L 9 KR 305/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 75 KR 263/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 305/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für eine in den Jahren 1998 bis 2001 durchgeführte kieferorthopädische Behandlung.

Die im Mai 1978 geborene Klägerin war seit dem 1. September 1997 bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Wegen Nichtanlage von vier Zähnen im Unterkiefer befand sie sich nach eigenen Angaben von 1986 bis mindestens 1990 in Chemnitz in kieferorthopädischer Behandlung. Im Rahmen dieser Behandlung wurden ihr u.a. zwei Zähne im Oberkiefer extrahiert und im Unterkiefer ein Lückenschluss für zwei Zähne erreicht. In den Folgejahren wurde die Klägerin lediglich einige wenige Male wegen verschiedener kariöser Defekte zahnärztlich behandelt. Am 2. Juli 1998 stellte sie sich sodann in Berlin in der Praxis der Fachzahnärztin für Kieferorthopädie G "mit der Bitte um Weiterbehandlung" vor. Diese Zahnärztin wandte sich mit ihrem Schreiben vom 8. Juli 1998 an die Beklagte und bat, sich an den Kosten einer erneuten "unumgänglichen" kieferorthopädischen Behandlung zu beteiligen. Nachdem die Beklagte die beantragte Kostenbeteiligung gegenüber der Klägerin mit ihrem - eine Rechtsmittelbelehrung nicht enthaltenden - Bescheid vom 16. Juli 1998 mit der Begründung abgelehnt hatte, die Behandlung gehöre nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung, weil die Klägerin bereits das 18. Lebensjahr vollendet habe und eine Ausnahmeindikation nicht vorliege, erstellte die Kieferorthopädin G am 26. August 1998 einen kieferorthopädischen Behandlungsplan. Wie schon in ihrem Schreiben vom 8. Juli 1998 diagnostizierte sie hierin, dass die Klägerin u.a. an einer multiplen Nichtanlage von Zähnen im Unterkiefer bei Neutralbiss und extrem tiefem Biss leide, und teilte mit, dass sie neben weiteren Maßnahmen eine Multibandbehandlung im Unterkiefer sowie eine Oberkieferzahnbogenausformung nebst Beseitigung der lückigen Frontzahnstellung beabsichtige. Die hierfür erforderlichen Gesamtkosten schätzte sie auf 5.677,96 DM (= 2.903,09 EUR ). Die Beklagte stellte die Klägerin daraufhin dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin e.V. (MDK) vor, für den die Zahnärztin B in Vertretung für den mit der Untersuchung der Klägerin befassten zahnärztlichen Gutachter Dr. Dr. M am 11. November 1998 das Vorliegen einer Erkrankung im Sinne der Nr. 5 des Abschnitts B der Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung (KFO-Richtlinien) verneinte und der Zahnarzt für Kieferorthopädie Dr. H am 1. Dezember 1998 nach Aktenlage angab, bei der Klägerin liege zwar ein behandlungsbedürftiger Fall vor, eine kombinierte chirurgisch-kieferorthopädische Behandlung sei jedoch nicht erforderlich. Hierauf gestützt lehnte die Beklagte eine Beteiligung an den Kosten der kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin nochmals mit ihrem Bescheid vom 3. Dezember 1998 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen der Nr. 5 des Abschnitts B der KFO-Richtlinien lägen nicht vor; soweit danach eine Beteiligung an den Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung nach Vollendung des 18. Lebensjahres ausnahmsweise dann möglich sei, wenn Kieferanomalien bestünden, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erforderten, lasse sich dies im Fall der Klägerin nicht feststellen.

Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin, die die von ihr für erforderlich gehaltene kieferorthopädische Behandlung bei der Kieferorthopädin G in der Folgezeit durchführen ließ, geltend: Auf die Ausnahmevorschrift der Nr. 5 des Abschnitts B der KFO-Richtlinien komme es in ihrem Fall nicht an, weil sie die kieferorthopädische Behandlung bereits im Jahre 1986 vor Vollendung des 18. Lebensjahres begonnen habe und selbige jetzt nur fortführe. Grund hierfür sei, dass die Weisheitszähne, auf deren Durchbruch man habe warten müssen, nun endlich angelegt seien. Davon abgesehen sei aber auch eine der unter die Ausnahmevorschrift fallenden Ausnahmeindikationen gegeben, weil sie nach den Feststellungen ihrer behandelnden Kieferorthopädin G an einem extrem tiefen Biss leide, der die Durchführung einer kieferorthopädischen Behandlung zulasten der Beklagten auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres erlaube. Die zu einem anderen Ergebnis gelangenden Gutachten des MDK seien nicht brauchbar. Diesen Widerspruch wies die Beklagte unter Bezugnahme auf die eindeutige Gesetzeslage und die Gutachten des MDK mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 22. März 1999 als unbegründet zurück.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen weiter vertieft und die ihr durch die Durchführung der kieferorthopädischen Behandlung von 1998 bis 2001 entstandenen Gesamtkosten auf 2.922,22 DM (= 1.494,11 EUR ) beziffert.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachzahnärztin A, des Fachzahnarztes Dr. B, der Fachzahnärztin für Allgemeine Stomatologie Dr. H sowie der Fachzahnärztin für Kieferorthopädie G eingeholt und nach nochmaliger negativer Stellungnahme von Dr. H die Klage auf Erstattung von 2.922,22 DM (= 1.494,11 EUR ) für die kieferorthopädische Behandlung mit seinem Urteil vom 12. März 2001 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Dem geltend gemachten Anspruch stehe die Bestimmung des § 28 Abs. 2 Satz 6 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) entgegen. Soweit danach eine kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr bereits vollendet hätten, nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehöre, greife diese Vorschrift hier ein. Denn für die Frage, wann eine Behandlung begonnen worden sei, sei maßgeblich auf den Zeitpunkt der Ausstellung des Behandlungsplans abzustellen, der im Fall der Klägerin auf den 26. August 1998 datiere. Zu diesem Zeitpunkt sei die Klägerin bereits 20 Jahre alt gewesen. Dass sie - was das Gericht als wahr unterstelle - bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahres in Chemnitz eine kieferorthopädische Behandlung habe durchführen lassen, führe zu keinem anderen Ergebnis. Denn mit der in Rede stehenden kieferorthopädischen Behandlung habe die Klägerin die frühere Behandlung nicht fortgesetzt. Dies zeige sich bereits daran, dass sie sich in der Zwischenzeit nur sehr sporadisch überhaupt in zahnärztlicher Behandlung und gar nicht in kieferorthopädischer Behandlung befunden habe. Zudem sei nicht ersichtlich, dass allein medizinische Gründe für die Unterbrechung verantwortlich gewesen sein könnten. Auf die Ausnahmevorschrift des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V könne sich die Klägerin nicht berufen. Soweit danach die kieferorthopädische Behandlung eines Erwachsenen ausnahmsweise dann in den Versicherungsschutz einbezogen sei, wenn eine schwere Kieferanomalie vorliege, die ein Ausmaß habe, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordere, sei ein solcher Fall hier nicht gegeben. Denn kieferchirurgische Eingriffe seien nach der Stellungnahme von Dr. H vom 1. Dezember 1998 bei der Klägerin nicht erforderlich gewesen. Allein die Diagnose eines tiefen Bisses reiche für die Bejahung der Ausnahmeindikation nicht aus. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene Beschränkung des Versicherungsschutzes bestünden nicht.

Gegen dieses ihr am 27. März 2001 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 27. April 2001, mit der sie ihr Klagebegehren weiterverfolgt.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2001 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 16. Juli 1998 und 3. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 1999 zu verurteilen, ihr die Kosten für die von der Kieferorthopädin Gin den Jahren 1998 bis 2001 durchgeführte kieferorthopädische Behandlung in Höhe von 1.494,11 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das angegriffene Urteil des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.

Die Bescheide der Beklagten vom 16. Juli 1998 und 3. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. März 1999 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn sie hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die bei ihr in den Jahren 1998 bis 2001 durchgeführte kieferorthopädische Behandlung in Höhe von 1.494,11 EUR.

