L 3 AS 332/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AS 6546/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 332/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Weigerung, eine Einlgiederungsvereinbarung abzuschließen, rechtfertigt keine Absenkung nach § 31 SGB II.
Das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 16. Oktober 2009 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Absenkungsbescheides vom 19. Oktober 2007 und unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 19. Oktober 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2007 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01. November 2007 bis zum 31. Januar 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von weiteren 94,- EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Absenkung des der Klägerin gewährten Arbeitslosengeldes II um 30 v.H. der Regelleistung zur Sicherung der Lebensunterhalts in der Zeit vom 01.11.2007 - 31.01.2008 und die Höhe der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für diesen Zeitraum.

Die am 22.07.1965 geborene Klägerin lebt gemeinsam mit ihrem Ehegatten und ihren beiden am 21.04.1995 bzw. 17.02.2000 geborenen Kindern in einem im Eigentum des Ehegatten stehenden Haus unter der im Rubrum bezeichneten Anschrift. Die Klägerin ist im Umfang von ca. 12 Stunden wöchentlich als Reinigungskraft - geringfügig - erwerbstätig.

Auf einen Antrag vom 11.05.2007 bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 05.06.2007 (Änderungsbescheid 24.07.2007) der Klägerin (und den weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft) Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 10.05 - 31.10.2007, wobei er für die Klägerin jeweils einen Regelleistungsbedarf von 311,- EUR monatlich zu Grunde legte.

Anlässlich einer persönlichen Vorsprache der Klägerin am 03.07.2007 legte der Beklagte der Klägerin eine Eingliederungsvereinbarung vor, in der u.a. niedergelegt war, dass sich die Klägerin verpflichtet, alle Möglichkeiten zu nutzen, um den eigenen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten und an allen Maßnahmen zur Eingliederung mitzuwirken, insbesondere durch eine Teilnahme an einem Bewerbertraining bei der Ifas GmbH in Emmendingen.

Mit Schreiben vom 05.07.2007, bei der Beklagten eingegangen am 06.07.2007, erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Eingliederungsvereinbarung. Sie führte hierzu an, sie werde die Eingliederungsvereinbarung nicht unterzeichnen, da sie bereits im ersten Arbeitsmarkt tätig sei und keine Notwendigkeit für integrative Maßnahmen bestehe. Die Maßnahme zur Integration der Ifas beinhalte u.a. die Teilnahme an einem gastronomischen Trainingszentrum mit Elementen des "housekeeping". Dies sei eine andere Bezeichnung für Hausreinigung, eine Arbeit, in welcher sie gerade beruflich tätig sei. Sie sei deutsche Staatsangehörige und lebe seit 14 Jahren in diesem Land, weswegen die Notwendigkeit der Integration, welche ihr vermittelt werden solle, nicht bestehe. Eine Sprachprüfung habe sie bereits erfolgreich abgelegt. Ihre Arbeitszeit sei zeitlich nicht bestimmt, sie läge in der Regel zwischen 8.30 Uhr und 13.00 Uhr. Um die Maßnahme, die am 18.07.2007 beginne, wahrnehmen zu können, müsste sie ihren bestehenden Arbeitsplatz kündigen bzw. ihre arbeitsvertraglichen Pflichten brechen. Überdies bestünden verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt der durch Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz geschützten Vertragsautonomie. Am 09.07.2007 übersandte der Beklagte die Eingliederungsvereinbarung neuerlich an die Klägerin.

Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.08.2007 zurück. Zur Begründung führte der Beklagte an, der Widerspruch sei nicht zulässig, da ein solcher nur gegen Verwaltungsakte statthaft sei.

Anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 02.10.2007 wurde der Klägerin ein weiterer Entwurf einer Eingliederungsvereinbarung vorgelegt. Hierin war niedergelegt, dass sich die Klägerin verpflichtet, einen Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs vorher mit dem persönlichen Ansprechpartner abzustimmen und alle Möglichkeiten zu nutzen, um den eigenen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten und an allen Maßnahmen zur Eingliederung mitzuwirken, insbesondere Bewerbungsunterlagen zu erstellen und mindestens 5 Bewerbungen (auch für befristete Stellen und Stellen bei Zeitarbeitsfirmen) pro Monat in den nächsten 6 Monaten zu unternehmen. Dem Entwurf der Eingliederungsvereinbarung war eine schriftliche Rechtsfolgenbelehrung beigefügt, in der darauf hingewiesen wird, dass eine Weigerung die Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, eine Verletzung der Grundpflichten darstelle und zu einer Kürzung des Arbeitslosengeldes II um 30% der maßgebenden Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts führe. Die Klägerin wandte hiergegen ein, es handle sich um einen privatrechtlichen Vertrag und bat darum, die Rechtsfolgenbelehrung zu streichen. Dem kam der Beklagten nicht nach und wies auf mögliche Sanktionen hin.

Mit Bescheid vom 19.10.2007 entschied der Beklagte, den der Klägerin zustehenden Anteil des Arbeitslosengeldes II unter Wegfall des Zuschlages nach § 24 SGB II gemäß § 31 Abs. 1 und Abs. 6 SGB II für die Zeit vom 01.11.2007 - 31.01.2008 um 30 % der Regelleistung, d.h. um 94,- EUR monatlich abzusenken. Der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 19.10.2007 werde insoweit für den benannten Zeitraum gemäß § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ergänzt. Zur Begründung seiner Entscheidung führte der Beklagte an, erwerbsfähige Hilfebedürftige müssten alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Sie müssen aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Trotz Belehrung über die Rechtsfolgen habe sich die Klägerin anlässlich des mit ihrem Arbeitsvermittler geführten Gespräches geweigert, die Eingliederungsvereinbarung zu unterschreiben. Die Begründung der Klägerin, sie wolle auf den Zusatz der Rechtsfolgenbelehrung verzichten, was rechtlich nicht zulässig sei, stelle keinen wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II dar.

Mit Bescheid vom 19.10.2007 bewilligte der Beklagte Leistungen für die Zeit vom 01.11.2007 bis 31.01.2008. Hierin minderte er die auf die Klägerin entfallenden Leistungen i.H.v. insg. 252,89 EUR (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 216,69 EUR und 36,20 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung) um 94,- EUR.

Den gegen die Bescheide vom 19.10.2007 eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass eine Eingliederungsvereinbarung vom zuständigen Träger und vom erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gemeinsam zu erarbeiten sei. Ihr Abschluss setze eine umfassende und systematische Standortbestimmung voraus, wobei eine Arbeit Vorrang vor Eingliederungsleistungen habe. Die von ihr abverlangten Bemühungen führten jedoch dazu, dass sie ihre ungekündigte Stellung aufgeben müsse. Die Eingliederungsvereinbarung und die ihr abverlangten Handlungen verstießen gegen das Willkürverbot, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ihr Persönlichkeitsrecht sowie gegen ihre grundgesetzlich geschützte Vertragsfreiheit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2007 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte er an, der Umstand, dass die Klägerin eine Tätigkeit ausübe stelle keinen wichtigen Grund im Sinne des § 31 SGB II dar. Die Eingliederung in Arbeit habe die Optimierung der persönlichen Situation zum Inhalt, die im Falle der Klägerin eine Ausweitung der geringfügigen Tätigkeit zumindest in eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung bzw. in eine Vollzeitbeschäftigung erfordere.

Mit Verwaltungsakt vom 11.12.2007 hat der Beklagte die Inhalte ihres Entwurfes einer Eingliederungsvereinbarung als Verwaltungsakt festgelegt. Die Klägerin habe sich in der Zeit vom 12.12.2007 bis 11.06.2008 innerhalb von jeweils zwei Monaten um mindestens fünf sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen (auch befristet oder in Teilzeit) und Zeitarbeitsfirmen (auch initiativ) zu bewerben. Die erste Aktivitätenliste sei bis 14.01.2008 abzugeben. Bei einer Einladung habe sie an der Informationsveranstaltung/Arbeitsgelegenheit bei der Firma A. GmbH in B. bzw. bei der Firma WABE in Waldkirch teilzunehmen.

