L 2 U 51/00

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 69 U 130/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 51/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juni 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1998 geändert. Die Beklagte wird verpflichtet, bei dem Kläger als Folgen des Unfalls vom 23. November 1994 eine bronchiale Hyperreagibilität anzuerkennen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger 1/4 der außergerichtlichen Kosten zu erstat- ten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Verletztenteilrente wegen eines Arbeitsunfalls vom 23. November 1994.

Der 1948 geborene Kläger war als Sportlehrer an der G H Oberschule in Berlin-Köpenick beschäftigt. In der Nacht vom 22. zum 23. November 1994 war der Fußboden der Sporthalle mit einem Polyurethankunststoff (PUR) beschichtet worden. Eine Öffnung der Fenster der Sporthalle vor Beginn der Arbeiten war unterblieben, lediglich die Tür zu einem Vorraum war geöffnet. In diesem Vorraum hielt sich der Kläger am 23. November 1994 von 7.45 Uhr bis 8.10 Uhr auf und unterrichtete anschließend in einem vom Vorraum abgehenden Seminarraum von 8.10 Uhr bis 8.45 Uhr und von 8.45 Uhr bis 9.40 Uhr. Wegen des sich verbreitenden "aufdringlichen Geruchs" wurden der Unterricht um 9.40 Uhr abgebrochen und die Schüler der gesamten Schule nach Hause geschickt.

Der Kläger begab sich um 10.10 Uhr zu dem praktischen Arzt und Arbeitsmediziner N, der in einer ärztlichen Unfallmeldung vom 8. Dezember 1994 als Beschwerden des Klägers "Reizhusten, Schwindelgefühl, Kopfschmerz" und als Befund "etwas Giemen und Brummen" angab. Die Diagnose lautete: Reizung der Haut und Schleimhäute durch "Reizgas". Es wurden 100 mg Prednisolon oral verabreicht. Der Arzt N veranlasste eine neurologische, augenärztliche und lungenfachärztliche Untersuchung des Klägers. Der Lungenfacharzt Dr. B stellte am 25. November 1994 keine bronchio-pulmonale Erkrankung fest und teilte in einem Arztbrief vom 18. Januar 1995 mit, nach telefonischer Auskunft der Toxikologischen Beratungsstelle sei durch Inhalation der Lösungsmittel nicht mit dauernden Lungenschäden zu rechnen. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W erhob am 25. November 1994 einen völlig unauffälligen neurologischen Status. Die Augenärztin B gab auf der Grundlage einer Untersuchung vom 23. November 1994 einen geringen Reizzustand der Bindehaut am rechten Auge an; toxikologische Sehstörungen seien fraglich, da keine Vorbefunde des Sehvermögens vorlägen.

Aufgrund einer Anzeige einer Berufskrankheit des Klägers vom 26. Januar 1995 holte die Beklagte Befundberichte ein und nahm das Sicherheitsdatenblatt hinsichtlich der PUR-Markierungsfarbe (Komponente A) und der PUR-Versiegelung K zur Akte. Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten kam am 8. März 1995 zu dem Ergebnis, dass eine schädigende Wirkung der angeschuldigten Noxen wenige Stunden nach deren Auftragen nicht auszuschließen sei. Bei einem solchen Anlass könne es dazu kommen, dass gegenüber dem chemischen Stoff eine multiple chemische Hypersensibilität in Erscheinung trete, die nach dem Auslöseereignis noch zunehme. Hierzu bedürfe es einer gezielten arbeitsmedizinischen Abklärung.

Der von der Beklagten angehörte Gewerbearzt Dr. S sah keinen hinreichenden Grund für die Annahme einer Berufserkrankung (Stellungnahme vom 18. September 1995).

Mit Bescheid vom 18. März 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 1996 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit ab. Aufgrund einer Lösungsmittelgemischexposition für zwei Stunden sei die Verwirklichung einer Berufskrankheit unwahrscheinlich. Zur Klärung, ob die andauernden gesundheitlichen Beschwerden als Arbeitsunfallfolgen anzuerkennen seien, solle ein Zusammenhangsgutachten von Prof. Dr. S, Institut für Arbeitsmedizin der Freien Universität Berlin, eingeholt werden, vorausgesetzt, der Kläger unterziehe sich der vorgeschlagenen Untersuchung.

