L 1 KR 246/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 346/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 246/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Kostenerstattung bzw. Kostenübernahme für das ihm auf Privatrezept verordnete, apothekenpflichtige, jedoch nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Thiogamma 600 mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure.

Er ist 1930 geboren, Rentner und Mitglied bei der Beklagten. Er ist schwerbehindert mit einem GdB von 80 und dem Merkzeichen "G". Im Jahre 1993 unterzog er sich einer Darmoperation, in deren Folge er an einer nicht rechtzeitig diagnostizierten akut lebensbedrohenden Bauchfellentzündung (Peritonitis) erkrankte.

Aufgrund einer mündlichen Anfrage erhielt der Kläger von der Beklagten mit Datum 7. April 2004 ein Informationsschreiben, wonach unter anderem Thiogamma 600 Oral aufgrund der gesetzlichen Änderungen durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) als nicht verschreibungspflichtiges Medikament nicht mehr als Sachleistung bezogen werden könne. Eine der möglichen Ausnahmen läge hier nicht vor, insbesondere habe der Gemeinsame Bundesausschuss das Medikament nicht in die Gruppe der Ausnahmefälle aufgenommen, in welcher solche nicht verschreibungspflichtige Medikamente eingetragen seien, die im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung zum Therapiestandard gehörten. Sein behandelnder Neurologe, der Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. P F schrieb am 1. Dezember 2004, dass der Kläger nach einer Operation eines Adenoms des Colons mit mehrfachen Relaparotomien (Dickdarmwucherungen, bei deren Beseitigung wiederholt operative Bauchraumöffnungen erforderlich waren) an einer metabolisch-toxischen Polyneuropathie erkrankt und 1994 auf das Medikament Thioctacid (Wirkstoff Alpha-Liponsäure) eingestellt worden sei, welches für diese Indikation zugelassen sei und als Therapiestandard gelte. Der günstige klinische Verlauf werde auf die Medikation in Verbindung mit Krankengymnastik zurückgeführt. Es seien gesundheitliche Nachteile zu befürchten, wenn das Präparat nicht weiter verordnet werden könne. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme mit Bescheid vom 27. Dezember 2004 ab. Der Kläger erhob Widerspruch. Es dürfe nicht sein, dass Einzelfallentscheidungen zur Leistung nicht verschreibungspflichtiger Medikamente ausgeschlossen seien.

Er hat am 28. Februar 2005 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) eingereicht. Die Operation 1993 habe zu einer Insuffizienz geführt, die nach der Operation nicht rechtzeitig erkannt und trotz sechs aufeinander folgender Operationen nicht richtig behandelt worden sei. Er habe sechs Monate im Krankenhaus gelegen, davon fünf Monate auf der Intensivstation. Einen Arzthaftungsprozess habe er im Jahre 2001 gewonnen. Seit seiner Entlassung aus der Reha-Klinik Ende 1993 beruhe die Bewahrung seiner wieder errungenen Lebensqualität auf der ständigen Einnahme des Medikamentes Thiogamma und Physiotherapie. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe ihm mitgeteilt, dass in die Ausnahmeliste rezeptfreier Arzneimittel gemäß § 34 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), der so genannten OTC-Liste ("Over The Counter") nur unverzichtbare Standardwirkstoffe für die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen aufgenommen würden, bei denen die Wirksamkeit der Behandlung mit einem nicht verschreibungspflichtigen Medikament durch klinische Studien eindeutig nachgewiesen sei. Zumindest in seinem Fall sei nach mehr als zehnjähriger Einnahme des Medikamentes und der damit verbundenen Wirkung zur Erhaltung der Lebensqualität der empirisch-wissenschaftliche Beweis der Wirksamkeit erbracht.

