). Der Betroffene kann sich jedoch nur sachgemäß äußern, wenn ihm die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen von der Behörde unterbreitet werden (vgl hierzu BSGE 69, 247, 251 f sowie Senatsurteil vom 28. April 1999 - B 9 SB 5/98 R aaO).
Entgegen der Auffassung des LSG durfte der Beklagte nicht von der Anhörung der Klägerin absehen. Bei den entscheidungserheblichen Tatsachen, zu denen die Klägerin sich hätte äußern können, handelte es sich nicht um solche, die in gleicher oder ähnlicher Weise bereits im berufsgenossenschaftlichen Verfahren der Klägerin aufgetreten sind oder hätten auftreten können. Dies gilt nicht nur für die Feststellung und Herabsetzung des GdB, sondern vor allem bezüglich des allein noch zu beurteilenden Entzugs des Nachteilsausgleichs "aG". Die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen im Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII (§§ 8, 56 Abs 1 und 2)) zur Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Gewährung einer Rente sind andere als zur Feststellung des GdB nach §§ 3, 4 SchwbG. Dies gilt insbesondere, wenn - wie hier - der GdB unter Berücksichtigung verschiedener Funktionsbeeinträchtigungen gebildet werden muß.
Die Zuerkennung oder Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" ist im Unfallversicherungsrecht nicht geregelt. Diese Entscheidung wird auch nicht durch die nach unfallversicherungsrechtlichen Bestimmungen zu treffende Feststellung der MdE präjudiziert. Dem steht § 4 Abs 2 SchwbG nicht entgegen. Zwar hat die Versorgungsverwaltung davon abzusehen, eigene Ermittlungen durchzuführen, wenn bereits ein anderer Leistungsträger eine Gesundheitsstörung oder Behinderung und den Grad der durch sie hervorgerufenen MdE in einem Rentenbescheid oder einer sonstigen Verwaltungsentscheidung festgestellt hat. Dies gilt auch im Verhältnis zwischen einer BG als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und einem Versorgungsträger, obwohl die Maßstäbe zur Bestimmung der MdE bzw des GdB teilweise voneinander abweichen (vgl § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz, § 3 Abs 3 SchwbG sowie Cramer, SchwbG-Komm, 5. Aufl 1998, § 4 RdNr 11). Für die Feststellung des Gesamt-GdB war der unfallbedingte Beinschaden der Klägerin nur eine Einsatzgröße (vgl zur Bildung des Gesamt-GdB BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 19). Im übrigen bot die Kenntnis von den für die Bewertung der MdE im berufsgenossenschaftlichen Verfahren maßgeblichen Umständen keine ausreichende Basis, sich zur beabsichtigten Entziehung des Nachteilsausgleichs "aG" sachgerecht zu äußern. Ob einem Schwerbehinderten der Nachteilsausgleich "aG" zusteht, richtet sich nach § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz iVm § 11 II 1 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung ergangenen Verwaltungsvorschriften vom 22. Juli 1976 (BAnz 1976 Nr 142 S 3) iVm den jeweils geltenden AHP (vgl AHP 1996 Nr 27 (4); vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nrn 22 und 23). Der Nachteilsausgleichs "aG" ist anzuerkennen, wenn die Fortbewegung auf das schwerste durch die Behinderung beim Gehen eingeschränkt ist und die Auswirkungen der Gehstörungen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung denen der in den Verwaltungsverfahren genannten Vergleichsgruppen entsprechen (ua Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen ...). Für die unfallversicherungsrechtliche MdE-Bewertung und die Entscheidung über das Merkzeichen "aG" sind somit unterschiedliche Kriterien von Bedeutung.
Die Verletzung der Anhörungspflicht durch den Beklagten ist nicht nach § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X als geheilt anzusehen. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn entweder der Bescheid vom 22. Mai 1995 ausreichende Hinweise zur Sach- und Rechtslage der Entziehung des Merkzeichens "aG" enthalten oder aber der Beklagte die Klägerin auf andere Weise über die rechtserheblichen Umstände informiert hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Der Bescheid vom 22. Mai 1995 enthält nur den Hinweis, daß bei der Bildung des Gesamt-GdB die "Arbeitsunfallfolgen linkes Bein" zu berücksichtigen seien. Zur Entziehung des Merkmals "aG" fehlt jedoch jede Begründung.
Der Senat konnte offenlassen, ob die Versorgungsverwaltung den Vorbehaltsbescheid - so wie geschehen - erlassen durfte. Selbst wenn dies nicht zulässig gewesen sein sollte, stellt der mit seinem Erlaß bindend gewordene Bescheid gleichwohl eine ausreichende Basis für die Begründung von Rechten dar, in die erst nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betroffenen eingegriffen werden durfte. Insoweit unterscheidet sich ein rechtswidriger Vorbehaltsbescheid nicht von einem sonstigen begünstigenden Verwaltungsakt, der im Widerspruch zu einer Rechtsvorschrift erlassen worden ist. Beide können, weil ihre Rücknahme in Rechte des Begünstigten eingreift, nur nach Anhörung des Betroffenen aufgehoben werden (vgl dazu BSG SozR 1300 § 45 Nr 12; BSGE 81, 156, 158 = SozR 3-1300 § 45 Nr 37).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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