Der Kläger reichte ein Schreiben des ihn behandelnden Psychotherapeuten Z an den Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirksamtes Köpenick (vom 11. August 1996) sowie einen Arztbrief von Dr. W vom 23. August 1996 zur Akte, der angab, die weiter bestehenden seelisch begründeten Körperbeschwerden seien rückblickend im Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall zu sehen, möglicherweise jedoch nur als Auslöser.

Prof. Dr. S wies in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 26.August 1997 darauf hin, dass der Kläger am 22. März 1995 auf Veranlassung des Arbeitsmediziners N das Institut für Arbeitsmedizin der FU aufgesucht habe. Dabei habe er angegeben, dass er sich von 7.45 Uhr bis 8.00 Uhr im Vorraum der Turnhalle aufgehalten habe. Anschließend sei er in einen anderen Raum zum Unterricht gegangen, der etwa 15 bis 20 m von der Turnhalle entfernt gelegen sei. Damit lasse sich die mögliche Expositionszeit gegenüber den Dämpfen eines unbekannten Lösungsmittelgemischs mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit auf 15 Minuten eingrenzen. Eine derartig kurze Expositionszeit möge zwar geeignet sein, eine kurzdauernde Reizung der Augenschleimhäute und der oberen Atemwege hervorzurufen, nicht aber einen anhaltenden Beschwerdekomplex zu verursachen.

Mit Bescheid vom 6. Oktober 1997 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab. Der Arbeitsunfall habe keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade über die 13. Woche hinaus hinterlassen. Objektivierbare Körperschäden im Sinne einer traumatischen Entstehung, die allein auf das Unfallereignis vom 23. November 1994 zurückzuführen wären, hätten sich nicht feststellen lassen.

Mit seinem Widerspruch verwies der Kläger darauf, es habe sich um eine Expositionszeit von zwei Stunden gehandelt, weil die gesundheitsschädigenden Dämpfe sich in den unmittelbar angrenzenden Nebenräumen zur Sporthalle in unverminderter Konzentration ausgebreitet hätten. Nachweislich könnten allein Xylol und Cyclohexanon Schädigungen des zentralen Nervensystems, depressive Störungen, Schädigungen der Leber und der Lunge auslösen. Seine gesundheitlichen Reaktionen stimmten hiermit überein. Auch werde eine posttraumatische Belastungsstörung nicht geprüft.

Durch Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Maßgeblich seien die verursachten Schädigungen im Einzelfall. Der Gutachter habe die vorliegenden Befundberichte berücksichtigt, aber nicht die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen dem Ereignis und den körperlichen Wirkungen feststellen können.

Das dagegen angerufene Sozialgericht Berlin hat eine Auskunft des Neurologen und Psychiaters Dr. K vom 10. September 1998 zur Akte genommen und eine Stellungnahme des Arbeitsmediziners Dr. B vom 12. Januar 1999 eingeholt. Dieser hat darauf hingewiesen, dass der Zwei-Komponentenwirkstoff PUR in der Komponente B auch Isozyanate enthalten habe. Diese zählten bei der Ausgasung zu den sehr stark reizenden Stoffen für das Atmungsorgan, nicht aber zu Stoffen, die neurotoxisch wirkten und Störungen am Nervensystem auslösen würden. Es müsse eine Trennung zwischen den Akutfolgen durch Reizung an den Schleimhäuten durch Isozyanatdämpfe und den geltend gemachten chronischen Beschwerden aus dem neurologisch-psychiatrischen Formenkreis durch neurotoxische Wirkung von Dämpfen aus dem Lösemittelgemisch vorgenommen werden. Auch sei aufzuklären, warum eine Gabe von 100 mg Prednisolon erforderlich gewesen sei.