Am 19.12.2007 hat die Klägerin gegen den Bewilligungsbescheid und gegen den Sanktionsbescheid Klagen zum Sozialgericht Freiburg (SG) - S 14 AS 6546/07 - und - S 14 AS 6547/07 -erhoben, die mit Beschluss vom 16.01.2008 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden wurden. Zu deren Begründung hat die Klägerin vorgebracht, bereits das Bundesverfassungsgericht habe es als problematisch angesehen, bei Weigerung eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, Geldleistungen zu kürzen. Vertragliche Vereinbarungen müssten auf einer freiwilligen, autonomen Entscheidung beruhen. Dem Beklagten habe die Möglichkeit offen gestanden, die Regelungen der vorgelegten Eingliederungsvereinbarung im Wege eines Verwaltungsaktes durchzusetzen; der Erlass des Sanktionsbescheides sei unverhältnismäßig gewesen. Sie arbeite an vier bis fünf Vormittagen in der Woche im Umfang von ca. 12 Wochenstunden. Die vom Beklagten vorgesehene Maßnahme hätte von ihr nur während ihrer Arbeitszeit absolviert werden können. Der zuständige Sachbearbeiter des Beklagten habe diesbezüglich jedoch keine Verhandlungsbreitschaft gezeigt.

Der Beklagte ist der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen getreten und hat betont, dass die Klägerin verpflichtet gewesen sei, sich eine Arbeitsstelle zu suchen, bei der sie einen höheren Verdienst hätte erzielen können.

Mit Urteil vom 16.10.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung, deren Gegenstand sowohl der Sanktionsbescheid vom 19.10.2007 als auch der Bewilligungsbescheid vom 19.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 sei, hat das SG ausgeführt, die Klägerin habe die Unterzeichnung des Entwurfs der Eingliederungsvereinbarung vom 02.10.2007, der eine Rechtsfolgenbelehrung beinhaltet habe, abgelehnt. Die Eingliederungsvereinbarung habe den Anforderungen des § 16 SGB II genügt, da vereinbarungsfähige Leistungen beinhaltet waren. Die Klägerin könne sich für ihre Weigerung nicht auf einen wichtigen Grund berufen. Erwerbsfähige Hilfebedürftige müssten alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Hierfür hätte sie in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten und ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebendende Personen einzusetzen. Dies bedeute, dass die Klägerin gehalten gewesen sei, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen, mit der sie ihren Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft möglichst umfassend selbst bestreiten oder jedenfalls ihre Hilfebedürftigkeit verringern hätte können. Sie habe sich daher darum bemühen müssen, ihren 400 EUR-Job auszuweiten. Der Erlass des Sanktionsbescheides sei auch verhältnismäßig gewesen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei nur dann verletzt, wenn ein schärferes Mittel statt eines gleichermaßen geeigneten milderen Mittels gewählt werde. Die Klägerin habe sich vorliegend über mehrere Monate hinweg geweigert, die Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, weil sie mit den darin enthaltenen Verpflichtungen nicht einverstanden gewesen sei. Die hierfür angeführte geringfügige Tätigkeit sei kein legitimer Grund, eine besser entlohnte Tätigkeit abzulehnen bzw. sich um eine solche zu bewerben. Die Durchsetzung der Verpflichtung im Wege eines Verwaltungsaktes erscheine der Kammer nicht in gleicher Weise erfolgversprechend wie eine Sanktionierung im Wege einer Leistungsabsenkung. Die Beklagte habe davon ausgehen dürfen, dass sich die Klägerin durch den Erlass eines Verwaltungsaktes nicht veranlasst sehe, umzudenken. Durch den Erlass des Sanktionsbescheides sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten, die den Beklagten berechtigt habe, den ursprünglichen Bewilligungsbescheid mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.

