L 6 RA 112/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 19 An 1170/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 6 RA 112/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 1998 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung einer Waisenrente aus der Versicherung des W.

Die Klägerin, geboren 1985 in M., ist das Stiefkind des Versicherten. Der Versicherte - geboren 1915 - heiratete 1984 in Berlin eine Frau (1945 geboren in M.), die die Klägerin 1992 als Kind annahm. Bereits seit 1987 lebte die Klägerin in der Wohnung des Versicherten und seiner Ehefrau. Der Versicherte befand sich vom 20. Mai bis zum 20. Juni 1996 in stationärer Behandlung im H.-Krankenhaus B., wo er wegen "zunehmender Schwäche" aufgenommen wurde und in einem deutlich reduzierten Allgemeinzustand "nach mehreren Schlaganfällen" (Bericht vom 10. Juli 1996) war. Im ärztlichen Gutachten zur Pflegebedürftigkeit am 18. Juni 1996 heißt es, dass mit einer Besserung der Pflegebedürftigkeit - Stufe II - nicht zu rechnen sei. Er wurde anschließend in den Senioren-Wohnpark E. verlegt, wo er am ... September 1996 verstarb. Seit dem 21. Juni 1996 war er in diesem Seniorenheim polizeilich gemeldet. Er bezog von der Beklagten eine Altersrente von 2.196,26 DM monatlich (Rentenanpassung zum 1. Juli 1996) sowie eine Rente der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder von zuletzt 604,97 DM monatlich. Laut Schreiben der Betriebskrankenkasse Berlin vom 3. September 1999 bekam er Pflegegeld der Stufe II seit April 1995 (800,- DM im Monat).

Im Oktober 1996 beantragte die Mutter Waisenrente für die Klägerin. Mit Bescheid vom 20. November 1996 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab und führte zur Begründung aus, sie könne als Stiefkind keine Waisenrente erhalten, weil "keine häusliche Gemeinschaft zwischen dem Versicherten und dem Kind" zum Zeitpunkt des Todes bestanden habe. Im Widerspruchsverfahren trug die Mutter der Klägerin vor, die Klägerin sei 1987 nach Deutschland in die eheliche Wohnung gekommen, sie hätten vom Einkommen des Versicherten gelebt, sie selbst sei seit 1990 nicht mehr berufstätig gewesen. Der Versicherte sei bis Juni 1996 auch in der gemeinsamen Wohnung gemeldet und wohnhaft gewesen, und erst durch die Verschlimmerung seines Leidens sei es ihr nicht mehr möglich gewesen, ihn alleine zu pflegen. Der Wechsel ins Seniorenheim sei aufgrund des Gesundheitszustandes notwendig geworden. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 1997 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, Anspruchsvoraussetzung für die Waisenrente an Stiefkinder sei ausschließlich die "Haushaltsaufnahme". Unter dem Begriff der Aufnahme in den Haushalt verstehe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Eingliederung in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis familienhafter Art, die nicht notwendig die volle, überwiegende oder wesentliche Unterhaltsgewährung mit einschließe. Von einem solchen Betreuungs- und Erziehungsverhältnis könne ab 21. Juni 1996 nicht mehr gesprochen werden, als der Versicherte in das Pflegeheim verlegt worden sei, wo er auch polizeilich gemeldet gewesen sei.

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen: Ihre Mutter und sie lebten seit über 110 Monaten mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt, so dass die drei Monate im Pflegeheim nicht die häusliche Gemeinschaft hätten aufheben können. Gemeinsam hätten sie auch bis zum Tode des Versicherten von dessen Rente gelebt; die polizeiliche Ummeldung sei auf Betreiben des Pflegeheimes vorgenommen worden, um die Zahlung durch Sozialamt und Krankenkasse sicherzustellen. Die Klägerin hat beantragt, den Bescheid vom 20. November 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Halbwaisenrente ab 1. Oktober 1996 zu gewähren.

Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 23. März 1998 der Klägerin nach § 48 Abs. 3 Nr. 1 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) die begehrte Rente zugesprochen. Das Tatbestandsmerkmal des gemeinsamen Haushalts sei trotz des dreimonatigen Pflegeheimaufenthaltes des Versicherten noch erfüllt. Neben dem im Pflegeheim begründeten neuen Lebensmittelpunkt des Versicherten habe sein bisheriger Lebensmittelpunkt mit seiner Ehefrau und der Klägerin fortbestanden. Der Umstand, dass allein das Krankenhaus die Verlegung in ein Pflegeheim veranlasst habe, könne keine Aufhebung des Lebensmittelpunktes in der ehelichen Wohnung herbeiführen. Obwohl im vorliegenden Fall eine Verbesserung des Gesundheitszustandes des Versicherten wohl nicht zu erwarten gewesen sei, könne dennoch aufgrund der Kürze des Aufenthaltes im Pflegeheim nicht von einer Aufhebung der Haushaltsaufnahme ausgegangen werden. Es sei unbeachtlich, dass der Versicherte nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Klägerin zu betreuen und ihr praktische Fürsorge zukommen zu lassen, denn dazu wäre er auch, falls er weiterhin zu Hause gepflegt worden wäre, gesundheitlich nicht fähig gewesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie trägt vor: Es komme beim Tatbestandsmerkmal der Haushaltsaufnahme auf das Bestehen einer Familiengemeinschaft an, die eine Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Fürsorge, Begründung eines familienhaften Bandes) darstelle. Auch wenn diese drei Kriterien - die in der Person des Versicherten erfüllt sein müßten - in enger Beziehung zueinander stünden und sich teilweise überschnitten, dürfe keines gänzlich fehlen. Im vorliegenden Fall sei durch finanzielle Leistung des Versicherten bis zum Tode ein Kriterium erfüllt worden, es fehle jedoch aufgrund der Unterbringung des Versicherten im Pflegeheim an dem Merkmal der "Familienwohnung" und - unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Versicherten - auch an dem Merkmal "Zuwendung von Fürsorge und Begründung eines familienähnlichen Bandes."

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe der Versicherte bis zu seinem Tode seinen ortsbezogenen Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen mit ihr und ihrer Mutter fortgesetzt, da der Versicherte in die Familie integriert gewesen sei. Es seien regelmäßig Besuche bei dem Versicherten erfolgt, so dass von einem wenigstens gleichmäßigen Miteinander der Lebensmittelpunkte auszugehen sei. Der Versicherte habe an den Folgeerscheinungen seines vierten Schlaganfalles gelitten, sei schwerst pflegebedürftig rund um die Uhr gewesen, und die Pflege sei bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens notwendig gewesen.

Der Senat hat die Mutter der Klägerin im Termin am 21. April 1999 als Zeugin angehört. Sie hat ausgesagt: Die letzten zwei bis drei Jahre vor der Aufnahme im Humboldt-Krankenhaus im Mai 1996 habe der Versicherte sich nicht mehr um sie und die Familienangelegenheiten gekümmert. Er habe nur im Bett gelegen und sich nur wenig geäußert. Dieser gesundheitliche Zustand habe sich auch im Pflegeheim nicht gebessert. Sie habe zwar gehofft, dass sich der Gesundheitszustand bessern werde, aber habe dafür keine reale Chance gesehen. Er sei damit einverstanden gewesen, ins Pflegeheim verlegt zu werden. An dieser Entscheidung habe er sich noch beteiligt, darüber habe sie mit ihm gesprochen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Rentenakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts steht der Klägerin kein Anspruch auf eine Halbwaisenrente gemäß § 48 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 SGB VI zu. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. November 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 1997 ist nicht zu beanstanden.