Das Sozialgericht holte ein Erkrankungsverzeichnis der Barmer Ersatzkasse sowie einen Befundbericht des Arztes N vom 13. April 1999 ein, der die Behandlung mit Prednisolon mit "Prophylaxe, da bei Reizgas die Gefahr eines Lungenödems auftreten" könne, mitteilte und die kopierten Behandlungsunterlagen des Klägers übersandte. Des Weiteren gelangte ein Arztbrief der Lungenärztin Dr. F vom 11. Januar 1999 sowie eine gutachterliche Stellungnahme des Neurologen Dr. Lvom 8. Mai 1999 zur Akte. Dr. L hielt es für sehr wahrscheinlich, dass das an sich nur atemwegsirritativ wirksame Unfallereignis durch akute Auslösung einer Panikattacke psychisch eine Angst/Panikerkrankung initiiert habe. Das Sozialgericht hat ein lungenfachärztliches Gutachten von Dr. R vom 9. August 1999 eingeholt, die nach einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt ist, eine nachgewiesene restriktive Funktionsstörung sei bei Abwesenheit einer anderen organischen Krankheit auf die Übergewichtigkeit des Klägers zurückzuführen und bedinge zum wesentlichen Teil die Luftmangelgefühle des Klägers. Es liege eine bronchiale Hyperreagibilität vor, die durch Isozyanate ausgelöst worden sein könne, ein Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs sei wegen fehlender Untersuchungen in unmittelbarem Zusammenhang vor und nach dem schädigenden Ereignis nicht zu führen. Die bronchiale Hyperreagibilität bedinge eine MdE von 10 v.H. Die bezüglich obstruktiver Bronchialerkrankungen leere Anamnese spreche dafür, dass ein ursächlicher Zusammenhang vorliege. Eine psychiatrische Begutachtung sei dringend empfohlen.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme von Prof. Dr. S (vom 28. Oktober 1999) ein, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen kurzfristiger Isozyanatexposition und bronchialer Hyperreagibilität nicht zu erkennen vermochte. Der vom Sozialgericht mit der Erstattung eines psychiatrischen Gutachtens beauftragte Dr. B hat in seinem Gutachten vom 25. Januar 2000 darauf hingewiesen, es habe schon vor dem Arbeitsunfall ein depressives Syndrom mit einer Arbeitsunfähigkeitszeit vom 6. Mai 1994 bis 9. Juni 1994 bestanden, deretwegen der Kläger in neurologisch-psychiatrische Behandlung überwiesen worden sei. Es sei damals ein eventueller Arbeitsplatzwechsel empfohlen worden. Der psychopathologische Befund sei zu dem Gesamteindruck einer tiefgreifenden Verunsicherung zusammenzufassen. Es sei die Diagnose einer neurotischen Entwicklung phobisch vermeidender und subdepressiver Ausgestaltung vor dem Hintergrund einer unausgeglichenen, selbstunsicheren Persönlichkeit zu stellen. Für die neurotische Entwicklung/Dysthymia stelle das Ereignis vom 23. November 1994 keine wesentliche Bedingung dar. Die unterhaltenden Bedingungen überwögen so eindeutig, dass das Ereignis eine Gelegenheitsursache darstelle. Eine posttraumatische Belastungsstörung liege nicht vor, weil das belastende Ereignis nach Art und Schwere keinesfalls als so existenzbedrohend oder katastrophal zu bewerten sei, dass daraus eine derart anhaltende Störung abgeleitet werden könne.

Der Kläger hat dagegen eingewendet, auch verschiedene Schüler hätten mit Erbrechen reagiert und sich in ärztliche Behandlung begeben müssen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2000 hat der Kläger die räumlichen Verhältnisse und seinen Aufenthalt in der Nähe der Sporthalle geschildert.

Durch Urteil vom 9. Juni 2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die bei dem Kläger vorliegende erhebliche Beschwerdesymptomatik sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 23. November 1994 zurückzuführen. Die Beklemmungsgefühle, Luftnot, Angstzustände und Panikattacken würden auf einer bereits vor dem Unfall bestehenden neurotischen Entwicklung beruhen. Auf der Grundlage der Stellungnahme der den Kläger unmittelbar nach dem Unfall behandelnden Ärzte sei auszuschließen, dass die Beschwerdesymptomatik auf organische Befunde zurückzuführen sei. Die Beschwerden seien auch nicht durch eine posttraumatische Belastungsstörung hervorgerufen worden, sondern seien von einer anlagebedingten psychischen Störung des Klägers ausgegangen. Die Kammer schließe sich dem Gutachten von Dr. B voll umfänglich an. Ob eine "chronische Hyperreagibilität" als Arbeitsunfallfolge anerkannt werden könne, könne offen bleiben, weil diese nur zu einer MdE von 10 v.H. führen könne.