Gegen das am 29.12.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20.01.2010 die vom SG zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung ihres Rechtsmittels bringt die Klägerin vor, eine Eingliederungsvereinbarung müsse Leistungen zum Inhalt haben, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich seien. Bei den von dem Beklagten im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung angebotenen Leistungen handle es sich ganz überwiegend um solche, auf die ohnehin ein gesetzlicher Anspruch bestehe, weswegen von einer erheblichen Unausgewogenheit der Vereinbarung auszugehen sei. Überdies müsse eine Rechtsfolgenbelehrung beinhaltet sein, die konkret, verständlich, richtig und vollständig sei. Eine Konkretisierung sei bezüglich der Klägerin nicht erfolgt, die Rechtsfolgenbelehrung habe sich in der Wiedergabe des Gesetzestextes erschöpft. Schließlich sei die ausgesprochene Sanktion unverhältnismäßig, da dem Beklagten als milderes Mittel der Erlass eines Verwaltungsaktes nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II zur Verfügung gestanden habe. Eine Prüfung, ob es ausreiche, anstelle der Vereinbarung einen entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen, habe der Beklagte unterlassen. Entgegen der Auffassung des SG wäre der Erlass eines Verwaltungsaktes auch gleichermaßen effektiv gewesen, da dort die Verpflichtung zur Aufnahme der vorgeschlagenen Tätigkeit gleichermaßen bindend geworden wäre.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 16. Oktober 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Sanktionsbescheides vom 19. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2007 und unter Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 19. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2007 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01. November 2007 bis 31. Januar 2008 weitere 94,- EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

Die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung seines Antrags verweist der Beklagte auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid und im Klageverfahren. Die Klägerin habe zur Begründung der Berufung keine neuen Erkenntnisse vorgetragen, sondern lediglich allgemeine Ausführungen zu den §§ 15 und 31 SGB II gemacht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz, die bei der Beklagten für die Klägerin geführte Leistungsakte, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 13.04.2011 wurden, sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 13.04.2011 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach Zulassung durch das SG (§§ 143, 144 Satz 1, Abs. 2 Sozialgerichtgesetz [SGG]) statthafte Berufung ist zulässig, sie ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.

Gegenstand des Verfahrens bilden der Absenkungsbescheid vom 19.10.2007 und, da dieser keinen abtrennbaren Streitgegenstand darstellt, der isoliert von den übrigen Anspruchsvoraussetzungen nach dem SGB II überprüft werden kann (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R - veröffentlicht in juris), auch der Bescheid des Beklagten vom gleichen Tag, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007, mit dem der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.11.2007 – 31.01.2008 unter Absenkung um einen Betrag von 94,- EUR monatlich i.H.v. lediglich 158,89 EUR monatlich bewilligt wurden.

Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 SGB II i.d.F. des mit Wirkung zum 01.01.2011 in Kraft getretenen Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 3.8.2010 (BGBl. I S.1112) tritt die gemeinsame Einrichtung (§ 44b Abs. 1 Satz 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 3.8.2010, BGBl I S.1112), die nach § 6d SGB II die Bezeichnung Jobcenter trägt, als Rechtsnachfolger an die Stelle der zunächst beklagten Arbeitsgemeinschaft. Dieser kraft Gesetzes eintretende Beteiligtenwechsel stellt keine unzulässige Klageänderung im Sinne des § 99 Abs. 1 SGG dar (vgl. BSG, Urteil vom 18.01.2011 - B 4 AS 90/10 R - veröffentlicht in juris). Lediglich das Passivrubrum war entsprechend von Amts wegen zu berichtigen.

