S 7 AS 723/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 7 AS 723/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§§ 40 Abs. 1 SGB II, 330 Abs. 1 SGB III stehen der Rücknahme von Verwaltungsakten gemäß § 44 SGB X, mit denen die Regelleistung nach § 20 SGB II wegen eines stationären Aufenthalts in rechtswidriger Weise gekürzt wurde, nicht entgegen. Dies gilt jedenfalls für die Rechtslage vor dem 01.01.2008.
I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 02.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2009 verurteilt, dem Kläger die aufgrund des stationären Aufenthaltes vom 14.03. bis 18.04.2006 einbehaltenen Leistungen zu gewähren.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Die Beklagte hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II streitig.

Der Kläger erhielt von der Beklagten laufend Leistungen nach dem SGB II, zuletzt mit Bescheid vom 23.06.2009 für den Zeitraum vom 01.08.2009 bis 13.01.2010 in monatlicher Höhe von 359 EUR.

Mit Schreiben vom 29.05.2009 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X. Er führte aus, dass ihm die Beklagte die zu Unrecht einbehaltenen Leistungen für den Zeitraum vom 14.03. bis 18.04.2006 (siehe Änderungsbescheid vom 24.02.2006) zu erstatten habe. Während dieses Zeitraums habe sich der Kläger in der Klinik P.-K. im Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme befunden. Die Beklagte habe während dieses Zeitraums die Leistungen nach dem SGB II in rechtswidriger Weise um 35 % reduziert. Seit 08.11.2001 sei der Kläger in fortwährender Behandlung wegen Hypertonie. Er habe daher Anspruch auf Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung. Der Kläger müsse für 2008 eine Stromkostennachzahlung in Höhe von 106,73 EUR begleichen. Auch diesen Betrag habe die Beklagte zu zahlen.

Mit Bescheid vom 02.06.2009 lehnte die Beklagte den Antrag ab. In der Begründung wurde ausgeführt, dass erst ab dem 01.01.2008 die Anrechung des stationären Aufenthalts als Einkommen gemäß § 11 SGB II entfallen sei. Nach neueren medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen sei unter anderem bei Hypertonie nicht mehr von erhöhtem Ernährungsbedarf auszugehen. Die Stromkostennachzahlung könne nicht übernommen werden, da die Kosten von Haushaltsenergie in der Regelleistung enthalten seien.

Mit Schreiben vom 02.07.2009 erhob der Kläger Widerspruch.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. In der Begründung des Widerspruchsbescheides wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 44 SGB X nicht gegeben seien. Hinsichtlich der Anrechnung der Verpflegung als Einkommen während der stationären Reha-Maßnahme sei bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht richtig angewandt worden. Erst mit Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18.06.2008 (Az.: B 14 AS 22/07 R) habe es eine ständige Rechtsprechung gegeben, die von der bisherigen Rechtsauslegung abgewichen sei. Nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 1 SGB III seien bestandskräftige Fälle, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X erst mit Zeitpunkt ab dem Bestehen einer ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Hinsichtlich des Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung im Zusammenhang mit der Hypertonie-Erkrankung des Klägers sei das Recht gleichfalls nicht unrichtig angewandt worden. Bei Antragstellung im Januar 2006 habe der Kläger seine Hypertonie-Erkrankung nicht vorgetragen und auch nicht belegt. In den Akten finde sich erstmals Ende 2008 ein Hinweis auf diese Krankheit.

Mit Schreiben vom 22.10.2009 wurde dagegen Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben. In der Klagebegründung wurde ausgeführt, dass die Kürzung der SGB II-Leistungen nach der Rechtsprechung des BSG unzulässig sei. Es werde ab Januar 2009 Mehrbedarf wegen Gicht beantragt.

In der Klageerwiderung wurden seitens der Beklagten keine neuen Argumente vorgetragen.

In der mündlichen Verhandlung vom 15.03.2010 hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2009 zu verurteilen, ihm die zu Unrecht einbehaltenen Gelder aufgrund zu Unrecht erfolgten Kürzung (Anrechnung der Vollverpflegung einer stationären Einrichtung als Einkommen) zu erstatten, sowie ab Januar 2009 einen Mehrbedarf wegen Gicht anzuerkennen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die einschlägigen Akten der Bekl., die einschlägigen Akten des Sozialgerichts Landshut und die Prozessakte ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, allerdings ist sie nur zum Teil begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 02.06.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2009 ist insoweit rechtswidrig, als dem Kläger mit Bescheid vom 24.02.2006 die während des stationären Aufenthaltes vom 14.03. bis 18.04.2006 gewährten Leistungen nach dem SGB II gekürzt worden sind. Die Beklagte hat dem Kläger daher für die Zeit des Klinikaufenthaltes vom 14.03. bis 18.04.2006 die Leistungen ungekürzt zu gewähren.

Gemäß § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. (Daneben käme als Rechtsgrundlage allerdings auch § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X in Betracht.)

Dem Kläger steht in den Monaten März und April 2006 die Regelleistung gemäß § 20 SGB II in ungekürzter Höhe zu. Die Beklagte war nicht befugt, die dem Kläger während seiner stationären Reha-Maßnahme in der Klinik P.-K. vom 14.03. bis 18.04.2006 gewährte Krankenhausverpflegung als Einkommen bedarfsmindernd zu berücksichtigen. Der Änderungsbescheid vom 19.04.2006, der den Bescheid vom 27.12.2005 insoweit abänderte, als sich für den Zeitraum vom 14.03. bis 18.04.2006 eine Überzahlung ergeben hatte, ist rechtswidrig.

