S 91 AS 8804/12 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
91
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 91 AS 8804/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Sozialgericht Berlin Invalidenstraße 52

10557 Berlin

Az.: S 91 AS 8804/12 ER

Beschluss In dem Verfahren

- Antragstellerin -

Prozessbevollmächtigter:

gegen

Jobcenter Berlin Tempelhof-Schöneberg, Wolframstr. 89-92, 12105 Berlin, Gz.: - Antragsgegner -

hat die 91. Kammer des Sozialgerichts Berlin am 8. Mai 2012 durch den Richter Kunz beschlossen:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum ab dem 8. Mai 2012 bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Juli 2012, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 559,00 EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner hat die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu erstatten. Der Antragstellerin wird mit Wirkung ab dem 4. April 2012 für das Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt I S , S , B , bewilligt ...

Gründe:

Der zulässige Antrag der 1975 geborenen Antragstellerin, einer italienischen Staatsangehörigen, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 559,00 EUR monatlich ab Rechtshängigkeit, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, zu bewilligen und zu zahlen, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, voraus. Der geltend gemachte (Leistungs-)Anspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit [i.V.m.] § 920 Abs. 2 ZPO).

Der Anordnungsgrund ergibt sich vorliegend bereits aus der existenzsichernden Natur der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Antragstellerin hat ferner mittels ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 3. April 2012 glaubhaft gemacht, dass sie weder über Vermögen noch Einkommen verfügt, aus dem sie ihren Lebensunterhalt auch nur übergangsweise bestreiten könnte.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind nach Aktenlage erfüllt. Durchgreifende Bedenken hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit oder der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach den Feststellungen des Antragsgegners zumindest seit 1. Dezember 2011 in Deutschland hat, bestehen mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht.

Die Antragstellerin ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland – zumindest in dem Zeitpunkt, ab dem ihr Leistungen mit diesem Beschluss zugesprochen werden – länger als drei Monate währt.

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II besteht ebenfalls nicht (so auch: SG Berlin, Urteil v. 27. März 2012 - S 110 AS 28262/11 -; Beschl. v. 30. April 2012 - S 189 AS 7170/12 ER -; Beschl. v. 26. März 2012 - S 96 AS 6145/12 ER -; Beschl. v. 29. März 2012 - S 43 AS 6270/12 ER -; SG Dresden, Beschl. v. 05. August 2011 - S 36 AS 3461/11 ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30. November 2010 - L 34 AS 1501/10 B ER -; SG Berlin, Urteil v. 24. Mai 2011 - S 149 AS 17644/09 -; Schreiber in: info also 2008, 3 [9]; Geiger in: info also 2010, 147 [150]; a.A. u.a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER -; Beschl. v. 3. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER -). Nach dieser Vorschrift sind zwar Ausländer von Arbeitslosengeld II (Alg II)-Leistungen ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Ein Aufenthaltsrecht ließe sich für die Antragstellerin auch nur aus diesem Zweck gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Variante 2 FreizügG/EU herleiten. Sie ist hierzulande bislang nicht als angestellte Arbeitnehmerin oder selbständig beschäftigt gewesen und kann sich daher nicht auf eine Fortwirkung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder Satz 2 FreizügG/EU berufen. Da die Antragstellerin und ihr Lebenspartner, ein deutscher Staatsangehöriger, nicht verheiratet sind, lässt sich ferner aus Abschnitt 6 (Aufenthalt aus familiären Gründen) des Aufenthaltsgesetzes – zumindest bis zur Geburt des gemeinsamen Kindes sowie einer gegebenenfalls erforderlichen Vaterschaftsanerkennung durch den Kindesvater – kein Aufenthaltsrecht für sie begründen. Schließlich kann dahinstehen, ob die Antragstellerin überhaupt ernsthafte Absichten verfolgt, eine Beschäftigung aufzunehmen, mithin tatsächlich zur Arbeitssuche in Deutschland weilt. Die Feststellung, es bestehe kein ernsthafter Wille, eine Arbeit aufzunehmen, und der damit unter Umständen einhergehende Verlust des Aufenthaltsrechts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 Variante 2 FreizügG/EU sind einem aufenthaltsrechtlichen Verwaltungsverfahren nach § 7 oder § 5 Abs. 5 FreizügG/EU vorbehalten (vgl. BSG, Urteil v. 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - juris Rn. 14). Bis zu dessen Abschluss bleibt der Aufenthalt rechtmäßig.

Ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist aber mit der unmittelbar geltenden und Anwendungsvorrang (vgl. erläuternd Schreiber in: ders./Wunder/Dern, VO [EG] Nr. 883/2004, Einl. Rn. 42 a.E.) genießenden Vorschrift des Art. 4 VO (EG) 883/2004 unvereinbar. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II fallen in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Nach Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß ihrem Art. 70. Gemäß Art. 70 Abs. 2 i.V.m. Anhang X der Verordnung sind Leistungen nach dem SGB II – sofern sie nicht zusammen mit einem befristeten Zuschlag nach § 24 Abs. 1 SGB II a.F. gezahlt werden – als beitragsunabhängige Geldleistungen in diesem Sinne zu qualifizieren (vgl. BSG, Urteil v. 18. Januar 2011 - B 4 AS 14/10 R - juris Rn. 20 ff.; Schreiber, a.a.O., Art. 70 Rn. 35). Wenn Art. 4 VO (EG) 883/2004 Bezug auf die "Rechtsvorschriften" eines Mitgliedstaates nimmt, liegt diesem Begriff freilich ein anderes Verständnis als nach der Legaldefinition des Art. 1 lit. l) der Verordnung zugrunde. Hiernach sind "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Diese Zweige umfassen abschließend (vgl. EuGH, Rs. 122/84, Slg. 1985, I-1027 [Scrivner]; Rs. C-25/95, Slg. 1996, I-3745 [Otte]; Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843 [Molenaar]): Leistungen bei Krankheit, bei Mutterschaft und Vaterschaft, bei Invalidität, bei Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, das Sterbegeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen sowie Familienleistungen. Leistungen nach dem SGB II besitzen indes einen Hybridcharakter: Sie weisen sowohl Merkmale von – von Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 umfassten – Leistungen bei Arbeitslosigkeit als auch der Sozialhilfe/sozialen Fürsorge ("social assistance") auf, die nach Art. 3 Abs. 5 lit. a) Variante 2 der Verordnung von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen sind, und werden daher zutreffend als besondere beitragsunabhängige Leistungen qualifiziert, die erst über Art. 3 Abs. 3 Eingang in den Geltungsbereich der Verordnung finden (vgl. BSG ebd.; SG Berlin, Beschl. v. 29. März 2012 - S 43 AS 6270/12 ER -; vgl. auch BSG, Urteil v. 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - juris Rn. 29).

Selbst wenn das SGB II mithin nicht "Rechtsvorschriften" im Sinne der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 enthält, sondern besondere beitragsunabhängige Leistungen gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung gewährt, findet der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Anwendung. Hierfür sprechen bereits systematische Erwägungen. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 normiert die Nichtanwendbarkeit u.a. von Art. 7 der Verordnung für beitragsunabhängige Leistungen. Nach dieser Vorschrift dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt , in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Wenn "Rechtsvorschriften" im Sinne von Art. 7 VO (EG) 883/2004 lediglich solche wären, die die Begriffsbestimmung von Art. 1 lit. l) i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung erfüllen, hätte es der ausdrücklichen Anordnung der Nichtanwendbarkeit des Verbots von Wohnortklauseln für besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 nicht bedurft. Ebenso wäre der Exportausschluss nach Art. 70 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung überflüssig, zumindest in sich widersprüchlich. Ferner ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber Art. 4 VO (EG) 883/2004 neben Art. 7 in Art. 70 Abs. 3 der Verordnung aufgenommen hätte, wenn besondere beitragsunabhängige Geldleistungen – wie nach dem SGB II – vom Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots gemäß Art. 4 der Verordnung ausgenommen werden sollten. Schließlich entspricht die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogenen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen den Grundsätzen praktischer Wirksamkeit (effet utile). Nach Erwägungsgrund Nr. 5 der Verordnung ist erforderlich, bei der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass die betroffenen Arbeitnehmer und Selbständige nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften gleichbehandelt werden. In Halbsatz 1 des Erwägungsgrunds Nr. 32 ist hervorgehoben, dass zur Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer vor allem ihre Arbeitssuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erleichtern ist. Die Regelungen des SGB II enthalten mit dem Alg II die Grundsicherung für Arbeitssuchende in Deutschland. Arbeitssuchende Bürger anderer Mitgliedsstaaten durch eine – bei engem Verständnis vom Wortlaut her nahegelegte – direkte Übertragung der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) VO (EG) 883/2004 auf den Begriff der "Rechtsvorschriften" in Art. 4 der Verordnung von Alg II-Leistungen auszuschließen, würde die Arbeitssuche hierzulande für diese Gruppe erschweren und widerspräche damit dem Ziel der Förderung der Mobilität. Angesichts des eindeutigen Auslegungsergebnisses macht die Kammer vom ihr nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Vorlageermessen keinen Gebrauch.

