Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 13 An 3877/92
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17/16 RA 10/95-W 97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 1994 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 7. August 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1992 wird aufgehoben. Die Beigeladene wird verurteilt, die Zeit vom 1. November 1941 bis 31. Juli 1944 als glaubhaft gemachte Beitragszeit anzuerkennen und den Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 21 und 22 WGSVG zuzulassen. Die Beigeladene hat dem Kläger die ihm entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) sowie die Nachentrichtung von Beiträgen nach den Vorschriften der §§ 21, 22 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Der am ...1923 in Lodz in Polen geborene Kläger beantragte am 27. Dezember 1989 bei der Beklagten u.a. die Anerkennung von Beitragszeiten nach dem FRG und die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG.
Dabei gab der Kläger an, bis September 1939 Schüler gewesen zu sein. Von November 1939 bis Oktober 1941 habe er den Judenstern getragen und Zwangsarbeit verrichtet. Von November 1941 bis Juli 1944 sei er im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) im Metallbetrieb Nr. 36 und 37 als Dreher beschäftigt gewesen. An das Entgelt könne er sich nicht mehr erinnern. Von 1944 bis Mai 1945 sei er im KZ Auschwitz bzw. Flossenbürg, Siegmar-Schönau gewesen und von Mai 1945 bis August 1945 arbeitslos sowie krank nach der Verfolgung. Von September 1945 bis ca. April 1948 sei er bei der UNRRA-Verwaltung in Landsberg am Lech als Bibliothekar beschäftigt gewesen. Die Beklagte zog die Entschädigungsakten des Klägers vom Landesentschädigungsamt in der Bayerischen Landes- und Staatsschuldenverwaltung bei und entschied durch Bescheid vom 7. August 1991, dass der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 21, 22 WGSVG nicht berechtigt sei. In der Anlage zu diesem Bescheid heißt es, die Wiederherstellung der Beitragsunterlagen für die Zeit vom 1. Januar 1942 bis 31. Juli 1944 werde abgelehnt, weil der Verlust der Beitragsunterlagen bzw. die Beitragsentrichtung für diese Zeit weder nachgewiesen noch ausreichend glaubhaft gemacht sei. Außerdem wurde die Anerkennung der Zeit vom 1. November 1941 bis 31. Dezember 1941 abgelehnt, weil diese Zeit weder nachgewiesen noch ausreichend glaubhaft gemacht sei. Über die geltend gemachte Zeit von September 1945 bis August 1948 wurde nicht entschieden.
Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid vom 7. August 1991 Widerspruch und überreichte Zeugenerklärungen der S. H. und der C. J. Beide bestätigten gleichlautend, dass der Kläger in der Zeit von November 1941 bis Juli 1944 im Metallbetrieb Nr. 36 und 37 als Dreher gearbeitet habe.
Durch Widerspruchsbescheid vom 5. November 1992 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Hinsichtlich seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz habe der Kläger widersprüchliche Angaben gemacht (seit September 1939, seit Mai 1940 bzw. seit November 1941). Ferner habe er im Rentenverfahren erklärt, von November 1941 bis Juli 1944 ohne Unterbrechung z.B. wegen arbeitsunfähiger Erkrankung als Dreher beschäftigt gewesen zu sein. Aus den im Entschädigungsverfahren abgegebenen Erklärungen und den durchgeführten medizinischen Untersuchungen sei jedoch zu entnehmen, dass er bereits im Ghetto Lodz schwer erkrankt gewesen sei. Seit 1943 habe er an schweren Bauchbeschwerden gelitten und sei an Typhus erkrankt gewesen. Ein ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis sei unter diesen Umständen nicht überwiegend wahrscheinlich.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht die Klage durch Urteil vom 23. November 1994 abgewiesen, weil der Kläger in der deutschen Rentenversicherung keine anrechenbaren Versicherungszeiten habe nachweisen bzw. glaubhaft machen können.
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger grundsätzliche Ausführungen zur Versicherungspflicht von Beschäftigungen im Ghetto Lodz gemacht hat. Er hat umfangreiches Unterlagenmaterial beigefügt, aus dem sich nach seiner Auffassung ergibt, dass es sich bei seiner Beschäftigung im Ghetto Lodz um eine versicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt habe. Außerdem hat der Kläger auf Veranlassung des Landessozialgerichts eine ausführliche schriftliche Erklärung über die Umstände seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz vom 7. Februar 2000 zu den Akten gereicht sowie einen Auszug aus der sogenannten Ghettoliste; auf diese wird Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 1994 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 7. August 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1992 aufzuheben und die Beigeladene zu verurteilen, den Kläger unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit von November 1941 bis Juli 1944 zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 21, 22 WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz durch Beschluss vom 25. September 1997 beigeladen und die Zeuginnen H. und J. im Wege der Rechtshilfe durch das Friedensgericht in Tel Aviv vernehmen lassen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift des Friedensgerichts in Tel Aviv vom 10. Januar 1999 Bezug genommen.
