L 17 RA 31/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 18 RA 3260/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 17 RA 31/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt eine höhere Rente für die Zeit vom 1. Juli 1990 bis 30. April 1999.

Der 1921 geborene Kläger bezog seit Juni 1986 in der DDR eine Altersrente der Sozialversicherung und Leistungen der Altersversorgung der Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen.

Mit Bescheid vom 29. November 1991 nahm die Beklagte die Umwertung und Anpassung der Rente aufgrund des ab 1. Januar 1992 geltenden Rentenrechts vor. Ein dagegen gerichteter Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 23. März 1993) und das anschließende Klageverfahren (Urteil des Sozialgerichts vom 12. Januar 1995) blieben für den Kläger ohne Erfolg. Während des Berufungsverfahrens wurde die Rente des Klägers mit Bescheid vom 21. August 1995 seit dem 1. Juli 1990 neu festgestellt, nachdem ein - 1996 bestandskräftig gewordener - Entgeltbescheid (vom 22. Mai 1995) der BfA als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme vorlag. Der Kläger wandte sich auch gegen diesen Rentenbescheid und rügte, dass die Neuberechnung nicht unter Anwendung der für ihn wesentlich günstigeren Regelung des § 307 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch -SGB VI-, sondern nach § 307 b SGB VI erfolgt sei. Das Landessozialgericht hat die Berufung mit Urteil vom 26. November 1997 zurückgewiesen und die Klage gegen den Bescheid vom 21. August 1995 abgewiesen. Mit Urteil vom 4. August 1998 hat das BSG die dagegen gerichtete Revision des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, die Bestimmung der Rentenhöhe nach § 307 a SGB VI sei als systemwidrige Abweichung vom Grundsatz der kalenderjährlichen Gegenüberstellung während des Versicherungslebens konkret erzielter und individuell versicherter Entgelte und des für denselben Zeitraum jeweils maßgeblichen Gesamtdurchschnittseinkommens aller Versicherten nur ausnahmsweise und bei Vorliegen besonderer Rechtfertigungsgründe hinnehmbar und damit allein den in dieser Ausnahmevorschrift genannten Personengruppen vorbehalten.

Im Dezember 1998 beantragte der Kläger eine Überprüfung des Rentenbescheides vom 21. August 1995 mit der Begründung, es seien von März 1971 bis Dezember 1973 Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze als rentenwirksam anzuerkennen.

Am 19. Januar 2001 erließ der Versorgungsträger einen Feststellungsbescheid, der vom Kläger nicht angefochten wurde.

Mit Bescheid vom 19. Oktober 2001 erfolgte durch die Beklagte aufgrund der Rechtsänderungen durch das 2. Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes -2. AAÜG-ÄndG- vom 27. Juli 2001 eine Neufeststellung der Rente des Klägers seit dem 1. Juli 1990. Dabei wurde für die Zeit vom 1. Mai 1999 an der - höhere - Monatsbetrag der Vergleichsrente gemäß § 307 b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 3 SGB VI in der Fassung des 2. AAÜG-ÄndG gewährt. Eine frühere Zahlung der Vergleichsrente lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. April 2002 ab, da der Rentenbescheid vom 21. August 1995 bindend geworden sei und deshalb nach den gesetzlichen Vorschriften ein Anspruch auf Neufeststellung nicht vor dem 1. Mai 1999 bestehe.

Mit der dagegen gerichteten Klage vom 10. Mai 2002 hat der Kläger sein Ziel, die Vergleichsrente rückwirkend auch für Zeiträume vor dem 1. Mai 1999 zu erhalten, weiterverfolgt und geltend gemacht, seinem Rentenanspruch habe kein bestandskräftiger Bescheid zugrunde gelegen, da er das Widerspruchsverfahren bereits im Dezember 1998 und damit vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingeleitet habe. Zudem empfinde er die Versagung einer Nachzahlung ab Rentenbeginn als Härtefall, da er dafür über drei Instanzen einen Rechtsstreit geführt habe und das Urteil des Bundessozialgerichts (am 4. August 1998 und damit) zu einem Zeitpunkt ergangen sei, als bereits die Verhandlungen beim Bundesverfassungsgericht über die hier streitigen Rechtsfragen im Gange gewesen seien.

Mit Urteil vom 31. März 2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid sei nicht rechtswidrig, da dem Kläger nach der Übergangsvorschrift des Artikel 13 Abs. 5 des 2. AAÜG-ÄndG eine Vergleichsrente nicht vor dem 1. Mai 1999 zustehe. Denn mit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 4. August 1998 sei der ursprünglich angefochtene Rentenbescheid bestandskräftig geworden. Eine Verfassungsbeschwerde habe der Kläger nicht eingelegt. Da es sich bei der Frage der Vergleichsberechnung um einen abtrennbaren Teilstreit handele, könne der Kläger auch nicht aufgrund des nicht bestandskräftigen Bescheides des Zusatzversorgungsträgers oder des Überprüfungsantrags wegen Berücksichtigung seiner Arbeitsentgelte in den Jahren 1971 bis 1974 eine frühere Neuberechnung seiner Rente verlangen. Raum für eine Entscheidung unter Härtegesichtspunkten bleibe nicht.