Soweit der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 dem Wortlaut nach entgegensteht, muss er – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Anwendungsvorrangs – unberücksichtigt bleiben. Eine Rechtfertigung für eine ungleiche Behandlung der Antragstellerin im Vergleich zu Arbeitsuchenden mit deutscher Staatsangehörigkeit ist der Verordnung nicht zu entnehmen. Insbesondere erlaubt Art. 70 Abs. 4 Satz 1 VO (EG) 883/2004, nach dem besondere beitragsunabhängige Geldleistungen ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt werden, eine Ungleichbehandlung nur hinsichtlich des Exports von Leistungen. Die Antragstellerin wohnt jedoch sowohl melderechtlich als auch tatsächlich in Deutschland.

Das sekundärrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 ist einer einschränkenden Auslegung nicht zugänglich (a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - juris Rn. 30). Insbesondere scheidet nach Auffassung des Gerichts eine Übertragung von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG, nach dem Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen, also vor allem Arbeitssuchenden, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, auf Art. 4 VO (EG) 883/2004 unterfallende Sachverhalte aus. Die Verordnung VO (EG) 883/2004 und die Richtlinie RL 2004/38/EG sind taggleich, nämlich am 29. April 2004 erlassen worden. Die Verordnung dient der Koordinierung von Sozialleistungen, die Richtlinie regelt die Freizügigkeit von Unionsbürgern. Beide Regelungswerke ergänzten sich in ihrem Entstehenszeitpunkt. Während die Verordnung eine unmittelbare Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gleichbehandlung der Unionsbürger in Bezug auf deren Rechte betreffend diverse Sozialleistungen regelt, sieht die Richtlinie im Kontext aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen das allgemeine Recht aller Mitgliedstaaten vor, Leistungsvorbehalte für bestimmte Konstellationen im nationalen Leistungsrecht zu verankern (vgl. Art. 288 Abs. 2, Abs. 3 AEUV). Die Verordnung knüpft an faktische Verhältnisse – den Wohnort – an, während die Richtlinie die Rechtmäßigkeitskriterien eines Aufenthalts bestimmt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz der Verordnung besteht mit Blick auf die Leistungen nach dem SGB II mithin unabhängig von der Legalität des Aufenthalts, wobei – umgekehrt – ein andauernder Bezug solcher Leistungen als unangemessene Belastung gewertet werden und eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen könnte (vgl. SG Berlin, Beschl. v. 30. April 2012 - S 189 AS 7170/12 ER -; Urteil v. 27. März 2012 - S 110 AS 28262/11 - juris Rn. 72 m.N.). Somit hat erst der Erlass der Durchführungsverordnung 987/2009 und damit die nachträgliche Aufnahme des SGB II in den Anhang X der VO (EG) 883/2004 zu der Kollision zwischen dem nationalen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und dem – unbedingten und klar formulierten – Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 geführt. Diese Kollision löst den Anwendungsvorrang des (hier: sekundärrechtlichen) Europarechts aus (vgl. EuGHE 1964, 1141 [Costa/E.N.E.L.]; BVerfG, Beschl. v. 8. April 1987 - 2 BvR 687/85 - juris) und hat die Nichtanwendbarkeit des – dem Wortlaut nach nicht verordnungskonform auslegbaren – Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zur Folge (vgl. nur Schreiber, a.a.O., Art. 70 Rn. 35).

Die RL 2004/38/EG ist auch nicht als speziellere Rechtsnorm vorrangig gegenüber der VO (EG) 883/2004 (a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER - juris Rn. 9). Die Vorabentscheidung des EuGH vom 4. Juni 2009 (C-22/08, C-23/08 [Vatsouras & Koupatantze]) bietet nach Auffassung der Kammer keine Anhaltspunkte für ein derartiges Vorrangverhältnis. Die Vorgängerregelung der VO (EG) 883/2004, die VO (EWG) Nr. 1408/71, war in ihrem Anwendungsbereich im Wesentlichen auf Arbeitnehmer und Selbständige beschränkt. Sie fand – im Gegensatz zur RL 2004/38/EG – keine Anwendung auf die arbeitssuchenden Kläger jener Verfahren. Dementsprechend bestand für den EuGH in den Rechtssachen Vatsouras und Koupatantze kein Anlass, sich zum Verhältnis der VO (EWG) Nr. 1408/71 zur RL 2004/38/EG zu verhalten (vgl. SG Berlin, Beschl. v. 30. April 2012 - S 189 AS 7170/12 ER -).