Die Verwaltungsakten der Beklagten zur Versicherungs-Nr., die den Kläger betreffenden Entschädigungsakten des Bayerischen Landesentschädigungsamtes StNr. sowie die Akten des Sozialgerichts Berlin zum Aktenzeichen S 13 An 3877/92 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, sie ist auch im Sinne einer Verurteilung der Beigeladenen als zuständigen Versicherungsträger begründet (§§ 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz -SGG-, 1311 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung der geltend gemachten Beitragszeiten (I.) sowie auf Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG (II.).
I.
Der Kläger hat Anspruch auf Anrechnung der Zeit von November 1941 bis Juli 1944, in der er in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Dreher in den Metallbetrieben Nr. 36 und 37 bei der Ghettoverwaltung der Stadt Lodz gestanden hat. Dabei findet auf die Beschäftigung des Klägers für die Zeit ab Januar 1942 die frühere Vorschrift der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der damals gültigen Fassung (alte Fassung -a.F.-) Anwendung (siehe unten a.). Für die Zeit von November 1941 bis zum 31. Dezember 1941 sind die Arbeits- und Beitragsleistungen des Klägers nach §§ 15, 17 Abs. 1 Buchst. b Fremdrentengesetz -FRG- in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung (a.F.) zu beurteilen. Hiernach stehen die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich (siehe unten b.).
a.) Im vorliegenden Fall ist, obgleich es sich hier um ein Vormerkungsverfahren handelt, noch das bis zum 31. Dezember 1991 geltende Recht anzuwenden, weil der Kläger den Antrag auf Versichertenrente im Januar 1991 gestellt hat und auch das 65. Lebensjahr am 24. Februar 1988, also vor dem 31. März 1992 vollendet hat, § 300 Abs. 2 SGB VI. Die Gründe, die das BSG in seiner Entscheidung vom 25. Februar 1992 (BSGE 70, 138 bis 149) bewogen haben, für das Vormerkungsverfahren, das vor dem 1. Januar 1992 noch nicht bindend abgeschlossen ist, die Anwendung des neuen Rechts zu fordern, treffen daher im Falle des Klägers nicht zu.
Der Kläger hat in dem Zeitraum von Januar 1942 bis Juli 1944 gemäß § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F. eine in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtige Beschäftigung als Arbeiter, nämlich als Dreher, verrichtet. Er war, wie die Zeuginnen Jalon und Honigman bestätigt haben, im Metallressort beschäftigt und erhielt für diese Beschäftigung sogenannte Ghettomark. Zwar weiß die Zeugin Jalon kaum mehr, als dass der Kläger im damaligen Metallressort tätig war, während die Zeugin Honigman noch angeben kann, dass der Kläger nach September 1941 die Arbeit aufgenommen habe und seine Arbeit beendet worden sei, als er aus dem Ghetto deportiert worden sei; im Zusammenhang mit den eigenen Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren und seinen jetzigen Angaben im Berufungsverfahren reicht dies jedoch aus, um das Beschäftigungsverhältnis glaubhaft zu machen.
Zwar hat der Kläger im Entschädigungsverfahren unterschiedliche Angaben über den Beginn seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz gemacht. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in diesem Verfahren nicht nach dem Beginn der Beschäftigung gefragt war, sondern es im Wesentlichen um den Aufenthalt im Ghetto ging. Als Ende des Aufenthaltes im Ghetto ist im Entschädigungsverfahren der August 1944 benannt, was nach den historischen Erkenntnissen auch mit dem Zeitpunkt der Auflösung des Ghettos Lodz übereinstimmt. Der Senat folgt daher den Angaben des Klägers in seiner Erklärung vom 7. Februar 2000, wonach er nach der Schließung der Berufsschule des Ghettos im September/Oktober 1941 ab November 1941 als Dreher im Metallressort bis zur Auflösung des Ghettos im August 1944 gearbeitet habe. Dies u.a. auch deshalb, weil der Senat sich davon überzeugen konnte, dass der von dem Kläger genannte Metallbetrieb in der Lagewnickastraße dort tatsächlich existiert hat (vgl. Spuren aus dem Ghetto Lodz 1940 bis 1944, Dokumente der Sammlung Wolfgang Haney, Berlin, S. 69). Der Senat hält auch die Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Typhuserkrankung und der Umstände, die ihn dazu zwangen, trotz der Erkrankung weiter zu arbeiten, unter Berücksichtigung der damaligen Umstände im Ghetto für glaubhaft und hält den diesbezüglichen Einwand der Beklagten für nicht überzeugend.