Die Beklagte hat den Widerspruch mit Bescheid vom 23. August 2005 zurückgewiesen.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 4. April 2006 abgewiesen. Thiogamma 600 mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure sei als nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen. Es sei auch nicht in den Arzneimittelrichtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V enthalten, in denen gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V durch den Gemeinsamen Bundessausschuss festgelegt worden sei, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gälten, ausnahmsweise verordnet werden könnten. Dass es bei dem Kläger zu einem Behandlungserfolg im konkreten Einzelfall gekommen sei, vermöge eine Leistungspflicht der Beklagten nicht zu begründen (Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/02 R -, SozR 4-2500 § 27 Nr. 1). Ein Verstoß gegen höherrangiges Recht liege nicht vor. Die Richtlinien als untergesetzliche Rechtsnormen seien von den Gerichten nur dahingehend zu überprüfen, ob sie höherrangigem Recht entsprächen (Bezugnahme auf BSG SozR 3-2500 § 138 Nr. 2). Dies sei hier der Fall.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, in welcher er sein Vorbringen zunächst wiederholt hat. Ergänzend führt er aus, dass es keine Aussagen zur hepatischen bzw. toxischen Polyneuropathie gebe im Gegensatz zur diabetischen Polyneuropathie, an welcher er nicht leide. Man rate ihm zu Medikamenten, die mit seinem Krankheitszustand nichts zu tun hätten. Angeblich läge sogar die Anwendung von Thiogamma bei seiner Krankheit jetzt außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes.

Der Senat hat Befundberichte eingeholt. Dr. P F hat attestiert, der Kläger werde kontinuierlich mit einer Tagesdosis von 600 mg Thiogamma behandelt. Die Verordnung erfolge auf Privatrezept. Von April bis Juni 2000 sei Keltican eingesetzt worden, ohne einen positiven Effekt zu erzielen. Thiogamma diene dem Erhalt der Restfunktion der geschädigten Nerven. Andere Arzneimittel in diesem Indikationsgebiet dienten der Schmerzbehandlung. Der Kläger habe jedoch keine Schmerzen, so dass ihr Einsatz nicht angezeigt sei. Überdies seien solche verschreibungspflichtigen Medikamente teurer und damit unwirtschaftlicher. Unter der Behandlung von Thiogamma 600 in Verbindung mit regelmäßiger Krankengymnastik sei es gelungen, ein Fortschreiten der Erkrankung zu vermeiden und Mobilität und Fähigkeit zur Selbstversorgung zu erhalten. Auf Anfrage des Senats hat der Kläger mitgeteilt, dass ihm für das begehrte Medikament 365,- Euro im Jahr an Kosten entstünden. Dies sei mehr als das Doppelte des bei Medikamentenzuzahlungen Zumutbaren (1% des jährlichen Bruttoeinkommens). Er hat auf die Frage, wieso nicht der für den ärztlichen Behandlungsfehler Haftende auch die Kosten der Behandlung mit Alpha-Liponsäure übernehmen müsse, geantwortet, dass es zum Zeitpunkt des Arzthaftungsprozesses hinsichtlich der Behandlung mit Alpha-Liponsäure keine Kostenprobleme gegeben habe.

Der Kläger führt aus, er habe einen Leistungsgewährungsanspruch aus § 27 Abs. 1 SGB V als "Off-Label-Use", weil Thiogamma in der konkreten Behandlungssituation unter Abwägung der möglichen Vorteile und Risiken sowie Auswirkungen auf die Restgesundheit von den behandelnden Ärzten für medizinisch zweckmäßig angeordnet und verordnet worden sei (Bezugnahme auf Bayerisches LSG, Gesundheitsrecht 5 2007 S. 206). Aber auch ohne "Off-Label-Use" folge ein Anspruch aus dem Sozialstaatsprinzip nach Maßgabe des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 6. Dezember 2005. Die Folge der Bauchfellentzündung, die metabolisch-toxische Polyneuropathie sei eine die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Er wende sich gegen die Durchführung einer Beweisaufnahme. Kein Sachverständiger werde definitiv sagen können, dass und ob die Behandlung mit Alpha-Liponsäure notwendig sei. In seinem Falle führe Alpha-Liponsäure zu einem angemessenen und relativ schmerzfreien Leben, obwohl sie nicht zum Therapiestandard der Polyneuropathie gehöre.