Gegen das ihm am 20. Juli 2000 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 24. Juli 2000. Er macht geltend, seine Grundpersönlichkeit sei bereits durch erhebliche Spannungen im Arbeitsfeld labilisiert gewesen, als das dekompensationsauslösende Element des chemisch-toxischen Unfalls hinzugetreten sei. Seit Anfang 1999 habe sich der Zustand deutlich stabilisiert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juni 2000 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 1997 in der Fassung des Wi- derspruchsbescheides vom 28. Januar 1998 zu ändern und die Beklag- te zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. No- vember 1994 eine Verletztenteilrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat u.a. den Heilverfahrensentlassungsbericht der Hklinik BZ über einen Aufenthalt vom 13. Januar 1998 bis 24. Februar 1998 sowie medizinische Unterlagen des Arbeitsamtes Berlin Süd und die im Schwerbehindertenverfahren eingeholten Gutachten zur Akte genommen. Anschließend hat der Senat die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. S zur medizinischen Sachverständigen bestellt. Die Sachverständige ist in ihrem Gutachten vom 26. August 2002 zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger bestehe eine Agoraphobie mit Panikstörung und fluktuierendem passageren depressiven Symptomen sowie ein zum phobischen Meidungsverhalten zählender sozialer Rückzug. Den Ereignissen vom 23. November 1994 komme zwar eine Auslösefunktion zu, die jedoch mit diversen anderen typischen Situationen austauschbar wäre, die der Auftaktsymptomatik einer phobischen Erkrankung entsprächen. Typischerweise werde die Auftaktsymptomatik mit der unmittelbaren Umgebungssituation von den Betroffenen kausal korreliert, da aus psychodynamischen Gründen gerade die stets im Hintergrund zu eruierende Konfliktsituation abgewehrt und nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Mitbedingende Faktoren seien neben dem erhöhten Kontrollbedürfnis und Harmoniewunsch des Klägers in seiner von zahlreichen Enttäuschungen gekennzeichneten Vita zu sehen. Die latente Konfliktsituation zwischen dem Kläger und seinem Vorgesetzten müsse als das jetzige Gesundheitsbild mitbedingender Faktor berücksichtigt werden. Diese stellten die wesentlichen Ursachen für die Erkrankung dar. Von der Stellungnahme von Dr. L werde abgewichen, da aus der körperlichen Belastbarkeit und dem Beruf keine ausreichenden Schlüsse auf eine stabile und leistungsmotivierte Persönlichkeitsstruktur zu ziehen seien. Vielmehr sei die Persönlichkeitsstruktur des Klägers eher so komponiert, dass sie mit einer erhöhten Vulnerabilität für die Situationen einhergehe, in denen die bisherigen Bewältigungsmechanismen suspendiert würden. Ein kleinster äußerer Anlass sei nicht geeignet, eine psychische Erkrankung zu verursachen, die darüber hinaus lebensgeschichtlich und persönlichkeitsbedingt determiniert sei.