Ob für diese Beschäftigung Beiträge entrichtet worden sind, kann nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 = SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15 - dahingestellt bleiben, da in diesem Fall die Beiträge gemäß § 14 Abs. 2 WGSVG zu fingieren sind, weil sie, wenn die Beitragsentrichtung unterblieben wäre, aus verfolgungsbedingten Gründen nicht entrichtet worden wären. Der Kläger ist anerkannter Verfolgter des Nationalsozialismus und erfüllt damit die Voraussetzungen des § 1 WGSVG. Es ist auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der Kläger als Dreher ein unter der Geringfügigkeitsgrenze des Drittels des Ortslohnes liegendes Entgelt bezogen hat, so dass das (mögliche) Unterblieben einer Beitragsentrichtung nur auf Verfolgungsmaßnahmen beruht haben kann. Damit erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 WGSVG.
b.) Die Zeit von November 1941 bis Dezember 1941 ist im Falle des Klägers gemäß § 17 Abs. 1 Buchst. b a.F. FRG in Verbindung mit §§ 15 FRG, § 14 Abs. 2 WGSVG ebenfalls als (fiktive) Beitragszeit zu berücksichtigen.
Der Kläger erfüllt zwar nicht die Voraussetzungen des § 1 FRG, weil er weder Vertriebener ist noch zu den sonstigen in § 1 FRG genannten Personengruppen gehört. Er ist aber über § 14 Abs. 2 WGSVG so zu behandeln, als seien Beiträge an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden, die ein deutscher Träger der gesetzlichen Rentenversicherung bei Eintritt des Versicherungsfalles wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln gehabt hätte. Damit ist auf ihn die Vorschrift des § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18. Dezember 1989 anzuwenden. Nach dem letzten Halbsatz von § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG in dieser Fassung gilt die Verweisung auf § 15 FRG auch für Beiträge von Personen, deren Ansprüche nach der sogenannten Ostgebiete-VO ausgeschlossen waren. Zu diesem Personenkreis gehörte der Kläger, weil er als Jude nach dieser Verordnung keine Ansprüche geltend machen konnte. Die von dem Kläger zurückgelegten Arbeits-/Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz sind daher so zu behandeln, als ob es sich von vornherein um nach den Reichsversicherungsgesetzen zurückgelegte Beitragszeiten gehandelt hätte (BSG vom 18. Juni 1997 a.a.O.).
Bei Anrechnung der genannten Zeiträume als Beitragszeiten erfüllt der Kläger auch die Voraussetzungen der §§ 21 und 22 WGSVG für die Nachentrichtung von Beiträgen.
Insbesondere erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 Satz 3 WGSVG in Verbindung mit den §§ 9, 10 Abs. 1 Satz 1 WGSVG. Nach dieser Vorschrift finden die Sätze 1 und 2 des § 21 Abs. 1 WGSVG entsprechend für Verfolgte Anwendung, für die nach § 17 Abs. 1 Buchst. b letzter Halbsatz FRG in der vom 1. Januar 1990 an geltenden Fassung Beitragszeiten nach dem FRG erstmalig zu berücksichtigen sind. Dies ist hier der Fall, weil der Kläger erst nach der Neufassung des § 17 Abs. 1 b FRG als polnischer Jude Versicherungszeiten nach § 15 FRG geltend machen konnte. Da seine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung als Dreher auch aus Verfolgungsgründen Ende Juli 1944 durch den Transport in das Konzentrationslager Auschwitz beendet wurde, steht ihm ein Nachentrichtungsrecht nach § 21 WGSVG zu.