Der Gemeinsame Bundesausschuss hat auf Anfrage des Senats mit Schreiben vom 8. August 2007 mitgeteilt, dass der Wirkstoff Alpha-Liponsäure die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Arzneimittel-Richtlinien als Ausnahme gemäß Abschnitt F der gültigen Arzneimittelrichtlinie Nr. 16, OTC-Übersicht) nicht erfülle, weil er zur Behandlung der Erkrankung nicht als Therapiestandard gelte. Alpha-Liponsäure sei als nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel zur Behandlung der diabetischen Polyneuropathie zugelassen. Die Behandlung einer metabolisch-toxischen Polyneuropathie gehöre nach Erkenntnissen des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht zu den zugelassenen Anwendungsgebieten. Somit sei eine Aufnahme in die OTC-Übersicht nicht möglich. Die Verordnung als so genannter Off-Label-Use, also außerhalb der in Deutschland zugelassenen Indikation, sei arzneimittelrechtlich möglich und liege in der alleinigen Verantwortung des Vertragsarztes.

Im Auftrag des Senats hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. A ein neurologisches Fachgutachten erstattet. Darin kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, der Kläger habe sehr wahrscheinlich 1993 eine so genannte Critical-Illness-Polyneuropathie erlitten. Überlebe der Patient dabei das zugrunde liegende Krankheitsbild, das zur Sepsis und auch zur Critical-Illness-Neuropathie geführt habe, komme es dabei zu einer langsamen klinischen Remission der motorischen, später auch der sensorischen Symptome. Für die Behandlung dieses Krankheitsbildes gebe es keine spezifische Therapie. Die Therapien umfassten langsame Respirator-Entwöhnung, die Vermeidung von neuromuskulär blockierenden und zentral-nervös wirksamen Substanzen, die ursächliche Behandlung der Sepsis und der Multiorganerkrankung. Ferner zielten die Therapien darauf, Kontrakturen zu vermeiden und gezielt neurophysiologische Krankengymnastik einzusetzen. Die Wirksamkeit einer Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen sei nicht gesichert. Die überstandene Sepsis mit Multiorganversagen sei eine lebensbedrohliche oder tödliche Erkrankung. Nachdem die intensivmedizinische Behandlung überstanden sei, sei mit Rückfällen, erneuten Lähmungserscheinungen und Verschlechterungen nicht zu rechnen. Das Krankheitsbild nehme einen monophasischen Verlauf.

Alpha-Liponsäure sei eine natürlich vorkommende Substanz, die in dem menschlichen Organismus in praktisch allen Organsystemen als Teil eines Multienzymkomplexes zur Energiegewinnung vorhanden sei. Bei der Behandlung der peripheren Neuropathien werde Alpha-Liponsäure hauptsächlich zur Behandlung sensibler Missempfindungen bzw. schmerzhafter Missempfindungen eingesetzt und sei in der intravenösen Applikation der oralen Medikamentation überlegen. An der Wirksamkeit der Alpha-Liponsäure hinsichtlich bestimmter therapeutischer Zielparameter, insbesondere der sensiblen Missempfindungen bei Polyneuropathie, bestehe kein Zweifel. Andererseits lägen keine wissenschaftlichen Daten vor, dass motorische Funktionsverbesserungen herbeigeführt werden könnten. Für die Behandlung der so genannten neuropathischen Schmerzen bzw. schmerzhaften Missempfindungen stünden neben Alpha-Liponsäure eine Reihe von Medikamenten zur Verfügung, unter anderem Carbamazepin, Pregabalin und Gabapentin. Sie seien in ihrer Wirksamkeit hinsichtlich schmerzhafter Parästhesien häufig dem Thioctacid überlegen und ließen sich auch in differenzierter Dosierung anwenden. Der Kläger habe, soweit ersichtlich, diese Substanzen nicht erhalten. Die Behandlung mit dem Medikament Thiogamma/Thioctacid (Alpha-Liponsäure) habe hinsichtlich sensibler Missempfindungen einen therapeutischen Wert. Hier könnten auch andere Medikamente eingesetzt werden. Eine Therapie mit Alpha-Liponsäure sei sicherlich medizinisch indiziert gewesen und habe offensichtlich bezüglich der sensiblen Missempfindungen Wirksamkeit gezeigt. Die Behandlungsalternativen (Carbamazepin, Pregabalin und Gabapentin), seien hinsichtlich Erfolgsaussichten, Eingriffsschwere und Nebenwirkungsspektrum von der Behandlung mit Alpha-Liponsäure verschieden. Diese Medikamente würden in steigender Dosierung verabreicht und könnten unter anderem im Nebenwirkungsspektrum, Blutbildveränderungen und Leberfunktionsstörungen hervorrufen. Es sei hier konkret vertretbar, die andauernde Medikamentation mit Alpha-Liponsäure abzusetzen und eine der beschriebenen medikamentösen Alternativen zu wählen. Die beschriebenen motorischen Funktionsstörungen würden weder durch die eine noch durch die andere Medikamentengruppe positiv beeinflusst werden können.