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. F-B, Leiter der Abteilung Epidemiologie der Umwelt und des Arbeitslebens des B Instituts für Präventivforschung und Sozialmedizin, vom 29. November 2003 eingeholt. Dieser hat darauf verwiesen, dass schon aus dem Sicherheitsblatt abzuleiten sei, dass die Komponente B beim Einatmen zu einer Sensibilisierung führen könne, was den chronischen Prozess weitgehend plausibel erscheinen lasse. Auch bei einwandfreier Lüftung sei erst nach drei bis sieben Tagen eine Aushärtephase mit physiologischer Unbedenklichkeit erreicht. Die Langzeitwirkung mit anhaltenden Störungen "bleibe strittig". Aus der Tatsache, dass eine Dosis von 100 mg Prednisolon gegeben worden sei, die nur im Falle eines lebensbedrohenden Asthmaanfalles indiziert sei, werde deutlich, dass der Arzt ein Eingreifen für erforderlich gehalten hat, um eine drohende Verschlimmerung der Atemnot und möglicherweise durch Entzündungsreaktion in der Lungenschleimhaut ein Versagen der Atmung zu verhindern. Durch derartige Kortikoide werde zwar kurzfristig ein bedrohlicher Zustand gebessert, doch liefen die für die körperliche Abwehr der toxischen Substanzen notwendigen Funktionen nicht regelrecht ab. Nicht anders seien die anhaltenden Reaktionen mit sich ständig erhaltender Symptomatik zu erklären. Lösungsmittel hätten andauernde Wirkung auf zentralnervöse Bereiche und deren Funktionen. In der Literatur beschriebene Verhaltensänderungen nach Riechstörungen seien mit den Panikattacken, über die der Kläger berichte, vergleichbar. Da der Kläger durch die einmalige hochgradige Einwirkung zu einer empfänglichen Person geworden sei, sei jeglicher neuer und überraschend auftretender flüchtiger Auslöser von Attacken zu vermeiden. Unter Würdigung der gesamten, fast 10-jährigen frustrierenden Patientenkarriere sei eine MdE von 70 angemessen. Dabei werde die Gefährdung für neurodegenerative Erkrankungen in der Zukunft in die Bewertung einbezogen. Von Prof. Dr. S werde abgewichen, weil sich der Gutachter nirgendwo mit den Angaben im Sicherheitsblatt befasse und die Unterschiede der individuellen Empfänglichkeit für neurotoxische Wirkungen nicht berücksichtige. Das Gutachten von Dr. R sei nur bedingt verwertbar, weil die Zusammenhänge zwischen zentralnervöser Regulierung der Atmung und die Begründung für Atemnotattacken ausschließlich auf die Lungenleistungsfähigkeit zurückgeführt würden. Dr. L werde zugestimmt, weil er die kausale Kette richtig einordne und die beim Kläger abgelaufenen Prozesse kompetent und nachvollziehbar abgeleitet habe. Dr. B habe nicht berücksichtigt, dass eine Unausgeglichenheit die Umschreibung der gestörten autonomen Regulation des gesamten Körpers bedeute, wobei psychovegetativ direkt auf die neurotoxische Langzeitwirkung hingewiesen werde, die bei dem zuvor gesunden Sportlehrer vor dem Unfall nicht vorgelegen habe. Die Bewertung, dass sich kein Hinweis auf eine hirnorganische Beeinträchtigung infolge der Ereignisse 1994 ergebe, werde nicht hinreichend belegt und sei nicht nachvollziehbar. Dr. S habe nicht beachtet, dass allein der berichtete Libidoverlust nach der toxischen Spitzenbelastung bei neurologischer Fachkompetenz einen Verdacht einer Intoxikation des Hirnstammes nahe lege. Die Problematik der Intoxikation auf eine individuelle Schicksalsdeutung zu verschieben, sei eine gravierende, durch nichts begründbare Psychiatrisierung eines toxisch geschädigten Menschen.