Offen ist vorliegend allerdings, ob der persönliche Geltungsbereich für die Antragstellerin gemäß Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 eröffnet ist. Nach dieser Vorschrift gilt die Verordnung u.a. für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten. Möglicherweise erfordert die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs mithin über Art. 1 lit. l) der Verordnung einen Bezug zu einem – von einem besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungssystem im Sinne von Artt. 3 Abs. 3, 70 VO (EG) 883/2004 zu unterscheidenden – System der sozialen Sicherheit nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung. Umstritten ist dabei, ob eine abstrakte Unterworfenheit unter ein System der sozialen Sicherheit ohne konkrete Einbeziehung reicht (so Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 4. Aufl. 2010, Rn. 101, unter Hinweis auf EuGH, C-39/76, Slg. 1976, 1901 [Mouthaan]; Leopold in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching [Hrsg.], Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand 1. März 2012, Edition 25, Art. 2 VO (EG) 883/2004 Rn. 2) oder ob die Person eine konkrete bestehende oder frühere Rechtsstellung als Versicherter o.ä. aufweisen muss (so SG Berlin, Beschl. v. 18. April 2012 - S 205 AS 8970/12 ER -; vgl. auch Schreiber, a.a.O., Art. 70 Rn. 35, 25 m.w.N.). Unabhängig von dieser bislang nicht höchstrichterlich geklärten Rechtsfrage kann im vorliegenden Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes in tatsächlicher Hinsicht nicht abschließend geklärt werden, ob für die Antragstellerin derzeit oder in der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat der EU – z.B. in Italien – Versicherungsschutz in einem Zweig nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 besteht oder bestanden hat, so dass der persönliche Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots des Art. 4 der Verordnung für sie auch unter den Voraussetzungen der strengeren der beiden dargestellten Auffassungen eröffnet wäre. Hiervon ist für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens einstweiligen Rechtsschutzes indes aufgrund einer Folgenabwägung auszugehen.

Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so hat das Gericht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend einzustellen sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris Rn. 26). Abzuwägen sind die Folgen, die entstünden, wenn das Gericht die begehrte einstweilige Anordnung nicht erlässt, sich aber im Hauptsacheverfahren ergibt, dass der geltend gemachte Anspruch besteht, mit denen, die sich ergeben, wenn die einstweilige Anordnung ergeht, sich aber im Hauptsachsverfahren herausstellt, dass der geltend gemachte Anspruch nicht besteht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86 b Rn. 29a). Anders als in Verfahren nach § 86 b Abs. 1 SGG, bei denen gegebenenfalls eine Entscheidung aufgrund einer Interessenabwägung zu treffen ist, haben die Gerichte im Rahmen von § 86 b Abs. 2 SGG Rechtsfragen auch dann zu entscheiden, wenn sie streitig und nicht höchstrichterlich geklärt sind. Bloße Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht eröffnen regelmäßig keinen Raum für eine Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutz. Lediglich, wenn die Aufklärung der Sach- und Rechtslage wegen außergewöhnlicher Komplexität oder besonderen Umfangs einer zeitnahen Prüfung entzogen ist, kann die Entscheidung des Gerichts auf eine Folgenabwägung statt einer abschließenden Prüfung der Sach- und Rechtslage gestützt werden (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - juris Rn. 27). Die Beantwortung der Frage, ob die Antragstellerin derzeit Versicherte oder Berechtigte in einem Sicherungssystem gemäß Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 ist oder dies in der Vergangenheit war, ferner, falls dem nicht so ist, ob in Anbindung an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates bereits eine abstrakt-mögliche Zugehörigkeit zu einem derartigen System den persönlichen Geltungsbereich gemäß Art. 2 der Verordnung eröffnet, schließlich, ob die Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) VO (EG) 883/2004 überhaupt im Rahmen des Art. 2 der Verordnung Anwendung finden kann, erfordert eine außergewöhnlich komplexe rechtliche Prüfung sowie in tatsächlicher Hinsicht eine Ermittlung besonderen Umfangs, die nicht zeitnah abschließend zu bewerkstelligen ist.