Der Kläger hat zum Sachverständigengutachten vorgebracht, es habe keine Aussage dazu getroffen, dass der Kläger ohne die medikamentöse Einstellung auf Alpha-Liponsäure für den Rest des Lebens an den Rollstuhl gefesselt geblieben wäre. Alpha-Liponsäure müsse im vorliegenden Fall als Therapiestandard gelten, weil ihr therapeutischer Nutzen zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entspreche. Die Krankheitsbilder der diabetischen Polyneuropathie und der infektiösen Polyneuropathie seien exakt die gleichen. Mit Schriftsatz vom 28. Januar 2009 hat der Kläger klargestellt, keine Einwendungen gegen das Gutachten des Sachverständigen erhoben zu haben, sondern vielmehr ergänzende Ausführungen beantragt zu haben.

Der Sachverständige hat in seiner Stellungnahme vom 20. März 2009 ausgeführt, die Aussage, ohne entsprechende medikamentöse Einstellung wäre der Kläger aufgrund der Polyneuropathie mit Sicherheit an den Rollstuhl gefesselt, sei nicht haltbar. Es könne weiter sehr wohl zwischen infektiös bedingter Polyneuropathie und diabetisch bedingter Polyneuropathie unterschieden werden. Es könne nach dem Aktenstand auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Critical-Illness-Neuropathie, an der der Kläger leide, um eine infektiös bedingte Polyneuropathie handele, sondern eher um eine toxisch-metabolische Neuropathie.

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 28. Mai 2009 ein Sachverständigengutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragt, über die Behauptung, dass bei Absetzen des Medikaments eine Verschlechterung seines Krankheitsbildes entsteht, die einer tödlich verlaufenden Erkrankung gleich komme, durch den Neurophysiologen PD Dr. F B. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat er diesen Antrag nicht mehr aufrechterhalten. Er hat weiter erklärt, er bleibe bei der Auffassung, dass das vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 6. Dezember 2005 entwickelten Rechtsinstituts auf ihn zutreffe. Seine Krankheit beeinträchtige nämlich nachhaltig die Lebensqualität auf Dauer. Er sei chronisch krank. Die für den Kläger erfolgreiche Therapie dürfe nicht verändert werden. Erst durch die Gabe von Thiogamma 600 hätten sich die starken, rheumaartigen Schmerzen gebessert. Nach einer von ihm eingeholten Stellungnahme des Prof. Dr. M gebe es neben der Polyneuropathie als Folge von Diabetes oder gesteigerten Alkoholkonsums ungefähr 1000 Ursachen für die verbleibenden 40 Prozent der daran Erkrankten. Im Regelfall zeige sich bei einer "subakutoxischen" Polyneuropathie, wie hier, nach einer zeitlich umschriebenen Exposition ein monophasischer Verlauf. Im Gegensatz zu den Annahmen des gerichtlichen Sachverständigen und der des Prof. Dr. M habe sich die Polyneuropathie des Klägers nicht zurückgebildet. Dieser Sachverständige lege aber dar, dass die möglichen Alternativen zur Behandlung der Missempfindungen für erhebliche Nebenwirkungen im Gehirn sorgten. Die modernen Antikonvulsiva Pregabalin und Gabapentin seien teurer als Thiogamma. Carbamazepin solle aufgrund des Nebenwirkungsspektrums nicht verwendet werden. Die Therapie mit Thiogamma sei insgesamt die von der Krankenkasse gesetzlich geschuldete Standardtherapie.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Dezember 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2005 zu verurteilen, ihm die seit dem 2. Dezember 2004 für das Arzneimittel Thiogamma 600 entstandenen Kosten in Höhe von 162,90 Euro und 672,95 polnische Zloty zu erstatten und ihn künftig nach entsprechender ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Thiogamma 600 zu versorgen. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