Anspruchsgrundlage für ihr Begehren ist § 29 i.V.m. § 28 Abs. 2 Sätze 6 und 7 SGB V in der vom 1. Juli 1997 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes vom 23. Juni 1997 (BGBl. I S. 1520), das auf den vorliegenden Fall noch Anwendung findet, weil die Klägerin mit der in Rede stehenden kieferorthopädischen Behandlung, für die sie Kostenerstattung begehrt, unter Geltung dieses Gesetzes begonnen hat. Hierbei ist - ebenso wie für die Subsumtion im Rahmen des § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V - als Behandlungsbeginn der Zeitpunkt der Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans anzusehen, auch wenn die eigentliche Behandlung erst danach begonnen haben mag und/oder wichtige Vorbereitungshandlungen schon vor diesem Zeitpunkt liegen sollten. Denn das Datum des Behandlungsplans belegt in nachprüfbarer Weise die Feststellung der Behandlungsnotwendigkeit sowie den Behandlungswunsch des Versicherten und die Behandlungsbereitschaft des Zahnarztes (BSG SozR 3-2500 § 28 Nr. 3). Maßgeblich ist hier mithin der 26. August 1998. Entgegen der von der Klägerin zu § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V vorgetragenen Auffassung lässt sich ein früherer Behandlungsbeginn in ihrem Fall nicht feststellen. Denn es spricht nichts dafür, dass es sich bei der Behandlung durch die Kieferorthopädin G um eine bloße Fortsetzung der nach den Angaben der Klägerin von 1986 bis mindestens 1990 durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung in Chemnitz handeln könnte. Vielmehr ist bereits im Hinblick auf die Zwischenzeit von mehreren Jahren, in denen die Klägerin lediglich - und noch dazu nur sehr sporadisch - zahnärztlich, nicht jedoch kieferorthopädisch behandelt oder auch nur beraten worden ist, davon auszugehen, dass im Jahre 1998 eine neue kieferorthopädische Behandlung begonnen hat. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, dass sich der Zahnstatus der Klägerin in der Zwischenzeit gerade durch den damals noch nicht angelegten Durchbruch der Weisheitszähne sowie sonstige wachstumsbedingte Faktoren komplett verändert und eine neue Planung auf der Grundlage dieser Veränderungen erforderlich gemacht hat.

Nach § 29 i.V.m. § 28 Abs. 2 Sätze 6 und 7 SGB V in der hier maßgeblichen Fassung des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes haben Versicherte Anspruch auf Erstattung von 80 v.H. der Kosten der im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Nicht von der - ohnehin nur auf eine Kostenbeteiligung in Höhe von 80 v.H. beschränkten - vertragsärztlichen Versorgung im vorgenannten Sinne umfasst, sind jedoch kieferorthopädische Behandlungen von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V), es sei denn, es handelt sich um Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert (§ 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V).

Nach diesen Bestimmungen steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Denn die 1978 geborene Klägerin hatte nach den obigen Ausführungen zu der in ihrem Fall maßgeblichen Fassung des Gesetzes, die bei der Anwendung des § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V entsprechend gelten, am Tag der Erstellung des Behandlungsplans (28. August 1998) das 18. Lebensjahr bereits vollendet. Überdies liegt ein Ausnahmefall im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V nicht vor. Denn ungeachtet dessen, ob hier angesichts des von der Kieferorthopädin G diagnostizierten extrem tiefen Bisses von einer schweren Kieferanomalie im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V ausgegangen werden müsste, fehlt es jedenfalls an der Erforderlichkeit von kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen, die auch nach den damals gültigen KFO-Richtlinien vom 5. November 1993 (Bundesanzeiger 1994 Nr. 10 S. 288) vorliegen müssen. Ebenso wie schon für das Sozialgericht ergibt sich dies auch zur Überzeugung des Senats aus der gutachterlichen Stellungnahme des auf Veranlassung der Beklagten eingeschalteten und für den MDK tätigen Zahnarztes für Kieferorthopädie Dr. Hvom 1. Dezember 1998, der zwar ohne körperliche Untersuchung der Klägerin, aber nach Auswertung des ihm zur Verfügung gestellten kieferorthopädischen Behandlungsplans der Kieferorthopädin G vom 26. August 1998 sowie des MDK-Gutachtens vom 11. November 1998 zu der nachvollziehbaren Einschätzung gelangt ist, kieferchirurgische Maßnahmen seien nicht erforderlich. Dieser Einschätzung, die Dr. H nach Auswertung der vom Sozialgericht eingeholten Befundberichte der die Klägerin behandelnden Zahnärzte am 19. Oktober 2000 nochmals bestätigt hat, ist die Klägerin nicht mit substantiierten Einwänden entgegengetreten. Derartige Einwände ergeben sich auch nicht aus den Akten.

Dass die durch den Gesetzgeber für Erwachsene vorgenommenen Beschränkungen des Versicherungsschutzes für kieferorthopädische Behandlungen verfassungswidrig sein könnten, ist nicht ersichtlich. Dies hat, worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat, das Bundessozialgericht bereits entschieden (BSG a.a.O.). Dieser Entscheidung schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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