Die Beklagte hat hiergegen eingewandt, das Gutachten überzeuge nicht, weil es die bei dem Kläger vorliegenden unfallunabhängigen Faktoren in die Bewertung einbeziehe und nicht zur Diskussion stelle, so dass auch eine Abwägung der Gewichtigkeit der einzelnen Faktoren in Bezug auf die Ursächlichkeit der noch bestehenden Gesundheitsstörungen nicht vorgenommen werde.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des Sozialgerichts) sowie der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist weitgehend unbegründet. Dem Kläger steht aufgrund eines am 23. November 1994 erlittenen Unfalls keine Verletztenteilrente wegen einer MdE von wenigstens 20 v.H. zu, weil die nach dem Unfall verbliebenen Verletzungsfolgen nicht die Annahme einer rentenberechtigenden MdE rechtfertigen. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass über eine bronchiale Hyperreagibilität als Unfallfolge hinaus weitere Unfallfolgen anerkannt werden.

Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO), der hier noch zur Anwendung kommt, weil der Versicherungsfall vor dem Außer-Kraft-Treten des Dritten Buches der RVO am 31. Dezember 1996 eingetreten ist (§ 212 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch -SGB VII-), wird, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem Grad der MdE entspricht. Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da das Ereignis keine bedeutsamen, einen Rentenanspruch begründenden Gesundheitsstörungen hinterlassen hat.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) reicht für die Bejahung der Ursächlichkeit des Unfallereignisses für die vorliegenden Gesundheitsstörungen die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. u.a. BSGE 45, 225 und 286; 58, 76, 79). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann.

Nach Auswertung aller in den Akten befindlichen Unterlagen, einschließlich der Erkenntnisse zur medizinischen Vorgeschichte des Klägers seit 1993 und der im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die über die Hyperreagibilität hinaus geltend gemachten Gesundheitsstörungen ursächlich auf das Ereignis vom 23. November 1994 zurückzuführen sind.

Da es sich bei den streitigen Unfallfolgen um medizinische Tatsachen handelt, hatte das Gericht nach den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Beweisgrundsätzen eine Feststellung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnenden Überzeugung zu treffen. Unter Beachtung dieser Grundsätze ist das Gericht nach Auswertung der medizinischen Aktenlage - ohne eigene medizinische Sachkunde - zu der Überzeugung gelangt, dass ein Anspruch auf Verletztenteilrente nicht besteht.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die bei dem Kläger erstmals 1999 festgestellte bronchiale Hyperreagibilität als Unfallfolge anzusehen ist. Dr. R hat in ihrem Gutachten vom 9. August 1999 schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass bei dem Kläger eine bronchiale Hyperreagibilität vorliegt. Des Weiteren hat sie darauf hingewiesen, dass die Isozyanate eine solche induzieren können. Die Tatsache, dass ein Nachweis über diesen ursächlichen Zusammenhang nicht zu führen ist, steht einer Anerkennung als Unfallfolge nicht entgegen, da für diesen Zusammenhang die Feststellung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausreichend ist. Hierzu führt die Gutachterin aus, dass die bezüglich obstruktiver Bronchialerkrankungen leere Anamnese dafür spreche, dass ein solcher ursächlicher Zusammenhang vorliege. Dem Einwand von Prof. Dr. S hiergegen, dass andere anlagebedingte Faktoren bislang nicht berücksichtigt seien, spricht nicht gegen einen derartigen Kausalzusammenhang, da dem gesamten Akteninhalt anlagebedingte Faktoren nicht zu entnehmen sind. Die Tatsache allein, dass die Hyperreagibilität erst vier Jahre nach dem Unfallereignis durch Dr. F festgestellt worden ist, spricht nicht gegen einen derartigen Kausalzusammenhang, da Dr. R insoweit für den Senat nachvollziehbar darauf hingewiesen hat, dass eine entsprechende Untersuchung zuvor nicht stattgefunden hat.