Auch das Nachentrichtungsrecht nach § 22 Abs. 1 Satz 2 WGSVG steht dem Kläger zu, weil diese Vorschrift ebenfalls den Personenkreis begünstigt, der in § 17 Abs. 1 Buchst. b letzter Halbsatz FRG in der ab 1. Januar 1990 geltenden Fassung bezeichnet ist, zu dem der Kläger gehört.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG. Sie entspricht der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 SGG nicht vorliegt.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) sowie die Nachentrichtung von Beiträgen nach den Vorschriften der §§ 21, 22 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Der am ...1923 in Lodz in Polen geborene Kläger beantragte am 27. Dezember 1989 bei der Beklagten u.a. die Anerkennung von Beitragszeiten nach dem FRG und die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG.
Dabei gab der Kläger an, bis September 1939 Schüler gewesen zu sein. Von November 1939 bis Oktober 1941 habe er den Judenstern getragen und Zwangsarbeit verrichtet. Von November 1941 bis Juli 1944 sei er im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) im Metallbetrieb Nr. 36 und 37 als Dreher beschäftigt gewesen. An das Entgelt könne er sich nicht mehr erinnern. Von 1944 bis Mai 1945 sei er im KZ Auschwitz bzw. Flossenbürg, Siegmar-Schönau gewesen und von Mai 1945 bis August 1945 arbeitslos sowie krank nach der Verfolgung. Von September 1945 bis ca. April 1948 sei er bei der UNRRA-Verwaltung in Landsberg am Lech als Bibliothekar beschäftigt gewesen. Die Beklagte zog die Entschädigungsakten des Klägers vom Landesentschädigungsamt in der Bayerischen Landes- und Staatsschuldenverwaltung bei und entschied durch Bescheid vom 7. August 1991, dass der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 21, 22 WGSVG nicht berechtigt sei. In der Anlage zu diesem Bescheid heißt es, die Wiederherstellung der Beitragsunterlagen für die Zeit vom 1. Januar 1942 bis 31. Juli 1944 werde abgelehnt, weil der Verlust der Beitragsunterlagen bzw. die Beitragsentrichtung für diese Zeit weder nachgewiesen noch ausreichend glaubhaft gemacht sei. Außerdem wurde die Anerkennung der Zeit vom 1. November 1941 bis 31. Dezember 1941 abgelehnt, weil diese Zeit weder nachgewiesen noch ausreichend glaubhaft gemacht sei. Über die geltend gemachte Zeit von September 1945 bis August 1948 wurde nicht entschieden.
Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid vom 7. August 1991 Widerspruch und überreichte Zeugenerklärungen der S. H. und der C. J. Beide bestätigten gleichlautend, dass der Kläger in der Zeit von November 1941 bis Juli 1944 im Metallbetrieb Nr. 36 und 37 als Dreher gearbeitet habe.
Durch Widerspruchsbescheid vom 5. November 1992 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Hinsichtlich seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz habe der Kläger widersprüchliche Angaben gemacht (seit September 1939, seit Mai 1940 bzw. seit November 1941). Ferner habe er im Rentenverfahren erklärt, von November 1941 bis Juli 1944 ohne Unterbrechung z.B. wegen arbeitsunfähiger Erkrankung als Dreher beschäftigt gewesen zu sein. Aus den im Entschädigungsverfahren abgegebenen Erklärungen und den durchgeführten medizinischen Untersuchungen sei jedoch zu entnehmen, dass er bereits im Ghetto Lodz schwer erkrankt gewesen sei. Seit 1943 habe er an schweren Bauchbeschwerden gelitten und sei an Typhus erkrankt gewesen. Ein ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis sei unter diesen Umständen nicht überwiegend wahrscheinlich.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht die Klage durch Urteil vom 23. November 1994 abgewiesen, weil der Kläger in der deutschen Rentenversicherung keine anrechenbaren Versicherungszeiten habe nachweisen bzw. glaubhaft machen können.
Hiergegen richtet sich die Berufung, mit der der Kläger grundsätzliche Ausführungen zur Versicherungspflicht von Beschäftigungen im Ghetto Lodz gemacht hat. Er hat umfangreiches Unterlagenmaterial beigefügt, aus dem sich nach seiner Auffassung ergibt, dass es sich bei seiner Beschäftigung im Ghetto Lodz um eine versicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt habe. Außerdem hat der Kläger auf Veranlassung des Landessozialgerichts eine ausführliche schriftliche Erklärung über die Umstände seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz vom 7. Februar 2000 zu den Akten gereicht sowie einen Auszug aus der sogenannten Ghettoliste; auf diese wird Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 1994 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 7. August 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 1992 aufzuheben und die Beigeladene zu verurteilen, den Kläger unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit von November 1941 bis Juli 1944 zur Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 21, 22 WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz durch Beschluss vom 25. September 1997 beigeladen und die Zeuginnen H. und J. im Wege der Rechtshilfe durch das Friedensgericht in Tel Aviv vernehmen lassen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift des Friedensgerichts in Tel Aviv vom 10. Januar 1999 Bezug genommen.