Gegen das ihm am 22. April 2003 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 15. Mai 2003 eingelegten Berufung. Zu deren Begründung macht er geltend, er greife das Urteil des Sozialgerichts formal-juristisch nicht an, er empfinde es jedoch als eine besondere Härte, dass sein jahrelanger Rechtsstreit zwar letztlich durch das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 28. April 1999 in seinem Sinne entschieden worden sei, ihm aber eine Nachzahlung für den Zeitraum vor Mai 1999 versagt werde. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte das Bundessozialgericht in seinem Fall eine andere Entscheidung getroffen. Er bedauere, dass das Sozialgericht nicht tiefgründiger auf den von ihm geltend gemachten Härtefall eingegangen sei.

Nach seinem Vorbringen beantragt der Kläger,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 19. Oktober 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2002 zu verur- teilen, ihm seit 1. Juli 1990 eine höhere Rente unter Zugrundelegung einer Vergleichsrente nach § 307 b Abs. 3 SGB VI neuer Fassung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten des Sozialgerichts Berlin zum Aktenzeichen S 18 RA 3216/02 haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung des sich aus der so genannten Vergleichsrente ergebenden Zahlbetrags für die Zeit vor Mai 1999.

Als Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt nur § 307 b SGB VI in Betracht. Nach dieser Vorschrift in der Fassung des 2. AAÜG-ÄndG ist, wenn am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz überführte Rente des Beitrittsgebiets bestand, die Rente nach den Vorschriften des SGB VI neu zu berechnen und für die Zeit vom 1. Januar 1992 an zusätzlich eine Vergleichsrente zu ermitteln. Die höhere der beiden Renten ist zu leisten (§ 307 b Abs. 1 Satz 2 SGB VI n.F.). Demgegenüber sah § 307 b SGB VI a.F. nicht die Ermittlung einer Vergleichsrente und dementsprechend auch nicht die Vornahme eines Günstigkeitsvergleichs zwischen den ermittelten Renten vor. Gemäß Artikel 13 Abs. 2 des 2. AAÜG-ÄndG trat dieses Gesetz, mit dem die Neufassung des § 307 b SGB VI erfolgte, mit Wirkung vom 1. Mai 1999 in Kraft. Abweichend davon wird in Artikel 13 Abs. 5 bestimmt, dass mit Wirkung vom 1. Januar 1992 - jedoch nicht wie vom Kläger begehrt seit 1. Juli 1990 - die in Artikel 2 Nr. 5 geregelte Neufassung des § 307 b SGB VI für Personen in Kraft tritt, für die am 28. April 1999 ein Rentenbescheid noch nicht bindend war. Diese Voraussetzung ist hier aber nicht erfüllt, denn für den Kläger lag am genannten Stichtag ein bindend gewordener Rentenbescheid vor.

Nach § 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG- wird, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, wenn der gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird. Der Kläger hat zwar den Rentenbescheid vom 21. August 1995 mit Rechtsbehelfen angefochten, diese waren jedoch für ihn erfolglos, so dass der Verwaltungsakt mit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 4. August 1998 bindend wurde.

Die Bindungswirkung des Bescheides ist nicht durch den vom Kläger im Dezember 1998 gestellten Überprüfungsantrag entfallen. Denn ein Rücknahmeantrag nach den §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -SGB X- ändert an einer bereits zuvor eingetretenen Unanfechtbarkeit eines Bescheides nichts. Der Antrag lässt weder die formelle noch die materielle Bestandskraft bzw. Bindungswirkung nachträglich entfallen. Denn ein Antrag im Sinne der genannten Vorschriften ist die Geltendmachung eines behaupteten Anspruchs auf Rücknahme eines Verwaltungsaktes, aber schlechthin kein Rechtsbehelf im Sinne des § 77 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 10. April 2003, B 4 RA 56/02 R). Aus diesem Grund konnte auch der "teilweise einstweilige Rentenbescheid" vom 22. März 2001 keine Auswirkungen auf die Bestandskraft des Bescheides vom 21. August 1995 haben.

