L 7 B 309/02 KA ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 244/02 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 B 309/02 KA ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2002 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 8.603,09 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Festsetzung einer Schadensersatzverpflichtung wegen der Überschreitung der Richtgrößen für die von ihr 1999 verordneten Arznei-, Verband- und Heilmittel.

Der Prüfungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin setzte mit Beschluss vom 31.Juli 2001 gegen die Antragstellerin, eine zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Ärztin für Innere Medizin, auf Grund der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln wegen der Überschreitung der Richtgrößen 1999 eine Schadensersatzverpflichtung in Höhe von 83.298,02 DM fest. Auf die dagegen von der Antragstellerin und der Beigeladenen zu 1) erhobenen Widersprüche reduzierte der Antragsgegner mit Beschluss vom 12. Juni 2002 die Schadensersatzverpflichtung auf 50.478,52 DM (= 25.809,26 EURO) und wies die Widersprüche im Übrigen zurück. Diesen Beschlüssen legten die Prüfungsgremien die am 1. September 1999 abgeschlossene und im KV-Blatt 10/98 (S. A241) veröffentlichte Vereinbarung zwischen der Beigeladenen zu 1) einerseits und den Beigeladenen zu 2) bis 6) sowie der Bundesknappschaft andererseits über die Festsetzung von Richtgrößen zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit bei Überschreitung der Richtgrößen (Richtgrößen-Vereinbarung) für das Jahr 1999 sowie die zwischen den Beigeladenen vereinbarten und im KV-Blatt 9/99 (S. A236) veröffentlichten Prüfkriterien für die Wirtschaftlichkeitsprüfung der Verordnungsweise bei Richtgrößenüberschreitungen (Prüfvereinbarung) zu Grunde.

Gegen die Festsetzung der Schadensersatzverpflichtung hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 30. Oktober 2002 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. Juni 2002 im Wesentlichen mit der Begründung angeordnet, dass die der Berechnung der Schadensersatzverpflichtung zu Grunde gelegten Bruttoverordnungskosten nicht in voller Höhe durch Originalverordnungen bzw. Images belegt werden könnten. Die exakte Feststellung, in welcher Höhe die Ärzte Kosten für Arznei- und Heilmittel veranlasst hätten, sei jedoch für die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Überschreitung der Richtgrößen unerlässlich, so dass nicht von der Rechtmäßigkeit der gegen die Antragstellerin festgesetzten Schadensersatzverpflichtung ausgegangen werden könne. Gegen den ihm am 6. November 2002 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 6. Dezember 2002 Beschwerde eingelegt.

Die gemäß §§ 172 Abs.1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die gemäß § 106 Abs.5a S.9 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) in der hier bei summarischer Prüfung gemäß Art. 3 § 2 S.1 des Gesetzes zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz - ABAG -) vom 19. Dezember 2001 (BGBl. I S.3773) maßgeblichen Fassung (vgl. hierzu Engelhard in Hauck, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar Bd.2, § 106 Rdnr. 362 ff) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Antragsgegners nach § 86b Abs.1 S.1 Nr.2 SGG zu Recht angeordnet. Denn das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiegt das Interesse des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 2) bis 6) an der sofortigen Vollziehung, weil sich der angegriffene Beschluss des Antragsgegners bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung als rechtswidrig erweist.

Nach § 106 Abs.1 SGB V überwachen die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung. Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird u.a. geprüft durch die arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreiten der Richtgrößenvolumen nach § 84 SGB V in der hier nach Art.3 § 2 S.1 ABAG maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – GKV-SolG) vom 19. Dezember 1998 (BGBl. I S.3853) - SGB V a.F.- (§ 106 Abs.2 S.1 Nr.1 SGB V). Für die Wirtschaftlichkeitsprüfungen nach § 106 SGB V hatten die Beigeladenen gemäß § 84 Abs. 3 SGB V a.F. einheitliche arztgruppenspezifische Richtgrößen für das Volumen der je Arzt verordneten Leistungen, insbesondere von Arznei-, Verband- und Heilmitteln zu vereinbaren. Nach § 106 Abs.3 SGB V hatten sie außerdem die Verfahren zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Abs.2 gemeinsam und einheitlich zu vereinbaren. Übersteigt das Verordnungsvolumen eines Vertragsarztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen nach § 84 SGB V a. F. um mehr als 15 v.H. (Prüfungsvolumen) werden Prüfungen nach § 106 Abs. 2 S. 1 Nr.1 durchgeführt, wenn auf Grund der vorliegenden Daten der Prüfungsausschuss nicht davon ausgeht, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist (Vorab-Prüfung). Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v.H. hat der Vertragsarzt nach Feststellung des Prüfungsausschusses darüber hinaus den sich aus der Überschreitung des Prüfungsvolumens ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist (§ 106 Abs.5a S.4 SGB V).