Die Verwaltungsakten der Beklagten zur Versicherungs-Nr., die den Kläger betreffenden Entschädigungsakten des Bayerischen Landesentschädigungsamtes StNr. sowie die Akten des Sozialgerichts Berlin zum Aktenzeichen S 13 An 3877/92 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, sie ist auch im Sinne einer Verurteilung der Beigeladenen als zuständigen Versicherungsträger begründet (§§ 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz -SGG-, 1311 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung der geltend gemachten Beitragszeiten (I.) sowie auf Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG (II.).
I.
Der Kläger hat Anspruch auf Anrechnung der Zeit von November 1941 bis Juli 1944, in der er in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Dreher in den Metallbetrieben Nr. 36 und 37 bei der Ghettoverwaltung der Stadt Lodz gestanden hat. Dabei findet auf die Beschäftigung des Klägers für die Zeit ab Januar 1942 die frühere Vorschrift der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der damals gültigen Fassung (alte Fassung -a.F.-) Anwendung (siehe unten a.). Für die Zeit von November 1941 bis zum 31. Dezember 1941 sind die Arbeits- und Beitragsleistungen des Klägers nach §§ 15, 17 Abs. 1 Buchst. b Fremdrentengesetz -FRG- in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung (a.F.) zu beurteilen. Hiernach stehen die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich (siehe unten b.).
a.) Im vorliegenden Fall ist, obgleich es sich hier um ein Vormerkungsverfahren handelt, noch das bis zum 31. Dezember 1991 geltende Recht anzuwenden, weil der Kläger den Antrag auf Versichertenrente im Januar 1991 gestellt hat und auch das 65. Lebensjahr am 24. Februar 1988, also vor dem 31. März 1992 vollendet hat, § 300 Abs. 2 SGB VI. Die Gründe, die das BSG in seiner Entscheidung vom 25. Februar 1992 (BSGE 70, 138 bis 149) bewogen haben, für das Vormerkungsverfahren, das vor dem 1. Januar 1992 noch nicht bindend abgeschlossen ist, die Anwendung des neuen Rechts zu fordern, treffen daher im Falle des Klägers nicht zu.
Der Kläger hat in dem Zeitraum von Januar 1942 bis Juli 1944 gemäß § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO a.F. eine in der Arbeiterrentenversicherung versicherungspflichtige Beschäftigung als Arbeiter, nämlich als Dreher, verrichtet. Er war, wie die Zeuginnen Jalon und Honigman bestätigt haben, im Metallressort beschäftigt und erhielt für diese Beschäftigung sogenannte Ghettomark. Zwar weiß die Zeugin Jalon kaum mehr, als dass der Kläger im damaligen Metallressort tätig war, während die Zeugin Honigman noch angeben kann, dass der Kläger nach September 1941 die Arbeit aufgenommen habe und seine Arbeit beendet worden sei, als er aus dem Ghetto deportiert worden sei; im Zusammenhang mit den eigenen Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren und seinen jetzigen Angaben im Berufungsverfahren reicht dies jedoch aus, um das Beschäftigungsverhältnis glaubhaft zu machen.
Zwar hat der Kläger im Entschädigungsverfahren unterschiedliche Angaben über den Beginn seines Aufenthaltes im Ghetto Lodz gemacht. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in diesem Verfahren nicht nach dem Beginn der Beschäftigung gefragt war, sondern es im Wesentlichen um den Aufenthalt im Ghetto ging. Als Ende des Aufenthaltes im Ghetto ist im Entschädigungsverfahren der August 1944 benannt, was nach den historischen Erkenntnissen auch mit dem Zeitpunkt der Auflösung des Ghettos Lodz übereinstimmt. Der Senat folgt daher den Angaben des Klägers in seiner Erklärung vom 7. Februar 2000, wonach er nach der Schließung der Berufsschule des Ghettos im September/Oktober 1941 ab November 1941 als Dreher im Metallressort bis zur Auflösung des Ghettos im August 1944 gearbeitet habe. Dies u.a. auch deshalb, weil der Senat sich davon überzeugen konnte, dass der von dem Kläger genannte Metallbetrieb in der Lagewnickastraße dort tatsächlich existiert hat (vgl. Spuren aus dem Ghetto Lodz 1940 bis 1944, Dokumente der Sammlung Wolfgang Haney, Berlin, S. 69). Der Senat hält auch die Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Typhuserkrankung und der Umstände, die ihn dazu zwangen, trotz der Erkrankung weiter zu arbeiten, unter Berücksichtigung der damaligen Umstände im Ghetto für glaubhaft und hält den diesbezüglichen Einwand der Beklagten für nicht überzeugend.