Einer Bindungswirkung des Rentenbescheides steht auch nicht - wie offenbar vom Sozialgericht erwogen - der Umstand entgegen, dass zum Zeitpunkt seines Erlasses der Überführungsbescheid des Versorgungsträgers vom 22. Mai 1995 noch nicht rechtskräftig, weil vom Kläger angefochten war. Denn ein möglicher Verstoß gegen das rechtsstaatliche Verbot des vorzeitigen Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (vgl. BSG, Urteil vom 14. Mai 2003, B 4 RA 65/02 R) liegt hier bereits deshalb nicht (mehr) vor, weil der Überführungsbescheid bindend geworden ist, nachdem der Kläger die dagegen gerichtete Klage mit Schriftsatz vom 31. Oktober 1996 zurückgenommen hatte.

Der Kläger kann auch nicht mit Erfolg die Rücknahme des Bescheides vom 21. August 1995 nach § 44 SGB X für den Zeitraum vor Mai 1999 verlangen. Nach dieser Bestimmung ist ein Verwaltungsakt auch dann, wenn er bereits unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt wurde. Diese Voraussetzungen liegen vor. Bei Erlass des Rentenbescheides ist das Recht unrichtig angewendet worden, denn § 307 b SGB VI a.F., der der Entscheidung zugrunde lag, ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 1999 (1 BvR 1926/96 und 485/97) wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Abs. 1 mit dem Grundgesetz unvereinbar. Eine auch für die Vergangenheit erfolgte Unvereinbarkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht führt ebenso wie die Nichtigkeitserklärung (vgl. § 78 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) dazu, dass ein auf der betreffenden Norm beruhender Verwaltungsakt als von Anfang an rechtswidrig zu behandeln ist (vgl. BSGE 64, 62 [64]). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Norm vom Bundesverfassungsgericht für einen Übergangszeitraum als weiter anwendbar erklärt wurde. Dies ist hier jedoch nicht der Fall, denn das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, für die Zeit vom 1. Januar 1992 an (Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 307 b SGB VI a.F.) und für alle Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Bestimmung beruhen, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Die Rücknahme nach § 44 SGB X ist in einem solchen Fall auch nicht nach § 79 Abs. 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausgeschlossen, denn Ziel der letztgenannten Vorschrift ist es nicht, die Bestandskraft rechtswidriger Verwaltungsakte über die allgemeinen sozialrechtlichen Regelungen hinaus zu erweitern (vgl. BSGE 64, 62 [66]). Eine Anwendung des § 44 SGB X scheitert hier jedoch an Artikel 11 des 2. AAÜG-ÄndG. Nach dieser speziellen Regelung können Rentenbescheide nach § 307 b SGB VI, die am 28. April 1999 unanfechtbar waren, nur mit Wirkung für die Zeit nach dem 30. April 1999 nach § 44 SGB X zurückgenommen werden, soweit sie - wie hier -auf einer Rechtsnorm beruhen, die nach dem Erlass der Bescheide für mit dem Grundgesetz unvereinbar oder nichtig erklärt worden ist.

Auf § 48 SGB X kann der geltend gemachte Anspruch ebenfalls nicht gestützt werden. Denn eine "Änderung der Verhältnisse" im Sinne dieser Vorschrift ist hier erst durch die aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit Wirkung vom 1. Mai 1999 geänderte Rechtslage eingetreten und seither erhält der Kläger die höhere Vergleichsrente (vgl. § 100 Abs. 1 SGB VI).

Schließlich vermag auch die Berufung des Klägers auf einen "Härtefall" ein anderes Ergebnis nicht zu rechtfertigen. Im Zusammenhang mit dem hier fraglichen Anspruch sieht das Gesetz - das auch das erkennende Gericht in seiner Entscheidung bindet - neben den bereits zitierten Übergangsregelungen und Vorschriften über das In-Kraft-Treten der Neuregelung des § 307 b SGB VI keine sonstigen Normen über die Behandlung von "Härtefällen" vor. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der genannten Übergangsregelungen bestehen nicht, denn das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) hat den Gesetzgeber ausdrücklich nicht verpflichtet, eine Gesetzesänderung auch für Rentenbezugszeiten bis zum In-Kraft-Treten einer verfassungsgemäßen Neuregelung vorzunehmen, wenn die der Leistungsgewährung zugrunde liegenden Entscheidungen Bestandskraft erlangt haben. Im Übrigen hätte auch der Kläger eine Zahlung der Vergleichsrente für Zeiträume vor Mai 1999 erreichen können, wenn er nach der Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs sich mittels einer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgerichts gewandt hätte. Damit wäre zwar nicht der Eintritt der Unanfechtbarkeit vermieden worden, weil eine Verfassungsbeschwerde keinen Suspensiveffekt auslöst, aber die erfolgreiche Anrufung des Verfassungsgerichts hätte eine Zurückverweisung an das zuständige Gericht (vgl. § 95 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) zur Folge gehabt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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