Die angegriffene Schadensersatzpflicht ist mit diesen Bestimmungen nicht zu vereinbaren; denn die Prüfung der Verordnungsweise der Antragstellerin auf der Grundlage der Richtgrößen-Vereinbarung 1999 und der Prüfvereinbarung 1999 ist rechtswidrig. Die genannten Vereinbarungen sind öffentlich-rechtliche Verträge mit Rechtsnormcharakter, so genannte Normsetzungsverträge (vgl. Engelhard in Hauck, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar, Bd.2 § 84 Rdnr.158 m.w.N.) im Rang untergesetzlichen Landesrechts (vgl. BSG, Urteil vom 27.Juni 2001-B 6 KA 66/00 R- SozR 3- 2500 § 106 SGB V Nr. 53 S.289 f.), weil sie gegenüber am Vertragsschluss nicht beteiligten Dritten -Ärzten (vgl. § 95 Abs.3 S.2 SGB V) und Krankenkassen- unmittelbare rechtliche Außenwirkung entfalten (vgl. BSGE 71,42. 45ff ; 78,191,196). Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht und sind deshalb nichtig.

Die Richtgrößen-Vereinbarung 1999 verstößt bei summarischer Prüfung schon gegen Art.17 GKV-SolG und ist deshalb nichtig, weil sie nicht bis zum 30. Juni 1999 zustande gekommen ist. Nach dieser Vorschrift waren u.a. Vereinbarungen nach § 84 Abs.3 a.F. für das Jahr 1999 von den vom Gesetz vorgesehenen Vertragspartnern bis zum 31. März 1999 zu vereinbaren. Sofern sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht zustande gekommen waren, sollte das Schiedsamt (§89 SGB V) den Vertragsinhalt bis zum 30. Juni 1999 festsetzen. Im vorliegenden Fall ist es bis zu den vom Gesetz festgelegten Zeitpunkten jedoch weder zu einer Vereinbarung noch zu einer Festsetzung durch das Schiedsamt gekommen. Aus dem Wortlaut des Gesetzes lässt sich eine Rechtsfolge für einen solchen Verstoß durch die genannten Gremien nicht entnehmen. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, dass die Nichteinhaltung der vom Gesetzgeber bestimmten zeitlichen Vorgaben ohne Sanktion bleiben sollte. Wie der Senat für die Richtgrößen-Prüfungen für das Kalenderjahr 1998 entschieden hat, (vgl. den Beschluss vom 11. April 2003 -L 7 B 258/02 KA ER-) mussten diese Richtgrößen-Vereinbarungen nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Rechtslage bis zum 1. Januar 1998 vereinbart und publiziert sein; sofern das nicht der Fall war, sondern sie erst zu einem späteren Zeitpunkt erlassen worden waren, sind sie wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht nichtig. Dem liegt u.a. zu Grunde, dass den Richtgrößen eine leistungssteuernde Funktion zukommen soll; sie sollen den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot leiten (vgl. § 84 Abs.6 S.3 SGB V in der Fassung des ABAG), ihm zur Wirtschaftlichkeit seines Verordnungsverhaltens Informationen und Hinweise geben und ihn vor dem nicht durch Praxisbesonderheiten begründeten Überschreiten der Richtgrößen warnen. Diese Voraussetzungen können sie nur erfüllen, wenn die Vertragsärzte ihr Verordnungsverhalten auf die Richtgrößen einstellen und bei einem zeitweise unwirtschaftlichen Verhalten noch „umsteuern“ können, ohne den Anspruch der Versicherten auf eine bedarfsgerechte Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln zu verletzen. Dies setzt einen zeitnahen Erlass der Richtgrößen-Vereinbarung voraus, für den der Gesetzgeber für das Kalenderjahr 1998 eine Frist bis zum 31.Dezember 1997 und für das Kalenderjahr 1999 bis zum 30. Juni 1999 bestimmt hat (vgl. zur Frist des GKV-SolG Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN BT-Drs.14/24 vom 9.11.1998 Begründung zu Art. 15 des Entwurfs). Daraus ist bei summarischer Prüfung zu schließen, dass die Nichteinhaltung der vom Gesetzgeber vorgegebenen Fristen zu derselben Rechtsfolge - der Nichtigkeit der Richtgrößen- Vereinbarung- führen sollte. Denn durch Art.17 GKV-SolG sollte im Hinblick auf die Erfahrungen der vergangenen Jahre - für die Richtgrößen von den Vertragsparteien weitgehend nicht vereinbart worden waren - der zeitnahe Abschluss der vorgesehenen Vereinbarungen sichergestellt oder ein Nachholen des Vertragsschlusses ermöglicht werden. Insofern ist der Gesetzesänderung lediglich eine Erleichterung beim Normerlass dahin zu entnehmen, dass die Richtgrößen-Vereinbarung nicht mehr bis zum Ende des vorangegangenen Kalenderjahres, sondern bis zum Ende des ersten Quartals 1999 vereinbart (und publiziert) und ggf. bis zum Ende des zweiten Quartals festgesetzt (und publiziert) werden können sollte. Einer solchen Änderung der zeitlichen Vorgaben für Vertragpartner und Schiedsamt wäre überflüssig gewesen, wenn die Nichteinhaltung der gesetzlichen Fristen ohnehin hätte sanktionslos bleiben sollen. Vielmehr sollte an der aus der Funktion der Richtgrößen abgeleiteten Rechtsfolge bei Nichteinhaltung der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen zeitlichen Grenze – der Nichtigkeit der Richtgrößen-Vereinbarung – festgehalten werden.