Auf Klägerseite ist einzig die Klägerin als solche zu führen. Sie ist Adressatin des Absenkungsbescheides. Aus dem Bewilligungsbescheid ist (noch) hinreichend deutlich ersichtlich, dass nur ihr Individualanspruch abgesenkt wurde.

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Sanktionsbescheid und der Bewilligungsbescheid vom 19.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat für die Zeit vom 01.11.2007 bis 31.01.2008 einen (Individual-) Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 252,89 EUR monatlich.

Die Absenkung des Arbeitslosengeldes II für die Zeit vom 01.11.2007 – 31.01.2008 i.H.v. 94,- EUR monatlich ist rechtswidrig.

Gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II in der bis zum 31.03.2011 geltenden Fassung (vgl. Art. 14 Abs. 3 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 [BGBl. I S.453]) wird das Arbeitslosengeld II in der ersten Stufe um 30 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn sich der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine ihm angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Dies gilt nicht, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige einen wichtigen Grund für sein Verhalten nachweist (§ 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II soll die Agentur für Arbeit im Einvernehmen mit dem kommunalen Träger und jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen die für seine Eingliederung erforderlichen Leistungen vereinbaren (Eingliederungsvereinbarung). Ungeachtet der Rechtsnatur der Eingliederungsvereinbarung setzt ihr Zustandekommen jedenfalls eine Einverständniserklärung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen voraus. Der Beklagte hat der Klägerin unter dem 02.10.2007 eine Eingliederungsvereinbarung vorgelegt, in der er der Klägerin die Unterbreitung von Vermittlungsvorschlägen, die Unterstützung von Bewerbungsbemühungen durch finanzielle Leistung nach Maßgabe des § 46 SGB III und das Angebot von Leistungen zur Aufnahme einer Arbeit (Mobilitätshilfen), nach vorherigem gesonderten Antrag, zugesagt hat. Im Gegenzug sollte sich die Klägerin verpflichten, einen Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs vorher mit ihrem persönlichen Ansprechpartner abzustimmen und mindestens fünf Bewerbungen pro Monat um eine Einstellung zu unternehmen. Den Abschluss dieser Vereinbarung hat die Klägerin anlässlich ihrer persönlichen Vorsprache am 02.10.2007 abgelehnt. Vor dem Hintergrund, dass dem konkreten Änderungswunsch der Klägerin, den Verzicht auf eine Rechtsfolgenbelehrung, durch den Beklagten nicht entsprochen wurde, und hierdurch unmissverständlich das Ende der Verhandlungsphase deutlich geworden ist (vgl. Berlit in Sozialgesetzbuch II - Lehr- und Praxiskommentar -, 3. Aufl. § 31, Rn. 26), ist die Ablehnung als Weigerung i.S.d. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II anzusehen.

