L 11 SB 10/00

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 SB 1177/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 10/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren, wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Streitig ist das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen „G“ - erhebliche Gehbehinderung - und „B“ - notwendige Begleitung - im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG).

Die 1951 geborene Klägerin beantragte am 18. März 1998 die Neufeststellung ihrer Behinderung im Sinne des SchwbG. Mit Bescheid vom 13. August 1998 lehnte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt - eine Neufeststellung mit der Begründung ab, der Grad der Behinderung (GdB) betrage unverändert 50 und weitere Behinderungen bzw. gesundheitliche Merkmale lägen nach den vorgelegten medizinischen Befunden sowie eingeholten ärztlichen Stellungnahmen nicht vor. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und beantragte die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“. Das Versorgungsamt zog weitere medizinische Unterlagen bei und veranlasste eine medizinische Begutachtung durch die Nervenärztin S. B. vom 23. Dezember 1998 und die Versorgungsärztin Dr. med. N. vom 17. März 1999. Den eingeholten medizinischen Gutachten folgend, stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin durch Widerspruchsbescheid vom 14. April 1999 bei der Klägerin einen GdB von 70 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:

a) Seelische Störungen;
b) Lungenleiden;
c) Fehlhaltung der Wirbelsäule mit rezidivierenden Reizzuständen;
d) Folgen von Leiboperationen und Verwachsungsbeschwerden;
e) Kniegelenksarthrose rechts, Senk-Spreiz-Füße, Großzehenfehlstellung beidseits, Ringbandstenose rechter Daumen;
f) Hypotone Kreislaufregulationsstörungen, Krampfaderleiden und Operationsfolgen.

Hierbei legte es den einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen einen GdB von 50 bei a), 30 bei b), jeweils 20 bei c) und d) sowie jeweils 10 bei e) und f) zu Grunde. Im Übrigen wies es den Widerspruch der Klägerin zurück. Nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen sei weder ein höherer GdB gerechtfertigt noch lägen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ vor.

Mit der am 10. Mai 1999 beim Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ unter Vorlage von Attesten des behandelnden Orthopäden Dr. med. Ul. vom 7. Mai 1999 sowie des Augenarztes H. K. S. P. vom 30. April 1999 und vom 6. Oktober 1999 weiter verfolgt. Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG durch Gerichtsbescheid vom 1. Dezember 1999 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, wie aus den bei der Begutachtung durch die Nervenärztin B. und die Versorgungsärztin Dr. N. erhobenen Befunden ersichtlich sei, sei die Klägerin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt und es bestehe deswegen auch nicht die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung.

Gegen den ihr am 13. Januar 2000 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 12. Februar 2000 eingelegten Berufung unter Vorlage weiterer ärztlicher Atteste des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. med. He. vom 7. Februar 2000, des Chirurgen Dr. med. A. - O. vom 24. Februar 2000 und des Internisten/Rheumatologen Dr. med. Ha. vom 9. März 2000. Sie führt aus, eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergebe sich insbesondere durch ihre seelische Störung, die mit einer Angstsymptomatik einhergehe. Erschwerend käme ihr Lungenleiden wie auch das Wirbelsäulenleiden hinzu. Die im Raum bei der Begutachtung durchgeführte Gangprüfung lasse noch nicht ausreichend auf die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr, welcher verschiedenste Gefährdungsmomente beinhalte, schließen. Von daher sei eine weitere Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

ihr unter Beiordnung des Rechtsanwaltes T. R. Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Dem Beklagten ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden, er sieht die Voraussetzungen für die begehrten Merkzeichen „G“ und „B“ im Hinblick auf die in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP 1996) unter Nr. 30 genannten Voraussetzungen weiterhin nicht als gegeben an.

Bei der Entscheidung haben neben der Gerichtsakte auch die Schwerbehindertenakte der Klägerin vorgelegen.

II.

Der Antrag war zurückzuweisen, denn der Klägerin steht kein Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu. Gemäß § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) finden die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die Prozesskostenhilfe entsprechende Anwendung. Nach § 114 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Wegen der im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich bestehenden Gerichtskostenfreiheit (§ 183 SGG) kommt die Gewährung von Prozesskostenhilfe regelmäßig nur dann in Betracht, wenn zugleich ein Prozessbevollmächtigter beizuordnen ist. Gemäß § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist.