Ob für diese Beschäftigung Beiträge entrichtet worden sind, kann nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 = SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15 - dahingestellt bleiben, da in diesem Fall die Beiträge gemäß § 14 Abs. 2 WGSVG zu fingieren sind, weil sie, wenn die Beitragsentrichtung unterblieben wäre, aus verfolgungsbedingten Gründen nicht entrichtet worden wären. Der Kläger ist anerkannter Verfolgter des Nationalsozialismus und erfüllt damit die Voraussetzungen des § 1 WGSVG. Es ist auch kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der Kläger als Dreher ein unter der Geringfügigkeitsgrenze des Drittels des Ortslohnes liegendes Entgelt bezogen hat, so dass das (mögliche) Unterblieben einer Beitragsentrichtung nur auf Verfolgungsmaßnahmen beruht haben kann. Damit erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 WGSVG.
b.) Die Zeit von November 1941 bis Dezember 1941 ist im Falle des Klägers gemäß § 17 Abs. 1 Buchst. b a.F. FRG in Verbindung mit §§ 15 FRG, § 14 Abs. 2 WGSVG ebenfalls als (fiktive) Beitragszeit zu berücksichtigen.
Der Kläger erfüllt zwar nicht die Voraussetzungen des § 1 FRG, weil er weder Vertriebener ist noch zu den sonstigen in § 1 FRG genannten Personengruppen gehört. Er ist aber über § 14 Abs. 2 WGSVG so zu behandeln, als seien Beiträge an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden, die ein deutscher Träger der gesetzlichen Rentenversicherung bei Eintritt des Versicherungsfalles wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln gehabt hätte. Damit ist auf ihn die Vorschrift des § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG in der Fassung des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18. Dezember 1989 anzuwenden. Nach dem letzten Halbsatz von § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG in dieser Fassung gilt die Verweisung auf § 15 FRG auch für Beiträge von Personen, deren Ansprüche nach der sogenannten Ostgebiete-VO ausgeschlossen waren. Zu diesem Personenkreis gehörte der Kläger, weil er als Jude nach dieser Verordnung keine Ansprüche geltend machen konnte. Die von dem Kläger zurückgelegten Arbeits-/Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz sind daher so zu behandeln, als ob es sich von vornherein um nach den Reichsversicherungsgesetzen zurückgelegte Beitragszeiten gehandelt hätte (BSG vom 18. Juni 1997 a.a.O.).
Bei Anrechnung der genannten Zeiträume als Beitragszeiten erfüllt der Kläger auch die Voraussetzungen der §§ 21 und 22 WGSVG für die Nachentrichtung von Beiträgen.
Insbesondere erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 Satz 3 WGSVG in Verbindung mit den §§ 9, 10 Abs. 1 Satz 1 WGSVG. Nach dieser Vorschrift finden die Sätze 1 und 2 des § 21 Abs. 1 WGSVG entsprechend für Verfolgte Anwendung, für die nach § 17 Abs. 1 Buchst. b letzter Halbsatz FRG in der vom 1. Januar 1990 an geltenden Fassung Beitragszeiten nach dem FRG erstmalig zu berücksichtigen sind. Dies ist hier der Fall, weil der Kläger erst nach der Neufassung des § 17 Abs. 1 b FRG als polnischer Jude Versicherungszeiten nach § 15 FRG geltend machen konnte. Da seine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung als Dreher auch aus Verfolgungsgründen Ende Juli 1944 durch den Transport in das Konzentrationslager Auschwitz beendet wurde, steht ihm ein Nachentrichtungsrecht nach § 21 WGSVG zu.
Auch das Nachentrichtungsrecht nach § 22 Abs. 1 Satz 2 WGSVG steht dem Kläger zu, weil diese Vorschrift ebenfalls den Personenkreis begünstigt, der in § 17 Abs. 1 Buchst. b letzter Halbsatz FRG in der ab 1. Januar 1990 geltenden Fassung bezeichnet ist, zu dem der Kläger gehört.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG. Sie entspricht der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 SGG nicht vorliegt.
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