Für eine entsprechende Rechtsanwendung der Beklagten enthält die Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) in der ab 01.10. 2005 in Kraft getretenen, hier maßgebenden Fassung vom 22.08. 2005 keine Rechtsgrundlage. § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II bestimmt, dass durch Verordnung bestimmt werden kann, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die Gewährung von Verpflegung eine Einnahme in Geldeswert gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II darstellt, so ist auf Grund des Wortlauts und der Struktur des § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II jedenfalls zu fordern, dass in der Alg II-V selbst ausdrücklich geregelt wird, wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. Für den konkreten Rechenschritt, die Regelleistung um 35 % zu kürzen, enthielt die Alg II-V im streitigen Zeitraum keinerlei Rechtsgrundlage oder auch nur interpretatorischen Anhalt (vgl. Bundessozialgericht (BSG) vom 18.6.2008, B 14 AS 22/07 R).

Vorliegend ist aber § 40 Abs. 1 SGB II zu beachten, der in seinem Satz 1 bestimmt, dass für das Verfahren nach dem SGB II das SGB X gilt und in Satz 2 Nr. 1 außerdem § 330 Abs. 1 SGB III für entsprechend anwendbar erklärt. Gemäß § 330 Abs. 1 SGB III ist der Verwaltungsakt nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Darauf hat sich auch die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 13.10.2009 berufen und insoweit den Anspruch des Klägers abgelehnt.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist nach Überzeugung des Gerichts die Rücknahme des Bescheides vom 24.02.2006 nicht gem. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen.

Dies wäre lediglich dann der Fall, wenn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes vom 24.02.2006 auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Da § 330 Abs. 1 Variante 1 SGB III offensichtlich nicht vorliegt, muss also festgestellt werden können, dass der streitbefangene Bescheid, mit einer Rechtsnorm begründet wird, die später in ständiger Rechtsprechung anders ausgelegt wurde.

Eine solche Rechtsnorm ist für das Gericht nicht ersichtlich.

Grundlage des Bescheids vom 24.02.2006 waren wohl die damaligen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 9 SGB II, Nr. 9.14 (Stand 23.05.2005). Aus dem Inhalt dieser Verwaltungsvorschrift ist weder zu ersehen, noch zu schließen auf welche Rechtsnorm die Bekl. die Anrechnung der Verpflegung mit einem Wert von 35 % der Regelleistung stützte. Aus der aktuellen Geschäftsanweisung Nr. 28 vom 20.07.2008 kann ebenso geschlossen werden, dass keine rechtliche Grundlage vorhanden war, bereitgestellte Verpflegung mit einem Wert von 35 % der Regelleistung zu berücksichtigen. Dort wird nämlich nur darauf hingewiesen, dass durch die Entscheidung des BSG (a.a.O.) von der bisherigen Rechtsauslegung abgewichen werde. Ein Hinweis auf eine Rechtsnorm, von der durch die neue ständige Rechtsprechung abgewichen wurde, erfolgte gerade nicht. Wie oben bereits ausgeführt, hat das BSG in seiner Entscheidung vom 18.06.2008 (a.a.O.) darauf hingewiesen, dass für den konkreten Rechenschritt, die Regelleistung um 35 % zu kürzen, keinerlei Rechtsgrundlage oder auch nur interpretatorischen Anhalt vorhanden gewesen sei. Das BSG führte aus, dass nach § 31 SGB I Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibe oder zulasse (Vorbehalt des Gesetzes). Der belastende Verwaltungsakt - Kürzung der Regelleistung durch ersparte Aufwendungen in Höhe von 35 % der Regelleistung - bedürfe mithin einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Für das Vorgehen der Beklagten jedenfalls im Jahre 2006 sei eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich, die den Anforderungen des § 31 SGB I genügen könnte. Dies dürfte für den Verordnungsgeber Anlass gewesen sein, mit Wirkung zum 1. Januar 2008 in § 2 Abs. 5 Alg II-V eine Rechtsgrundlage für ein solches Vorgehen erstmals zu schaffen.

Danach steht für das Gericht fest, dass im Jahre 2006 für die von der Bundesagentur für Arbeit vorgenommenen Kürzungen der Regelleistung bei gewährter Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes keine Rechtsnorm vorhanden war, die dieses Vorgehen legitimierte. Aus diesem Grunde kann nicht davon ausgegangen werden, dass entsprechende Verwaltungsakte der Beklagten bzw. der Bundesagentur für Arbeit auf einer Rechtsnorm beruhten, die im Nachhinein in ständiger Rechtsprechung i.S.v. § 330 Abs. 1 SGB III anders ausgelegt worden ist (vgl. hierzu auch SG Freiburg vom 25.09.2009, Az.: S 9 AS 6261/08). Der Kläger hat im Übrigen keinen Anspruch auf Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung wegen seiner Hypertonie-Erkrankung. Der Kläger hat zwar im Klageschreiben vom 22.10.2009 Mehrbedarf wegen Gicht (= Hyperurikämie) beantragt. Das Gericht geht jedoch aufgrund des Vorbringens im Verwaltungsverfahren (vgl. z. B. Attest der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dres. E. und B. vom 26.05.2009, wonach der Kläger seit 08.11.2001 an extremer Hypertonie leide) davon aus, dass der Kläger Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II wegen seiner Erkrankung an Hypertonie begehrt. Insoweit ist der Antrag umzudeuten, § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gemäß § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe.

Nach Maßgabe der Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe vom 01.10.2008 ist bei Hypertonie (allerdings auch bei Hyperurikämie) in der Regel ein krankheitsbedingt erhöhter Ernährungsaufwand zu verneinen. Dieser Auffassung schließt sich das Gericht an. Daher besteht insoweit kein Anspruch des Klägers gemäß § 21 Abs. 5 SGB II.

Die Berufung wird zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 ff SGG.

-
Rechtskraft
Aus
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