Die somit hinsichtlich dieses Tatbestandsmerkmals anzustellende Folgenabwägung fällt hier zugunsten der Antragstellerin aus. Die Folgen, die für sie entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung nicht erginge, sie aber im Hauptsacheverfahren obsiegte, wiegen schwerer als jene für den Antragsgegner im umgekehrten Fall. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit Ausfluss der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot sind (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 28). Bei Ablehnung ihres Antrags drohen der schwangeren Antragstellerin existenzielle Nachteile, die sie – ausgehend von dem Vortrag der Beteiligten sowie nach Lage der Akten – aus eigener Kraft nicht abzuwenden imstande ist. Demgegenüber fallen die finanziellen Nachteile für den Antragsgegner weniger ins Gewicht, zumal diese durch die zeitlich begrenzte Verpflichtung zur vorläufigen Leistung und den Rückforderungsanspruch gegenüber der Leistungsempfängerin, dem im Fall des Obsiegens des Antragsgegners in der Hauptsache keine Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegengehalten werden können, erheblich gemildert werden. Sollte sich im Laufe des Hauptsacheverfahrens herausstellen, dass diese Anordnung von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, ist die Antragstellerin zudem verpflichtet, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzen, der ihm aus der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 ZPO).

Welche Anordnung im Einzelnen zu treffen ist, beurteilt sich nach dem Ermessen des Gerichts (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 ZPO). Ausgangspunkt für die Berechnung der der Antragstellerin zuzusprechenden Leistung ist die Regelleistung nach § 20 Abs. 4, Abs. 5 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe vom 20. Oktober 2011 in Höhe von derzeit monatlich 337,00 EUR für volljährige Partner. Hinzu kommen Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung, die nach § 22 Abs. 1 SGB II grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu übernehmen sind. Die Antragstellerin hat ihren Antrag insofern vorliegend auf 222,00 EUR beziffert. Dies entspricht der Hälfte des Monatsmietzinses, den sie und ihr Lebensgefährte ausweislich des Mietvertrags vom 24. November 2010 für die gemeinsam innegehaltene Wohnung schulden.

Abzulehnen war der Antrag, soweit die Antragstellerin Leistungen auch für die Zeit vor der Entscheidung der Kammer begehrt hat. Insoweit ist die Sache aus heutiger Sicht nicht (mehr) eilbedürftig. Der Antragstellerin ist es insofern auch im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebots effektiven Rechtsschutzes zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Denn der fragliche Zeitraum ist abgelaufen, und schwere und unwiederbringliche Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich.

Der Leistungsanspruch war nach Auffassung des Gerichts zeitlich entsprechend dem Rechtsgedanken des § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II auf einen Zeitraum von sechs Monaten ab Antragstellung am 1. Februar 2012 zu beschränken. Im einstweiligen Rechtsschutz soll nur eine gegenwärtige dringliche Notlage beseitigt werden. Der Antragsgegner ist aber gehalten, über den genannten Zeitraum hinaus bis zu einer Erledigung des Hauptsacheverfahrens im ersten Rechtszug dieser einstweiligen Anordnung Folge zu leisten, solange eine wesentliche Änderung der Tatsachen- oder Rechtslage nicht eintritt, um Folgeverfahren zu vermeiden (vgl. Hess. LSG, Beschl. v. 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER - juris Rn. 33).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Die Teilabweisung fiel aus Kostengesichtspunkten nicht weiter ins Gewicht, da der Streitgegenstand hier vornehmlich die Frage war, ob der Antragstellerin überhaupt Leistungen zu gewähren sind.

Der bedürftigen Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Aus den oben dargelegten Gründen bot die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg, so dass ein Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe bestand.

Der Antragsgegner kann diesen Beschluss hinsichtlich des Sachausspruchs gemäß der nachstehenden Rechtsmittelbelehrung anfechten, weil er in die Berufungssumme von 750,00 EUR übersteigender Höhe beschwert ist (§§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist dieser Beschluss für die Beteiligten unanfechtbar (§§ 73a Abs. 1 SGG i.V.m. 127 Abs. 2 ZPO). Die Staatskasse kann gegen die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Beschwerde einlegen, weil weder Monatsraten noch aus dem Vermögen zu zahlende Beträge festgesetzt worden sind (§ 127 Abs. 3 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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