Darüber hinaus macht der Kläger als Unfallfolge vor allem Panikattacken mit Atemnot und Schwindelanfällen geltend. Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass diese Einschränkungen vorliegen. Er hält es jedoch nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass sich diese Beeinträchtigungen auf den Unfall vom 23. November 1994 zurückführen lassen. Dr. B und Dr. S sind in ihren Gutachten übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass das potentiell schädigende Ereignis eine Gelegenheitsursache darstellt. Dr. B hat hierzu darauf hingewiesen, dass eine denkbare Neurotoxizität nur berücksichtigt werden kann, wenn sie eine neurologische bzw. psychopathologische Befundlage zur Folge hat. Für einen "Vergiftungsschaden" ergebe sich nach dem gesamten Akteninhalt kein Anhaltspunkt. Die Annahme einer Erkrankung des limbischen Systems sei spekulativer Natur. Demgegenüber seien die biographische Prädisposition und unterhaltende Faktoren der neurotischen Fehlentwicklung hinreichend zu belegen. Hierzu hat der Gutachter darauf hingewiesen, dass der Kläger Kampfsport zu seinem Lebensinhalt gemacht habe, ihm aber internationale Erfolge als Nichtmitglied der SED verwehrt geblieben seien. Gekränkt habe er sich aus der Sportwissenschaft nach Verweigerung einer Promotionsstelle zurückgezogen. Die narzisstische Aufwertung durch eine junge Studentin, die ihn aus der Ehe gelöst habe, sei nur von kurzer Dauer gewesen. Nach der Wende sei er nicht gebührend für seine saubere Vita gewürdigt worden. Vielmehr habe er die Konkurrenz um ein Schuldirektorium verloren, dem er in der Folge die Ablehnung eines beruflichen Wiedereingliederungsversuches anlaste. Dr. S weist neben der sich Anfang der 90er Jahre zuspitzenden beruflichen Situation auf die Probleme auf persönlicher Ebene hin. Der Kläger habe nach dem Scheitern zweier Ehen eine erneute Enttäuschung erlebt, die in Form depressiver Beschwerden so deutlich geworden sei, dass er über zwei Monate habe arbeitsunfähig krankgeschrieben werden müssen. In dieser Situation habe er die von ihm als Arbeitsunfall mit anhaltenden gesundheitlichen Konsequenzen erlebte Konfrontation mit Lösungsmitteldämpfen erlebt. Neben dem Empfinden akuter körperlicher Beschwerden dürfte in dem Empfinden, in der Hoffnung auf Anweisungen und Verantwortungsübernahme durch den Vorgesetzten enttäuscht zu werden, eine wesentliche auslösende Bedingung für den ersten Angstanfall des Klägers zu sehen sein. Dr. S hat insbesondere für den Senat schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass aus psychodynamischen Gründen die stets im Hintergrund zu eruierende Konfliktsituation abgewehrt und nicht zur Kenntnis genommen worden sei, bis eine Auftaktsymptomatik aufgetreten sei. Diese Einschätzung wird im Wesentlichen auch von den den Kläger behandelnden Psychiatern bzw. Psychotherapeuten geteilt.

Zu einer anderen Bewertung kann der Senat auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens von Prof. Dr. F-B gelangen. Der Senat folgt den Ausführungen des Gutachters dahingehend, dass die in den Dämpfen enthaltenen Lösungsmittel geeignet sind, auf zentralnervöse Bereiche und deren Funktionen einzuwirken. Auch ist für den Senat nachvollziehbar, dass die Intoleranz gegenüber dem biologischen Gewebe fremden Stoffen von Persönlichkeitsfaktoren abhängig ist und dass Verhaltensänderungen und Riechstörungen nach beruflichen Einwirkungen von Lösungsmittelgemischen eintreten können. Bezweifelt wird auch nicht, dass als Reaktion hierauf bestimmte Gerüche extrem unangenehm empfunden werden und Anstrengungen unternommen würden, um die Gerüche zu vermeiden. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass dies - wie der Gutachter ausführt - fast den Panikattacken, über die der Kläger berichtet, entspreche. Hierfür ist dem Gutachten von Prof. Dr. F-B auch keine Begründung zu entnehmen.

