L 9 B 20/02 KR ER W02 I

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 75 KR 3737/01 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 20/02 KR ER W02 I
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2001 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Gründe:

Der Senat hatte über die Beschwerde der Antragsgegnerin erneut zu entscheiden. Zwar war zunächst die Beschwerde durch Beschluss des Senats vom 29. Mai 2002 zurückgewiesen worden, das Verfahren war hierdurch zunächst rechtskräftig beendet (vgl. § 177 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Durch Beschluss vom 22. November 2002 hat jedoch die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 1586/02) den Beschluss des Landessozialgerichts vom 29. Mai 2002 aufgehoben und die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Hierdurch sind der Beschluss des Sozialgerichts vom 21. Dezember 2001 wieder wirksam und die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen diesen Beschluss wieder anhängig geworden. Die Antragsgegnerin hat ihre Beschwerde ausdrücklich aufrechterhalten.

Die Beschwerde war nach erneuter Sachprüfung unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2002 zurückzuweisen, weil das Sozialgericht die beantragte einstweilige Anordnung zu Recht erlassen hat. Zwar ist weiterhin zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG vorliegen, d.h. ob der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat. Jedoch war die einstweilige Anordnung auf Grund einer Folgenabwägung zu erlassen. Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. der Rechtschutzgarantie aus Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgt, dass im vorliegenden Fall eine Folgenabwägung vorzunehmen war, welche die verfassungsrechtlich geschützten Belange des Antragstellers hinreichend zur Geltung bringt. Dabei waren die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, wenn von der Entscheidung in einem gerichtlichen Verfahren mittelbar Lebensgefahr für den einzelnen ausgehen kann (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02).

Die Zweifel am Bestehen eines Anordnungsanspruches, der im Grundsatz für eine zusprechende Entscheidung nach § 86b Abs. 2 SGG erforderlich wäre, gründen sich darauf, dass der Antragsteller auch nach bisherigem Aktenstand die Voraussetzungen für die Kostenübernahme für das begehrte, intravenös ambulant zu verabreichende Medikament Ilomedin nicht hat glaubhaft machen können. Wie das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R) ausgeführt hat, setzt die Verordnungsfähigkeit eines Medikaments auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen u.a. voraus, dass auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist. In Fällen wie den vorliegenden, in der eine Erweiterung der Zulassung für die streitbefangene Indikation nicht beantragt und auch nicht vorgesehen ist, kann eine Verordnungsfähigkeit nur dann bestehen, wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlich sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Hierbei kann weiterhin offen bleiben, ob inzwischen außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Der Antragsteller beruft sich insoweit auf neue Studien, die auch möglicherweise erst nach der vorangegangenen Entscheidung des Senats vom 29. Mai 2002 veröffentlicht worden sind. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, denn jedenfalls ist bislang nicht glaubhaft gemacht, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem Sinne besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist. Dies würde nämlich voraussetzen, dass im Rahmen der ambulanten Behandlung die nahezu einhellige Meinung besteht, dass das Medikament Ilomedin in seiner intravenösen Verabreichungsform als wirksam und unbedenklich zu betrachten ist. Hierzu reichen wissenschaftliche Studien ebenso wenig aus wie Erfahrungsberichte von Kliniken, denn es kommt nicht auf die stationäre, sondern in diesem Zusammenhang allein auf die ambulante Verabreichung des Medikaments an. Eine Information hierüber, dass eine größere Zahl von behandelnden Ärzten die intravenöse Verabreichung des Medikaments Ilomedin im Rahmen der ambulanten Behandlung für sinnvoll und verantwortbar hält, liegt dem Senat bislang nicht vor. Somit ist der Anordnungsanspruch gegenwärtig nicht glaubhaft gemacht.

Ebenso bestehen erhebliche Zweifel am Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Ein solcher Anordnungsgrund bestünde nur dann, wenn eine derart große Eilbedürftigkeit gegeben wäre, dass dem Antragsteller nicht zugemutet werden könnte, den Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache abzuwarten. Hierzu hat er zwar geltend gemacht, dass ihm Lebensgefahr drohe, wenn er das Medikament Ilomedin nicht weiterhin intravenös ambulant verabreicht erhalte. Dem steht jedoch entgegen, dass jedenfalls nach bisheriger Einschätzung dem Antragsteller ein Anspruch auf stationäre Behandlung (ggf. teilstationär) zustehen dürfte. Sofern eine ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht, um die gesundheitliche Störung zu beheben, insbesondere um Gefahr für Leib oder Leben abzuwenden, ist auch im System der gesetzlichen Krankenversicherung eine stationäre Behandlung indiziert. Diese ist von der zuständigen Krankenkasse zu gewährleisten. Eine solche wäre dem Antragsteller gegebenenfalls auch zuzumuten; so hat das Bundesverfassungsgericht in der vorgenannten Entscheidung darauf hingewiesen, dass jedenfalls ein nach Wochen bemessener Aufenthalt zumutbar sein dürfte.

Jedoch führt die Folgenabwägung zu der von dem Antragsteller begehrten Entscheidung, so dass der Senat von einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts und der Entscheidung der genannten rechtlichen Fragen abgesehen hat, die im Hauptsacheverfahren erfolgen müssen. Hierbei waren die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Sollte die erstgenannte Alternative erfüllt sein, d.h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden dem Antragsteller schwerwiegende Nachteile. Im Wege der ambulanten Behandlung könnte seine lebensbedrohliche Erkrankung dann jedenfalls nicht mehr wirkungsvoll bekämpft werden. Zwar dürfte, wie bereits ausgeführt, ein Anspruch auf stationäre Krankenbehandlung bestehen, doch war hier - wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 22. November 2002 dem Senat vorgegeben hat - weiter zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin nunmehr - vorbehaltlich einer gerichtlichen Entscheidung - auch die Kosten für die stationäre Behandlung zu tragen nicht mehr bereit ist. Diese - möglicherweise rechtswidrige - Haltung der Antragsgegnerin könnte dazu führen, dass sich für den Antragsteller eine Rechtsschutzlücke auftäte, die nach den oben genannten Kriterien vor dem Hintergrund einer möglichen Verletzung von Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht hingenommen werden darf.

Demgegenüber wiegen die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung zum Nachteil der Antragsgegnerin einträten, weniger schwer. Zwar entstünde der Antragsgegnerin in diesem Falle ein erheblicher finanzieller Schaden. Sie könnte ihn nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung (ZPO) von dem Antragsteller ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis nicht begründet war. Bei sachnaher Betrachtung muss allerdings angenommen werden, dass angesichts der (vermutlich) schwachen finanziellen Situation des Antragstellers ein solcher Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar wäre. Weiterhin muss jedoch beachtet werden, dass die Antragsgegnerin auch dann erhebliche Geldmittel aufzubringen hätte, wenn eine stationäre Behandlung des Antragstellers auf ihre Kosten notwendig würden. Möglicherweise wären diese Kosten sogar nicht geringer als die derzeit durch die ambulante Behandlung mit dem intravenös verabreichten Medikament Ilomedin entstandenen Kosten. Darüber hinaus führt die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens der Antragsgegnerin auf der einen Seite, des Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit des Antragstellers auf der anderen Seite zu der aus dem Tenor ersichtlichen Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, sie entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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