Darüber hinaus ist die Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der Antragstellerin wegen der Überschreitung der Richtgrößen auch deswegen rechtswidrig, weil die Richtgrößen-Vereinbarung und die Prüfvereinbarung nach summarischer Prüfung gegen Art. 20 Abs.3 GG verstoßen und deshalb verfassungswidrig sind. Der Antragsgegner durfte diese Regelungen deshalb dem angegriffenen Bescheid nicht zu Grunde legen.

Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes setzt der Befugnis des Normgebers, den Eintritt nachteiliger Rechtsfolgen auf einen Zeitraum vor Verkündung der Norm zu erstrecken, enge Grenzen. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot für Strafbestimmungen) ist er nur unter strengen Voraussetzungen berechtigt, Rechtsfolgen für einen vor Verkündung der Norm liegenden Zeitpunkt eintreten zu lassen (BVerfGE 72, 200, 242, 257 – st.Rspr). Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterscheiden zwischen der nur in bestimmten Ausnahmefällen zulässigen echten (retroaktiven) Rückwirkung eines Gesetzes, bei der das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift, und der unechten (retrospektiven) Rückwirkung von Rechtsnormen, bei der die Norm auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Unechte Rückwirkung von Normen ist unter leichteren Voraussetzungen zulässig, nämlich bereits dann, wenn das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung im Hinblick auf die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit nicht den Vorrang verdient (vgl BVerfGE 36, 73, 82; 40, 65, 75f; 75, 246, 280). Belastende Gesetze hingegen, die sich echte Rückwirkung beilegen, sind wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rechtssicherheit, die für den Einzelnen vor allem Vertrauensschutz bedeutet, grundsätzlich nichtig (vgl. zum Vorstehenden und Folgenden BSG, Urteil vom17. September 1997, - 6 Rka 36/97-, SozR 3- 2500 § 87 SGB V Nr.18).

Diese Grundsätze sind im vorliegenden Fall anzuwenden; denn bei der Richtgrößen-Vereinbarung nach § 84 Abs.3 SGB V a.F. und der Prüfvereinbarung nach § 106 Abs.3 SGB V a. F. handelt es sich - wie bereits festgestellt – aus dem Blickwinkel des betroffenen Arztes um Normsetzungsverträge im Rang untergesetzlichen Landesrechts.