In ihrem Auftrag hat der medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) unter dem Datum 11. Oktober 2007 eine Stellungnahme abgegeben. Danach sei Thiogamma 600 mit der Wirksubstanz Alpha-Liponsäure immer nur zur Behandlung von Missempfindungen im Rahmen einer diabetischen Polyneuropathie zugelassen gewesen. Beim Kläger sei ein Fortschreiten seiner Erkrankung (toxische Polyneuropathie) nach eingetretener Stabilisierung nicht zu erwarten.

Die Beklagte hat das gerichtliche Gutachten zum Anlass genommen, erneut eine Stellungnahme des MDK anzufordern. Dessen Ärztin für Neurologie/Psychiatrie Dr. S des MDK teilt die Einschätzung des Sachverständigen, hier liege am ehesten eine Critical-Illness-Polyneuropathie vor. Alpha-Liponsäure hätte bereits im Jahr 1994 oder spätestens im Jahre 2004 abgesetzt werden können. Die Beklagte macht sich die neuerliche Stellungnahme des MDK zu eigen.

Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen. Der Verwaltungsvorgang der Beklagten lag vor.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im schriftlichen Verfahren nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Alle Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Auf die Begründung im angegriffenen Urteil wird zunächst verwiesen, § 153 Abs. 2 SGG.

Der Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V für in der Vergangenheit privat beschaffte Arzneimittel wie der auf Versorgung oder Kostenfreistellung für die Zukunft reicht nicht weiter, als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte und künftig zu beschaffende Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zuletzt Urteil vom 6. November 2008 - B 1 KR 6/08 R - "Gelomyrtol forte Entscheidung" mit weiteren Nachweisen). Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind seit 1. Januar 2004 nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen. Der Gemeinsame Bundessausschuss legte in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V (Arzneimittelrichtlinien) fest, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung zu diesen Erkrankungen mit Begründung vom Vertragarzt ausnahmsweise verordnet werden können (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Der grundsätzliche Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel verstößt nach Auffassung des BSG nicht gegen Verfassungsrecht. Er sei mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 und 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip vereinbar. Die Arzneimittelrichtlinien verstießen auch nicht gegen europäisches Recht, insbesondere nicht gegen die Richtlinien vom 21. Dezember 1989 - 105/EWG betreffend die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln für den menschlichen Gebrauch und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme (so genannte Transparenzrichtlinie, vgl. BSG, a.a.O. Rdnr. 20 ff).