Ungeachtet der Fragen, ob die vom Beklagten vorgelegte Eingliederungsvereinbarung inhaltlich in allen Punkten rechtmäßig war (vgl. Landessozialgericht Baden- Württemberg, Beschluss vom 22.01.2007 - L 13 AS 4160/06 ER-B - veröffentlicht in juris), ob eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung erteilt worden ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 18.02.2010 - B 14 AS 53/08 R - m.w.N. veröffentlicht in juris) und ob sich die Klägerin auf einen wichtigen Grund i.S.d. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II berufen kann, ist der Beklagte nach Auffassung des Senats nicht befugt gewesen, eine Absenkung wegen der Weigerung, die Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, zu verfügen. Jedes staatliche Handeln steht unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Jede Rechtsordnung muss übermäßige, nicht durch wichtigere Gemeinwohlbelange gerechtfertigte Eingriffe in Rechtspositionen des Bürgers verhindern. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet und ergibt sich bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat und der öffentlichen Gewalt jeweils insoweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15.12.1987 - 1 BvR 563/85, 582/85, 974/86 - und - 1 BvL 3/86 – veröffentlicht in juris). Die Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bestehen aus drei Teilgeboten, an denen sich die staatlichen Maßnahme messen lassen muss, und zwar die Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sowie einer vorgeschalteten Prüfung des legitimen Zwecks der Maßnahme. Der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung wird gefordert, damit der erwerbsfähige Hilfebedürftige im Rahmen seiner Möglichkeiten und des ihm Zumutbaren aktiv an der Überwindung seiner Arbeitslosigkeit mitwirkt und durch Zusammenarbeit mit dem Sozialleistungsträger eine möglichst sinnvolle und individuelle Hilfegewährung erreicht wird. Ein derartiger Zweck ist mit der Rechtsordnung ohne Weiteres vereinbar. Entsprechendes kann für das Gebot der Geeignetheit, auch im Hinblick darauf, dass die Weigerung des Abschlusses einer Eingliederungsvereinbarung sanktionsbewehrt ist, festgestellt werden. Mit Hilfe der Sanktionsbewehrung in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II kann der erstrebte Erfolg gefördert werden, da im Hinblick auf die drohende Sanktion bei Nichtabschluss einer Eingliederungsvereinbarung viele Hilfebedürftige dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung zustimmen werden, wodurch dem Ziel einer sinnvollen Hilfegewährung und Beseitigung der Arbeitslosigkeit nähergekommen werden kann. Die Verhängung einer Sanktion verstößt jedoch vorliegend gegen das Gebot der Erforderlichkeit. Nach diesem darf keine Maßnahme über das zur Verfolgung des Zwecks notwendige Maß hinausgehen. Das Gebot ist verletzt, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, welche das betreffende Grundrecht nicht oder deutlich weniger fühlbar einschränkt. Im Falle der Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, eröffnet § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II für den Grundsicherungsträger die Möglichkeit, die entsprechenden Regelungen durch Verwaltungsakt festzusetzen. In Ansehung dieser Möglichkeit ist das Beharren des Grundsicherungsträgers gerade auf dem Abschluss einer Vereinbarung im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB II unverhältnismäßig, weil er dieselbe Rechtsfolge, die rechtsverbindliche Festlegung von Verpflichtungen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, mit einem milderen Mittel, dem Erlass eines Verwaltungsaktes, herbeiführen kann. Vorliegend hat der Beklagte den Inhalt der Eingliederungsvereinbarung, die er zuvor der Klägerin zur Einverständniserteilung vorgelegt hat, mit Verwaltungsakt vom 11.12.2007 festgesetzt. Diese Möglichkeit bestand für den Beklagten auch bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Sanktionsbescheides vom 19.10.2007. Dessen Erlass ist daher unverhältnismäßig. Gründe dafür, dass das angestrebte Ziel nicht gleichermaßen effizient im Wege eines Verwaltungsaktes hätte erreicht werden können, sind dem Senat nicht ersichtlich. Im Besonderen ergibt sich, entgegen der Einschätzung des Beklagten und des SG aus dem Umstand, dass die Klägerin bereits zuvor, im Juli 2007 den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung verweigert hat, nicht zwingend, dass sie den ihr auferlegten Verpflichtungen, wenn diese in einem Verwaltungsakt festgelegt werden, gleichermaßen nicht nachkommen würde.

Der Senat wird hierbei auch dadurch gestützt, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 (BGBl. I S.453) die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II gestrichen hat. Dies erfolgte ausweislich des Gesetzentwurfes der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ausdrücklich unter Hinweis darauf, dass mit der Möglichkeit, einen Verwaltungsakt zu erlassen, den Grundsicherungsstellen ein milderes Mittel zur Verfügung steht, um verbindliche Pflichten für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu regeln (BT-Drucks. 17/3404 S.111).