Vorliegend ist ein Fall echter Rückwirkung gegeben. Denn die Richtgrößen-Vereinbarung vom 1.September 1999 konnte frühestens im Oktober 1999 gegenüber den Normunterworfenen wirksam werden; sie ordnet gemäß § 6 ausdrücklich die Anwendbarkeit der Richtgrößen ab dem 1.Januar 1998 und gemäß § 2 Abs.2 als Prüfungszeitraum das Kalenderjahr 1999 an und misst sich damit teilweise Wirksamkeit für einen Zeitraum vor ihrer Bekanntgabe bei. Bei dieser Sachlage ist es ohne Bedeutung, ob von echter Rückwirkung im Sinne der Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts erst dann gesprochen wird, wenn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Norm auf einen Zeitpunkt festgelegt wird, der vor ihrem förmlichen In-Kraft-Treten liegt (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 242, 250), oder ob von der weitergehenden Rechtsauffassung ausgegangen wird, wonach echte Rückwirkung bereits gegeben ist, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände zum Nachteil der Betroffenen eingreift (vgl. BVerfGE 72, 175, 196 ). Auch bei Zugrundelegung des engeren, auf rein formale Gesichtspunkte abstellenden Rückwirkungsbegriffs sind wegen der Inkraftsetzung der Rechtsnorm für einen vor ihrer Bekanntgabe liegenden Zeitraum die Voraussetzungen einer echten Rückwirkung erfüllt.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass in Fällen wie dem vorliegenden von einer echten Rückwirkung erst gesprochen werden könne, wenn der Prüfungszeitraum vor Bekanntgabe der Norm vollständig abgelaufen ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dann ein Fall der echten Rückwirkung gegeben ist, wenn eine Richtgrößen-Vereinbarung oder eine Prüfvereinbarung erst nach Ablauf des Kalenderjahres erlassen wird, für das sie Regelungen enthält.

Daraus folgt jedoch nicht, dass die noch während des Prüfungszeitraums 1999 im Oktober 1999 veröffentlichte Richtgrößen-Vereinbarung oder die im September 1999 publizierte Prüfvereinbarung nur den weniger strengen Voraussetzungen der unechten Rückwirkung unterworfen wären. Dabei bliebe unberücksichtigt, dass die Ärzte auf die vor der Publikation der Norm veranlassten Ausgaben für Arznei-, Verband- und Heilmittel keinen Einfluss mehr hatten, aber die Folgen dieser Ausgaben nach Maßgabe der später erlassenen Richtgrößen-Vereinbarung hätten tragen müssen, die Norm deshalb insofern nachträglich ändernd in abgewickelte Sachverhalte eingreift. Den daraus entstehenden Schwierigkeiten kann auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass die Vereinbarungen - bis zu ihrem In-Kraft-Treten - an den strengeren Voraussetzungen der echten und für den Zeitraum danach an den weniger strengen der unechten Rückwirkung zu messen wären, weil sowohl die Richtgrößen-Vereinbarung als auch die Prüfvereinbarung sowie § 106 Abs. 5a S.1 SGB V das Kalenderjahr 1999 als einheitlichen, untrennbaren Prüfungszeitraum festlegen.