Die vorgenannten Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Unabhängig von der Frage, ob überhaupt die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als erforderlich im Sinne des § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO erscheint, fehlt es schon an einer hinreichenden Erfolgsaussicht der eingelegten Berufung. So ergeben sich weder aus den im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten der Nervenärztin B. vom 23. Dezember 1998 und der Versorgungsärztin Dr. N. vom 17. März 1999, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden können (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage 1998, Rz. 12b zu § 118), noch aus den im Gerichtsverfahren eingereichten Attesten der behandelnden Ärzte Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin die Tatbestandsvoraussetzungen der Merkzeichen „G“ und „B“ erfüllt. Gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 SchwbG sind Schwerbehinderte, die in Folge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 4 Abs. 5 im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder in Folge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§ 60 Abs. 1 SchwbG). Nach den AHP 1996 Ziffer 30 S. 164 ff sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden, z.B. bei einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades oder bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 sowie bei hirnorganischen Anfällen ab einer mittleren Anfallshäufigkeit oder bei Diabetes mellitus mit häufigen hypoglykämen Schocks, ist eine erhebliche Gehbehinderung anzunehmen. Weiterhin kann nach den vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 10. Dezember 1997 (Az.: 9a RVs 11/97 - veröffentlicht in BSGE 62, 273 ff) entwickelten Maßstäben zur Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ ein Kriterium zur Beurteilung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sein, ob der Schwerbehinderte noch in der Lage ist, eine Gehstrecke von 2 km zu Fuß in etwa einer halben Stunde zurückzulegen. Die Einschätzung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist jedoch nicht allein vom Ergebnis eines Gehwegtestes anhängig, sondern auch davon, dass eine sich auf das Gehvermögen entsprechend auswirkende Behinderung tatsächlich vorliegt. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall. So liegen bei der Klägerin auf die Gehfähigkeit sich auswirkende erhebliche Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen, die mit einer Versteifung eines Gelenkes vergleichbar sind, nicht vor. Das Krampfaderleiden ist geringfügig, eine arterielle Verschlusskrankheit mit einem GdB von 40 ist nicht zu erkennen. Die von der Lendenwirbelsäule ausgehenden Funktionsstörungen bedingen für sich gesehen keinen GdB von wenigstens 50. Eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades, die nach den AHP 1996 Ziffer 26.8 S. 83 einen GdB von mindestens 50 bis 70 bedingt, ist an Hand der am 17. März 1999 durchgeführten versorgungsärztlichen Untersuchung nicht zu belegen. Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach der Gruppe 3, d.h. mit einem GdB von mindestens 50 bis 70 nach den AHP 1996 Ziffer 26.9 S. 87 konnten bei der Klägerin ebenfalls nicht festgestellt werden. Auch die Kombination von Lungenleiden und Wirbelsäulenbeschwerden reicht insgesamt für einen, die erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit begründenden GdB von 50 nicht aus. Im Übrigen hat sich bei der Begutachtung durch die Nervenärztin B. ein sicherer Gang der Klägerin gezeigt, Blindgang und Seiltänzergang sind ebenfalls möglich gewesen. Frau Dr. N. hat in ihrem Gutachten das Gangbild der Klägerin als raumgreifend und sicher sowie den Einbeinstand, Zehen- und Fersengang als ausführbar beschrieben. Vor diesem Hintergrund fehlt es an objektiven Befunden, die gegen die Fähigkeit der Klägerin, eine Gehstrecke von 2 km zu Fuß in etwa einer halben Stunde zurückzulegen, sprechen können. Eine Störung der Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr ist ebenso wenig wie ein hirnorganisches Anfallsleiden ersichtlich. Zur Feststellung einer Orientierungsstörung im Straßenverkehr reichen solche allgemeinen psychischen Beeinträchtigungen wie eine auf Grund der depressiven Störung herabgesetzte Konzentrationsfähigkeit und Antriebsschwäche, eine eingeschränkte Aufmerksamkeit und eine verlangsamte Motorik noch nicht aus. Eine auf den Straßenverkehr bezogene ausgeprägte Angstsymptomatik ist den im Verwaltungsverfahren eingereichten Attesten der behandelnden Ärztinnen für Neurologie und Psychiatrie K. Bl. und H. Bü. nicht zu entnehmen.

Gemäß § 60 Abs. 2 SchwbG ist die ständige Begleitung bei Schwerbehinderten notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Folge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 59 Abs. 1 Satz 1 SchwbG kann die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ nur dann erfolgen, wenn zugleich die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festgestellt sind. Wie zuvor dargelegt, erfüllt die Klägerin auf Grund der bisher vorliegenden medizinischen Unterlagen schon nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“. Darüber hinaus liegen bei ihr aber auch die weiteren Voraussetzungen des Merkzeichens „B“ nicht vor. Denn sie ist, wie sich aus sämtlichen zur Verfügung stehenden medizinischen Erkenntnissen aus dem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergibt, bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Folge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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