L 16 U 79/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 25 U 106/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 U 79/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Verletztenrente unter Zugrundelegung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

Die 1948 geborene Klägerin ist eingetragene Architektin (Urkunde der Architektenkammer B vom 20. Juni 1994). Vom 1. April 1996 bis 31. März 1998 war und seit dem 1. April 1999 ist die Klägerin arbeitslos gemeldet. Im Kalenderjahr 2000 bezog sie laufend Anschluss-Arbeitslosenhilfe. Ab dem 15. Januar 2001 nahm die Klägerin an einer vom Arbeitsamt B-T geförderten Trainingsmaßnahme für den kaufmännischen Bereich mit Ablegung des europäischen Computerführerscheins teil. Am 5. Februar 2001 stürzte sie auf dem Weg zur Schulungsstätte bei Glätte auf die rechte Seite bzw. Hüfte und zog sich eine mediale Schenkelhalsfraktur rechts zu (Durchgangsarztbericht von Prof. Dr. F vom 6. Februar 2001).

Mit Bescheid vom 27. September 2001 gewährte die Beklagte der Klägerin Verletztenrente als vorläufige Entschädigung in Form einer Gesamtvergütung für die Zeit vom 19. Juli 2001 bis 31. März 2002 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. und einem JAV von 32.256,00 DM (Mindest-JAV; Gesamtbetrag der Vergütung = 3.017,50 DM = 1.542,82 Euro). Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese die Zugrundelegung eines höheren JAV unter Hinweis auf das für die bezogene Arbeitslosenhilfe maßgebende Bemessungsentgelt (= wöchentlich 1.420,00 DM) bzw. das Mindesthonorar für Architekten nach der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) begehrte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2002 unter Bezugnahme auf § 85 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) zurück. Der herangezogene Mindest-JAV sei auch nicht unbillig.

Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, in den Kalenderjahren 2000 und 2001 einen Umsatz aus der selbständigen Tätigkeit als Architektin von etwa 3.000,00 DM erzielt zu haben, wobei sich der Gewinn auf einen Betrag von 95 % des Umsatzes belaufen habe. Vor ihrer Arbeitslosigkeit habe sie zuletzt etwa 6.000,00 DM brutto monatlich verdient. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Gewährung einer höheren Gesamtvergütung für die Zeit vom 19. Juli 2001 bis 31. März 2002 unter Zugrundelegung eines JAV von 40.000,00 Euro, hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung des Anspruchs auf Verletztenrente unter Festsetzung eines JAV nach billigem Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gerichtete Klage mit Urteil vom 30. Oktober 2003 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Beklagte habe der Berechnung der Gesamtvergütung zu Recht den Mindest-JAV gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII in Höhe von 60 v.H. der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgebenden Bezugsgröße zu Grunde gelegt. Die Klägerin habe in den letzten 12 Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten sei, kein Arbeitsentgelt und nach eigenen Angaben Arbeitseinkommen nur in Höhe von etwa 2.850,00 DM (95 % des Gewinns von 3.000,00 DM) erzielt. Dieses Arbeitseinkommen liege weit unter dem Mindest-JAV. Der JAV sei auch nicht gemäß § 87 SGB VII nach billigem Ermessen oberhalb des Mindest-JAV festzusetzen. Denn der von der Beklagten festgesetzte Mindest-JAV sei nicht in erheblichem Maße unbillig. Zum Zeitpunkt des Wegeunfalls habe die Klägerin bereits seit fast zwei Jahren im Arbeitslosengeld- bzw. Arbeitslosenhilfebezug gestanden und habe nennenswertes Arbeitseinkommen aus ihrer Tätigkeit als Architektin nicht erwirtschaften können. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin nur vorübergehend auf Leistungen der Arbeitsverwaltung angewiesen sei. Die Einkommenssituation der Klägerin habe bereits seit Beginn ihrer Arbeitslosigkeit am 1. April 1999 bestanden.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor: Der JAV sei in ihrem Falle nach billigem Ermessen festzusetzen, da ihre weiteren Privatunfälle vom 28. Januar 2000 und vom August 2002 wie auch ihre Berufslaufbahn nicht hinreichend berücksichtigt worden seien.

Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 27. September 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2002 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 19. Juli 2001 bis 31. März 2002 eine höhere Gesamtvergütung unter Zugrundelegung eines Jahresarbeitsverdienstes von 40.000,00 Euro zu gewähren, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Antrag auf Gewährung einer Gesamtvergütung unter Festsetzung eines Jahresarbeitsverdienstes nach billigem Ermessen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und nimmt auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. März 2003 (B 2 U 15/02 R) Bezug.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Leistungsakten der Agentur für Arbeit P (2 Bände), die Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bände) und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, mit der sie bei verständiger Würdigung ihres Begehrens (vgl. § 123 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) die erstinstanzlich erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGG weiter verfolgt, ist nicht begründet.

Die Beklagte ist nicht verpflichtet, hinsichtlich der für die Zeit vom 19. Juli bis 31. März 2002 gewährten Gesamtvergütung einen höheren JAV festzusetzen oder die Klägerin im Hinblick auf den zu Grunde gelegten JAV neu zu bescheiden. Die Beklagte hat der Gesamtvergütung zutreffend den Mindest-JAV von 32.256,00 DM (= 16.492,23 Euro) zu Grunde gelegt.