Die Absenkungsentscheidung des Beklagten verstößt mithin gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Absenkungsbescheid vom 19.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Soweit der Beklagte im angefochtenen Absenkungsbescheid auch die ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 19.10.2007 für den "og Zeitraum gemäß § 48 Abs. 1" SGB X "ergänzt" hat, geht die hiermit intendierte Aufhebungsentscheidung des Beklagten ins Leere. Eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X ist nur dann erforderlich, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes vorgelegen haben, nachträglich eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Zwar treten Absenkung und Wegfall mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Absenkung oder den Wegfall der Leistung feststellt, folgt (§ 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II), nachdem jedoch der Bewilligungsbescheid gleichfalls, wie der Absenkungsbescheid am 19.10.2007 erlassen wurde und hierin bereits eine Absenkung für die Zeit vom 01.11.2007 - 31.01.2008 berücksichtigt ist, bedurfte es keiner Aufhebung einer ursprünglich hiervon abweichenden Leistungsbewilligung.

Der Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 19.10.2007 ist gleichfalls rechtswidrig. Der Individualanspruch der Klägerin beläuft sich für die Zeit vom 01.11.2007 bis 31.01.2008 nicht lediglich auf 158,89 EUR (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i.H.v. 216,69 EUR und 36,20 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung abzüglich des Absenkungsbetrages von 94,- EUR) monatlich, sondern auf 252,89 EUR monatlich.

Der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens wird durch den prozessualen Anspruch bestimmt, durch das von der Klägerin aufgrund eines konkreten Sachverhalts an das Gericht gerichtete und im Klageantrag zum Ausdruck kommende Begehren sowie den Klagegrund, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll. Bei einem Streit um höhere Leistungen nach dem SGB II sind nach der Rechtsprechung des BSG zum Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Rahmen der von der Klägerin erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklage ihre Leistungsansprüche nach dem SGB II daher unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 23. November 2006, Az.: B 11b AS 9/06 R; Urteil vom 16. Mai 2007, Az.: B 11b AS 29/06 R). Mithin hat der Senat, trotz des Umstandes, dass das gerichtliche Verfahren zuvorderst mit der Begründung geführt wird, der Absenkungsbescheid des Beklagten sei rechtswidrig, den geltend gemachten Anspruch auf höhere Leistungen nach dem SGB II unter sämtlichen Gesichtspunkten einer Überprüfung zu unterziehen. Nachdem auch keine Begrenzung des Streitgegenstandes erfolgt ist, ist der im Arbeitsförderungsrecht entwickelte "Meistbegünstigungsgrundsatz" anzuwenden, nach dem im Zweifel davon auszugehen ist, dass ein Kläger mit seiner Klage ohne Rücksicht auf den Wortlaut des Antrags das begehrt, was ihm den größten Nutzen bringen kann (§ 123 SGG). Die Klägerin ist als erwerbsfähige Hilfebedürftige i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II berechtigt, Leistungen nach dem SGB II zu erhalten. Nach § 19 Satz 1 SGB II hat sie Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Die monatliche Regelleistung belief sich im streitbefangenen Zeitraum vom 01.11.2007 – 31.02.2008 gemäß § 20 Abs. 3 SGB II auf 90 v.H. der nach § 20 Abs. 2 SGB II maßgeblichen Regelleistung von 345,- EUR, d.h. auf 311,- EUR. Dieser Anspruch mindert sich gemäß § 19 Satz 3 SGB II um das von der Klägerin erzielte Einkommen. Darüberhinaus hat die Klägerin Anspruch auf den auf sie entfallenden Anteil der Kosten für Unterkunft und Heizung. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte die Höhe des in Abzug zu bringenden Erwerbseinkommen der Klägerin oder den auf sie entfallenden Anteil der Unterkunfts- und Heizkosten fehlerhaft berechnet hat, sind dem Senat nicht ersichtlich. Der Individualanspruch der Klägerin beläuft sich hiernach auf insg. 252,89 EUR und nicht lediglich auf die bewilligten 158,89 EUR monatlich. Der Bewilligungsbescheid vom 19.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 ist dahingehend abzuändern, dass der Beklagte verurteilt wird, der Klägerin auch im Zeitraum vom 01.11.2007 bis 31.01.2008 Leistungen i.H.v. 252,89 EUR zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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