Deshalb ergibt sich die Notwendigkeit, in wertender Betrachtung zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Prüfvereinbarung erlassen sein muss, damit sie nicht in einen im Wesentlichen abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich zu Lasten der Antragstellerin eingreift, bzw. in welchem Zeitraum - vor oder nach der Veröffentlichung der Norm - der Sanktionsschwerpunkt der Rechtsnorm liegt. Hierbei kann es schon aus Gründen des Gleichheitsgrundsatzes und der Praktikabilität nicht darauf ankommen, wann die Antragstellerin den größeren Teil der Kosten für Arznei-, Verband- und Heilmittel veranlasst hat, sondern es ist aus den genannten Gründen erforderlich, für alle der Richtgrößen-Vereinbarung/ Prüfvereinbarung unterworfenen Ärzte einheitlich zu bestimmen, wann von einer retroaktiven Wirkung der Vereinbarungen auszugehen ist. In der Literatur wird dieser Zeitpunkt spätestens auf den Beginn des zweiten Quartals eines Jahres festgesetzt und zur Begründung auf § 84 Abs. 6 S.1 SGB V in der Fassung des ABAG verwiesen, der eine Vereinbarung bis zum 31. März verlangt (Engelhard, a.a.O., § 84 Rdnrn. 119-121). Denkbar wäre auch, die Grenze zwischen echter und unechter Rückwirkung durch Rückgriff auf Art.17 oder Art. 3a S.1 ABAG zu ziehen, die eine Schiedsamtsfestsetzung bei Nichtzustandekommen einer Richtgrößen-Vereinbarung bis zum 30.Juni bzw. 31. Mai vorsehen. Jedenfalls im Rahmen der summarischen Prüfung sieht der Senat den 30. Juni als den maßgeblichen Zeitpunkt an, an dem eine retrospektive in eine retroaktive Wirkung umschlägt. Denn zu diesem Zeitpunkt muss spätestens damit gerechnet werden, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl von Ärzten schon ein Verordnungsvolumen erreicht hat, das eine Einhaltung des Richtgrößenvolumens am Ende des Kalenderjahres ausgeschlossen erscheinen lässt, zumal die Vertragsärzte die Versorgung der Versicherten mit den benötigten Arzneimitteln nicht unter Berufung auf die Ausschöpfung ihres Richtgrößenvolumens verweigern dürfen.

Den verfassungsrechtlichen Bedenken an der Wirksamkeit der Vereinbarungen steht auch nicht entgegen, dass die Beigeladene zu 1) die Berliner Vertragsärzte im Juli 1999 über die Einigung der Vertragspartner über eine Richtgrößen-Vereinbarung für das Kalenderjahr 1999 informiert hatte (vgl. KV-Blatt 7/ 1999, S.25 f.). Denn abgesehen davon, dass auch diese Information nach dem Vorstehenden zu spät kam, kommt es für die Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung auf den Zeitraum der Veröffentlichung einer Norm an. Maßgeblicher Schnittpunkt für die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Tag der Verkündung einer Norm. Erst zu diesem Zeitpunkt wird die Rechtsnorm rechtlich existent (vgl. BVerfGE 63, 343, 353; 72, 200, 241). Für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes regelt Art. 82 GG das In-Kraft-Treten und die dazu erforderliche Form der Verkündung im Bundesgesetzblatt ausdrücklich. Doch auch die von Art. 82 GG nicht erfassten Normen des geschriebenen Rechts entfalten regelmäßig erst mit ihrer ordnungsgemäßen Verkündung Wirkung, weil sie nämlich "nach deutschem Staatsrecht" erst mit der ordnungsgemäßen Verkündung existent werden (so BVerfGE 63, 343, 353). Demgemäß erweist sich die hinlängliche Publikation von allgemein-verbindlichen, mit Außenwirkung ausgestatteten Rechtsregeln als ein für alle Normsetzungsakte geltendes "rechtsstaatliches Erfordernis" (BVerfGE 44, 322, 350 zu für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen; BVerfGE 65, 283, 291 zu Bebauungsplänen). Bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen gilt, jedenfalls soweit ihnen Außenwirkung gegenüber solchen Personen und Institutionen zukommt, die an der Normsetzung nicht unmittelbar beteiligt sind, nichts anderes.