Nach der wegen des nach dem 30. Dezember 1996 eingetretenen Versicherungsfalls anwendbaren (vgl. § 212 SGB VII) Vorschrift des § 85 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII beträgt der JAV für Versicherte, die - wie die Klägerin - im Zeitpunkt des Versicherungsfalls das 18. Lebensjahr vollendet haben, 60 v.H. der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls maßgebenden Bezugsgröße. Eine Ermittlung des JAV nach der Regelberechnung des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII scheidet vorliegend schon deshalb aus, weil die Klägerin in dem 12-Monatszeitraum vor dem von der Beklagten bindend als Arbeitsunfall anerkannten Ereignis vom 5. Februar 2001 allenfalls ein Arbeitseinkommen von insgesamt 3.000,00 DM erzielt und daneben laufend Anschluss-Arbeitslosenhilfe bezogen hatte. Die gewährte Anschluss-Arbeitslosenhilfe stellt kein Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) dar. Denn sie bildet kein Äquivalent für eine Arbeitstätigkeit der Klägerin und wird nicht als Entgelt im Hinblick auf eine der Klägerin konkret zuzuordnende Tätigkeit gezahlt (vgl. zum Bezug von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. privater Versicherungsleistungen BSG, Urteil vom 18. März 2003 -B 2 U 15/02 R- nicht veröffentlicht). Das danach im Rahmen von § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zu berücksichtigende Arbeitseinkommen der Klägerin in der Zeit vom 1. Februar 2000 bis 31. Januar 2001 liegt weit unter dem Mindest-JAV in Höhe von 60 v.H. der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls (5. Februar 2001) maßgebenden Bezugsgröße von 53.760,00 DM (West; 60 v.H. davon = 32.256,00 DM). Die Beklagte hat daher beanstandungsfrei den Mindest-JAV nach § 85 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII festgesetzt. Diese Festsetzung ist auch nicht in erheblichem Maße unbillig, so dass eine Bestimmung des JAV nach § 87 Satz 1 SGB VII nach billigem Ermessen im Rahmen des Mindest- und des Höchst-JAV (vgl. § 85 SGB VII) vorliegend ausscheidet.

Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, hat das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen. Unbilligkeit im Sinne des § 87 Satz 1 SGB VII ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; erst bei Vorliegen seiner Voraussetzungen hat der Versicherungsträger Ermessenserwägungen anzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 23. Januar 1993 - 2 RU 15/93 = HV-Info 1993, 972 m.w.N.; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9 m.w.N. und zuletzt BSG, Urteil vom 18. März 2003 -B 2 U 15/02 R-). Über das Vorliegen einer erheblichen Unbilligkeit in diesem Sinne kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Tatumstände entschieden werden. Dabei sind die in § 87 Satz 2 SGB VII genannten Bewertungsgesichtspunkte (Fähigkeiten, Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls) zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2002 - B 2 U 23/02 R = HVBG-Info 2003, 428).

Unter Würdigung der vom Gesetzgeber aufgeführten Bewertungsgesichtspunkte entspricht der von der Beklagten festgesetzte Mindest-JAV in Höhe von 32.256,00 DM in vollem Umfang der "Lebensstellung" der Klägerin im maßgebenden 12-Monatszeitraum, die einerseits durch ihr geringfügiges Arbeitseinkommen und zum anderen durch die bezogene Anschluss-Arbeitslosenhilfe geprägt gewesen ist. Dabei kann dahinstehen, ob die Gewährung von Anschluss-Arbeitslosenhilfe, die die Klägerin auch nach Eintritt des Versicherungsfalls weiter bezogen hat, zur Bestimmung des JAV im Rahmen des § 87 SGB VII herangezogen werden kann (vgl. ausdrücklich nur für Sozialleistungen, die nach dem Eintritt des Versicherungsfalls wegfallen: BSG, Urteil vom 18. März 2003 -B 2 U 15/02 R-). Denn die tatsächlichen Einkünfte im maßgebenden 12-Monatszeitraum von wöchentlich 452,06 DM bzw. - ab 28. September 2000 - 451,50 DM (Änderungsbescheide des Arbeitsamtes B N vom 18. Oktober 1999 und 26. Januar 2001) zuzüglich des Gesamtarbeitseinkommens aus der selbständigen Tätigkeit von etwa 3.000,00 DM liegen deutlich unter dem von der Beklagten festgesetzten Mindest-JAV in Höhe von 32.256,00 DM (= 16.492,23 Euro). Der von der Beklagten zu Grunde gelegte Mindest-JAV übersteigt das tatsächliche Einkommen der Klägerin im maßgebenden 12-Monatszeitraum vom 1. Februar 2000 bis 31. Januar 2001 somit wesentlich und ist mithin auch ohne Weiteres geeignet, den realen wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin Rechnung zu tragen. Damit ist auch nicht erkennbar, dass die Bestimmung des Mindest-JAV in erheblichem Maße unbillig wäre. Insbesondere die von der Klägerin in Bezug genommenen Bewertungskriterien, nämlich ihr zuletzt vor der Arbeitslosigkeit und weit vor Beginn des maßgebenden 12-Monatszeitraumes erzieltes Arbeitsentgelt als Architektin bzw. das Mindesthonorar für Architekten nach der HOAI, können bei der Wertung, ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, schon deshalb keine Berücksichtigung finden, weil Ausgangspunkt dieser Bewertung der dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung innewohnende Entschädigungsgedanke ist, nicht aber eine Besserstellung des Verletzten gegenüber dem Zustand, der ohne den Versicherungsfall bestanden hätte. Aus diesem Grunde können auch die Gesichtspunkte keine Berücksichtigung finden, welche die Klägerin in ihrer Berufungsbegründungsschrift vom 6. Januar 2004 aufgezeigt hat. Die Verletzungsfolgen sind bei der Einschätzung der MdE zu berücksichtigen, nicht aber bei der Festsetzung des JAV.

Da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 87 Satz 1 SGB VII nicht erfüllt sind, ist die Beklagte auch nicht verpflichtet, den JAV unter Beachtung der Wertungskriterien des § 87 Satz 2 SGB VII nach billigem Ermessen festzusetzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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