Zusätzlich liegt hier ein sogenannter Off-Label-Use vor. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Medikamenten mit Alpha-Liponsäure als Wirkstoff auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung kommt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur in Betracht, wenn es (kumulativ) um die Behandlung einer schwerwiegenden - also lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden - Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 - B 1 KR 15/07 R - mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor:

Das hier vom Kläger begehrte Arzneimittel mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure ist nicht im Ausnahmekatalog der OTC-Medikamente, die ausnahmsweise verordnet werden dürfen enthalten. Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Verordnung von Alpha-Liponsäure zur Behandlung der speziellen Polyneuropathie des Klägers nicht erfüllt, so dass nicht von einem so genannten Systemversagen ausgegangen werden kann. Die Behandlung von Alpha-Liponsäure gehört jedenfalls nicht zum Therapiestandard. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Sachverständigenausführungen des Gutachters A. Ob die sensiblen Missempfindungen und neuropathischen Schmerzen insgesamt dem Leiden des Klägers den Charakter einer schwerwiegenden Erkrankung geben, kann dahingestellt bleiben. Der Senat kann auch dahingestellt sein lassen, ob dem BSG in dessen rechtlicher Bewertung gefolgt werden kann, wonach der Ausschluss nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel nach Maßgabe der jetzigen einfach gesetzlichen Regelung in jedem Fall verfassungsgemäß sei, in allen Fällen gefolgt werden kann:

Ein Klageerfolg folgt hier jedenfalls nicht direkt aus den Grundrechten des Klägers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Es bedarf zwar einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit - insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung - durch gesetzliche Bestimmungen oder durch die fachgerichtlichte Auslegung und Anwendung vorenthalten werden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 Rdnr. 54). Auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist bei der Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechtes in Erfüllung der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen, mit zu beachten (BVerfG, a.a.O. Rdnr. 56). Allerdings sind die Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2008 - 1 BvR 1778/05 - Rdnr. 4 mit Bezugnahme auf BVerfGE 115, 25, 45 f). Die gesetzliche Krankenversicherung muss dem Versicherten Leistungen nur nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskataloges (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellen, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V, der vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben, ist verfassungsgemäß (BVerfGE, a.a.O.).

Die Polyneuropathie des Klägers ist seit Januar 2004 keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung mehr. Dies hat der Sachverständige überzeugend dargestellt. Der Ausschluss der Übernahme von Thiogamma führt im konkreten Einzelfall nicht zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis, obgleich die Einnahme angesichts des aus Sicht des Klägers seit Jahren jedenfalls subjektiven Erfolgs therapeutisch sinnvoll ist und obwohl es keine abschließende (andere) kausale Therapie gibt. Es ist dem Kläger nämlich zuzumuten, Alpha-Liponsäure abzusetzen, wie der Sachverständige widerspruchsfrei ausgeführt hat. Von den von ihm genannten Alternativarzneimitteln ist jedenfalls Pregabalin verordnungsfähig und Kassenleistung. Einen positiven Einfluss des begehrten Arzneimittels auf motorische Fähigkeiten hat der Sachverständige ausgeschlossen, ohne dass der Senat Anhaltspunkte sieht, an dieser Aussage zu zweifeln. Soweit der Kläger erstmals -im Widerspruch zu früheren Einlassungen und dem Befundbericht des Behandlers- im Herbst 2009 die Therapie mit Alpha-Liponsäure als kausal zur Verhinderung schwerer rheuma-ähnlicher Schmerzen bezeichnet, ändert dies hieran nichts. Es ist gerichtsbekannt, dass es eine Vielzahl von Methoden der Schmerzbehandlung als Kassenleistung gibt.

Es besteht aus Sicht des Senats keine Veranlassung, von der Möglichkeit eines weiteren Sachverständigengutachtens nach § 106 SGG, § 412 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) Gebrauch zu machen oder den gerichtlichen Sachverständigen mit einer ergänzenden Begutachtung zu beauftragen.

Es ist weiter auch abgesehen hiervon nicht ersichtlich, dass der Kläger durch die Versagung der Übernahme des Medikamentes aus rein formalistischen wirtschaftlichen oder prinzipiellen Gründen unnötig "leiden" muss oder auch ansonsten die Leitlinie des Gesetzes, einen umfassenden Krankenschutz zu gewähren, unzumutbar ins Gegenteil verkehrt würde.

Die Nebenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 SGG vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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