Deshalb ist auch für die Gültigkeit der Richtgrößen-Vereinbarung und der Prüfvereinbarung ihre Publikation erforderlich. Allerdings enthalten die §§ 84 und 106 SGB V keine ausdrückliche Regelung über die Veröffentlichung der Vereinbarungen oder ihrer Änderungen, während etwa § 94 Abs. 2 SGB V für die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen ausdrücklich bestimmt, dass diese im Bundesanzeiger bekannt zu machen sind (zur Publikationspflicht vgl. § 99 Abs. 1 Satz 3 SGB V für den Bedarfsplan, § 16 Abs. 7, § 16b Abs. 4 Ärzte-ZV für die Anordnung und Aufhebung von Zulassungsbeschränkungen). Aus zwingenden Gründen der Rechtssicherheit setzt die Wirksamkeit von Regelungen der der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu Grunde liegenden Normen gegenüber den von ihnen Betroffenen, also in erster Linie den Vertragsärzten, voraus, dass die Normadressaten von ihnen haben Kenntnis nehmen können. Deshalb kann auch bei den hier maßgeblichen Vereinbarungen nicht auf die öffentliche Bekanntgabe als Voraussetzung ihrer rechtlichen Existenz im Verhältnis zu denjenigen, die am Normsetzungsverfahren nicht beteiligt sind, verzichtet werden. Dem entspricht es, dass alle Richtgrößen-Vereinbarungen und Prüfvereinbarungen und ihre Änderungen im KV-Blatt, dem offiziellen Organ der Beigeladenen zu 1), oder in Beilagen zu dieser Zeitschrift veröffentlicht worden sind und veröffentlicht werden. Das ist auch hier- wie bereits dargelegt - geschehen.

Die Notwendigkeit einer Publikation der Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung ergibt sich darüber hinaus daraus, dass sie steuernd auf die Leistungserbringung, also auf das Leistungsverhalten des Arztes, einwirken sollen. Die Leistungserbringung im vertragsärztlichen System kann sich grundsätzlich nur nach den Normen vollziehen, die zu dem Zeitpunkt gelten, in dem der Arzt die einzelne Leistung ausführt. Wie bereits festgestellt, dienen die Vereinbarungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung dazu, das Verordnungsverhalten der Ärzte steuernd zu beeinflussen. Allen steuernden Regelungen ist gemeinsam, dass die mit ihnen intendierten Zielsetzungen nur erreicht werden können, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem der einzelne Leistungserbringer über das Ob und das Wie der Leistungserbringung entscheidet, in Kraft sind. Verhaltenssteuernde Normen können ihren Zweck nur erfüllen, wenn sich der Arzt von vornherein darauf einstellen kann, von welchen Grenzbeträgen ab eine unwirtschaftliche Verordnungsweise vorliegen würde. Das setzt voraus, dass der für den einzelnen Arzt maßgebende Grenzbetrag schon zu Beginn seiner Arbeit, jedenfalls aber zu einem Zeitpunkt hinreichend bestimmt oder zumindest hinreichend bestimmbar ist, der eine Einhaltung des Prüfvolumens durch Änderung des Verordnungsverhaltens noch zulässt (vgl.BSG SozR 3-2500 § 87 SGB V Nr. 18).

Die demnach vorliegende echte (retroaktive) Rückwirkung der Vereinbarungen ist rechtswidrig. Normen dürfen nur in Ausnahmefällen echte Rückwirkung entfalten. Als ein solcher Ausnahmetatbestand ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere der Umstand anerkannt, dass die Rechtsunterworfenen mit einer Neuregelung bezogen auf einen vor In-Kraft-Treten des Gesetzes liegenden Zeitpunkt rechnen mussten, weil die gesetzliche Neuregelung eine unklare oder verworrene bzw. lückenhafte Regelung ersetzt hat oder die ersetzte Regelung in einem Maße systemwidrig oder unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit bestehen mussten. Gleiches gilt, wenn durch die Rückwirkung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht worden ist, und schließlich dann, wenn zwingende Gründe des allgemeinen Wohls, die dem Vertrauensschutz der Rechtsunterworfenen vorgehen, die rückwirkende Inkraftsetzung der Regelung im Einzelfall legitimieren können (vgl. BVerfGE 30, 367, 387 ff; 88, 384, 404). Keiner dieser Sachverhalte liegt hier vor.