Ob psychische Reaktionen als Unfallfolge anzuerkennen sind, richtet sich nach den Grundlagen der Zusammenhangsbeurteilung in der Unfallversicherung. Danach ist - wie umfänglich in dem Standardwerk Arbeitsunfall und Berufskrankheit von Schönberger/Mehrtens/Valentin dargelegt, auf das in der Beweisanordnung hingewiesen worden ist - darauf abzustellen, dass auch leichte Unfälle schwere Erlebnisreaktionen auslösen können. Zu berücksichtigen ist die Persönlichkeit in ihrem ganzen sozialen Gefüge, ihrem Alter und ihrer Lebenssituation (a.a.O. S. 257). Beim Vorliegen psychogener Störungen, auf die sowohl Dr. B als auch Dr. S nach jeweiliger persönlicher Untersuchung des Klägers hingewiesen haben, ist zu prüfen, ob der Zurechnungszusammenhang gegeben ist. Wirken physische Traumatisierung mit einer Krankheitsanlage zusammen, entscheidet die Abwägung der Ursachenfaktoren, ob und inwieweit das Unfallereignis als rechtlich wesentliche Ursache zu werten ist. Es reicht, wenn das Unfallereignis als annähernd gleichwertig gilt: Nicht ein quantitativer Maßstab ist heranzuziehen, auf die qualitative Wertigkeit des Unfallereignisses gerade für den Betroffenen muss unter Berücksichtigung spezifischer Disposition abgestellt werden (a.a.O. S. 258 unter 5.3.9.1). Ein unfallbedingtes physisches Trauma, welches nur aufgrund des Zusammenwirkens mit anlagebedingten Faktoren zu einer weitergehenden Gesundheitsstörung führt, ist rechtlich nicht wesentliche Ursache, wenn die bestehende Krankheit oder Krankheitsanlage bereits so ausgeprägt war, dass der durch das Unfallereignis verursachte Gesundheitsschaden wahrscheinlich etwa zu derselben Zeit und etwa denselben Umfang ebenso hätte eintreten können unter Mitwirkung äußerer Einwirkungen, die alltäglichen Belastungen des normalen Lebens entsprechen. Es reicht aus, wenn nach gutachterlicher Aussage geringfügige Ereignisse mit Wahrscheinlichkeit zu den gleichen Folgen führten und es nicht unersetzlicher Einwirkung bedurfte (a.a.O. S. 260). In diesem Zusammenhang hat Dr. B auf die Arbeitsunfähigkeitszeiten vor November 1994 besonderen Wert gelegt und darauf verwiesen, dass ein depressives Syndrom, Überforderungssyndrom, Schwindel, Leistungsminderung vorgelegen hätten. Dr. S hat insbesondere den psychosozialen Hintergrund dieser Erkrankungen herausgearbeitet. Beide Gutachter kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass das Ereignis vom November 1994 in diesem Zusammenhang nur eine Gelegenheitsursache darstellt. Dr. B hat insoweit darauf hingewiesen, dass das Ereignis in eine konfliktbeladene und verstrickte Arbeitsplatzsituation gefallen sei. Vor dem Hintergrund eines älteren und tiefergehenden Konfliktes habe eine sekundäre neurotische Fehlentwicklung stattgefunden, die die wesentliche Bedingung für das Leiden in der neurotischen Entwicklung darstelle. Auch Dr. S hat die bereits vorher schwelenden interaktionellen Konflikte als aufrechterhaltende Bedingungen für die sich manifestierende Agoraphobie eingeschätzt und ergänzend darauf hingewiesen, dass die im Vorfeld gescheiterten persönlichen Beziehungen erhebliche Bedeutung hätten, da die Angsterkrankung mittlerweile ein Bindeglied zu den verschiedenen hilfreichen Bekannten, der geschiedenen Ehefrau und nicht zuletzt der Tochter darstelle. Dieser Zusammenhang, den die Gutachterin aus der Persönlichkeitsstruktur des Klägers heraus entwickelt hat, wird durch die Ausführungen von Prof. Dr. F-B nicht widerlegt. Vielmehr führt er dagegen an, es handele sich um eine gravierende, durch nichts begründbare Psychiatrisierung eines toxisch geschädigten Menschen, wenn die Problematik der Intoxikation auf die individuelle Schicksalsdeutung verschoben werde.

Ist nach alledem lediglich eine bronchiale Hyperreagibilität als Arbeitsunfallfolge zu berücksichtigen, unterliegt die Einschätzung der Gutachterin Dr. R, diese bedinge nur eine MdE von 10 v.H., keinen Bedenken. Denn die Gutachterin führt für den Senat nachvollziehbar aus, dass die bronchiale Hyperreagibilität nicht zu Beschwerden führe und keine obstruktive Einschränkung der Lungenfunktion auf Dauer verursache. Bei Fehlen von typischen Beschwerden und organischen Veränderungen erscheint eine MdE von 10 v.H. eher sehr großzügig.

Eine MdE unter 20 v.H. ist jedoch für einen Rentenanspruch nicht festzustellen.

Die Kostenentscheidung folgt dem Ergebnis in der Hauptsache und beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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