Nach § 48 Abs. 1 SGB VI haben Kinder nach dem Tode eines Elternteils Anspruch auf Halbwaisenrente. Als Kinder werden nach § 48 Abs. 3 Nr. 1 SGB VI auch Stiefkinder berücksichtigt, die in dem " Haushalt des Verstorbenen aufgenommen waren". Die Klägerin ist von der Ehefrau des Versicherten 1992 als Kind angenommen worden (§ 1741 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) und erlangte damit die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes der Annehmenden (§ 1754 Abs. 2 BGB). Also war sie seitdem ein Stiefkind des Versicherten. Zutreffend hat das Sozialgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG (Sozialrecht 2200 § 1262 Nr. 14) die Haushaltsaufnahme als Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung von Fürsorge und Begründung eines familienähnlichen Bandes) angesehen. Diese drei Kriterien stehen zwar in enger Beziehung zueinander und mögen sich auch teilweise überschneiden, keines davon darf jedoch gänzlich fehlen. Fehlt oder entfällt auch nur eines dieser die "Familiengemeinschaft" bildenden Merkmale, so liegt eine Aufnahme des Stiefkindes in den Haushalt nicht (mehr) vor. Abzustellen ist hierbei - ähnlich wie bei der Geschiedenenwitwenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung - auf den letzten Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juli 1998 - B 13 RJ 97/97 R -).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist die Aufenthaltsnahme im Pflegeheim nicht ohne rechtliche Bedeutung, sondern begründet gerade den letzten maßgeblichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten. Auch der Standpunkt des Sozialgerichts, der Versicherte habe nebeneinander in seiner Wohnung und im Pflegeheim einen Lebensmittelpunkt gehabt, ist nicht haltbar. Aufgrund der Verlegung des Versicherten am 20. Juni 1996 in das Pflegeheim fehlt es an dem Merkmal "Familienwohnung". Zwar weist das Sozialgericht zutreffend darauf hin, dass nur ein vorübergehender Krankenhausaufenthalt nicht geeignet ist, den früher bestehenden Dauerzustand zu beenden und einen anderen herzustellen. Der Fall der Klägerin unterscheidet sich jedoch wesentlich von einem solchen Sachverhalt. Zum einen erscheint es nach dem Gesundheitszustand des Versicherten im Zeitpunkt seiner Verlegung ins Pflegeheim ausgeschlossen, dass er jemals wieder auf Dauer in seine Wohnung hätte zurückkehren können. Dies entnimmt der Senat nicht nur dem Bericht des Humboldt-Krankenhauses vom 10. Juli 1996, sondern vor allem dem Gutachten des Dr. Wolff vom 18. Juni 1996, in welchem weiterhin die Pflegezulage der Stufe II befürwortet und zur Prognose angegeben wird, mit Besserung sei nicht zu rechnen. Diesen schlechten Gesundheitszustand bestätigt auch die Zeugenaussage seiner Ehefrau, die außerdem bekundet hat, dass sie keine reale Chance für eine Besserung gesehen habe. Zum anderen sieht es der Senat als bedeutsam an, dass der Versicherte nicht ohne oder gegen seinen Willen in das Pflegeheim gekommen ist, sondern er hat - wie es im Bericht des Krankenhauses heißt - "selbst den Wunsch geäußert, in ein Pflegeheim zu gehen". Damit korrespondiert die Aussage seiner Ehefrau, dass sie die Verlegung ins Pflegeheim mit ihm besprochen habe und er damit einverstanden gewesen sei. Dass der Versicherte auch unter der Adresse des Pflegeheims polizeilich gemeldet wurde, ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung, diese Ummeldung - selbst wenn sie nach Angaben der Klägerin "auf Betreiben des Pflegeheims" erfolgte - ist nur die rechtliche Konsequenz seines auf Dauer angelegten Aufenthaltes im Pflegeheim.

Fällt hier schon eines der drei Kriterien des Begriffs der Haushaltsaufnahme weg, brauchte der Senat nicht mehr zu ermitteln, ob der Versicherte - trotz seines schlechten körperlichen und geistigen Gesundheitszustandes - während seines Aufenthalts im Pflegeheim noch in der Lage war, der Klägerin, die 1996 inzwischen 11 Jahre alt war, in irgendeiner immatriellen Form Fürsorge geben konnte. Eindeutig vorhanden ist auch nicht das Merkmal der finanziellen Unterhaltsgewährung durch den Versicherten, denn es fehlen ausreichende Unterlagen darüber, wieviel Geld für die Klägerin nach Abzug der Pflegekosten übrig blieb. Da es sich bei der Klägerin nur um ein Stiefkind des Versicherten handelt, reicht nach dem klaren Wortlaut des § 48 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI insoweit der Gedanke, der Unterhaltsersatzfunktion der Waisenrente nicht aus, um das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen. Deshalb brauchte der Senat zu diesem Merkmal keine weiteren Ermittlungen anzustellen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG - und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist zugelassen worden, denn es handelt sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Damit folgt der Senat auch der von der Beklagten im Schriftsatz vom 4. Mai 2000 gegebenen Anregung.
Rechtskraft
Aus
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