Die Richtgrößen-Vereinbarung für 1999 ist die erste Richtgrößen-Vereinbarung für dieses Kalenderjahr im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen zu 1) und konnte schon deswegen keine unklare Regelung ersetzen. Auch mussten die Berliner Vertragsärzte mit Ablauf des 30. Juni 1999 nicht mehr mit einem rückwirkenden In-Kraft-Treten dieser Vereinbarung rechnen, weil Art. 17 GKV-SolG eine Vereinbarung bis zum 31. März 1999, jedenfalls aber eine schiedsamtliche Festsetzung bis zum 30. Juni 1999 vorschrieb. Das Vertrauen der Vertragsärzte ist auch nicht durch die Vereinbarung vom 1. September 1998 zerstört worden. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Vertrauensschutzgesichtspunkten auch gegen eine echte Rückwirkung von Gesetzen verfassungsrechtliche Bedenken nicht zu erheben sein, soweit lediglich die Zeit zwischen dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages und der Verkündung der geänderten oder neu erlassenen Norm im Bundesgesetzblatt betroffen ist. Ab dem Tag der "endgültigen Beschlussfassung im Bundestag" müssen danach die Betroffenen mit der Rechtsänderung rechnen und können ihr Verhalten darauf einstellen (vgl. BVerfGE 72, 200, 260, 262). Abgesehen davon, dass davon hier nur der Monat September 1999 betroffen wäre, kann dieser Gesichtspunkt jedoch bei untergesetzlichen Normen keine Anwendung finden (BSGE 71, 202, 207 f = SozR 3-4100 § 45 Nr 3). Dass der Antragstellerin schon nach § 12 SGB V zu einer wirtschaftlichen Verordnungsweise verpflichtet war, rechtfertigt entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners ebenfalls nicht die rückwirkende Festsetzung der Richtgrößen.

Nach den Ermittlungen des Senats erfasst die Schadensersatzverpflichtung von ca. 273.000.- DM bei der Antragstellerin wie bei den anderen betroffenen Ärzten einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer jährlichen Einkünfte und ist deshalb auch im Hinblick auf ihre Belastung für die Betroffenen nicht unbeachtlich. Auf den durch die retroaktive Wirkung der Vereinbarung entstandenen Schaden kann mangels festgestellter Daten nicht abgestellt werden. Es ist auch nicht zu erkennen, dass zwingende Gründe des allgemeinen Wohls die rückwirkende Inkraftsetzung der Vereinbarung unter Zurückstellung des Vertrauensschutzes der Antragstellerin gebieten könnten. Denn abgesehen von der Tatsache, dass nicht zu erkennen ist, warum die Richtgrößen erst so spät vereinbart und publiziert worden sind, bildeten sie im Jahre 1998 nicht die einzige Möglichkeit, steuernd auf die Verordnungsweise der Vertragsärzte einzuwirken, weil hierzu den Vertragspartnern noch das Instrument des Budgets nach § 84 Abs. 1 SGB V a. F. zur Verfügung stand. Rechtfertigende Gründe für einen rückwirkenden Erlass der Prüfvereinbarung sind ebenfalls nicht zu erkennen.

Deshalb muss die Beschwerde des Antragsgegners ohne Erfolg bleiben, ohne dass es auf die übrigen von den Beteiligten und dem Sozialgericht aufgeworfenen Rechtsfragen ankommt.

Ob die Prüfung der Verordnungsweise der Antragstellerin im Hinblick auf § 84 Abs. 4 SGB V a. F., wonach die Richtgrößen nach Abs. 3 bis zum In-Kraft-Treten von Folgevereinbarungen fortgelten, auf der Grundlage der Richtgrößen-Vereinbarung 1998 - die der Senat ohnehin für nichtig hält - möglich gewesen wäre, ist im vorliegenden Verfahren vom Senat nicht zu entscheiden. Denn der Antragsgegner hat diese Richtgrößen, die von denen des Jahres 1999 nicht unerheblich abweichen und deshalb zu einem anderen Richtgrößenvolumen führen würden, weder seiner Prüfung nach § 106 Abs. 5a SGB V noch den angefochtenen Bescheiden zu Grunde gelegt. Soweit § 84 Abs. 4 SGB V a. F. eine solche Verfahrensweise überhaupt zuließe, nachdem die Richtgrößen-Vereinbarung 1999 bereits in Kraft getreten war, wäre es zunächst Aufgabe des Antragsgegners, eine solche Prüfung auf der Grundlage der Richtgrößen-Vereinbarung 1998 durchzuführen und hierüber Bescheide zu erteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 154, 162 Verwaltungsgerichtsordnung, die Wertfestsetzung auf § 197a SGG in Verbindung mit §§ 13,20 Gerichtskostengesetz.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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