L 19 AS 1294/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 129 AS 12272/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 1294/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit der er verpflichtet worden ist, dem Antragssteller im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig ab dem 29. Mai 2012 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft (KdU) und Heizung in Höhe von 511,39 Euro monatlich zu gewähren, ist zulässig aber unbegründet.

Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens des Antragsgegners ein § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfüllt.

Die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld 2 nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sind ab dem 29. Mai 2012, dem Datum des angefochtenen Beschlusses, gegeben, denn der am 1970 geborene, erwerbsfähige Antragsteller hat glaubhaft gemacht, seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern zu können (§§ 7, 8, 9 SGB II). Ihm waren zuletzt mit Bescheid vom 30. August 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich KdU und Heizung für die Zeit vom 01. Oktober 2011 bis zum 31. März 2012 bewilligt worden. Es ist nicht erkennbar, dass sich seitdem die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers wesentlich geändert haben. Es ist zudem glaubhaft, dass der Antragsteller seit dem 01. November 2008 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch in der Bundesrepublik Deutschland hat. Dass er sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits aus der am 08. Januar 2009 ausgestellten Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU), die bisher nicht von der Ausländerbehörde eingezogen worden ist. Eine Aufenthaltserlaubnis ist nicht mehr erforderlich (§ 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU).

Der Antragsteller ist nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von den Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Er ist als niederländischer Staatsangehöriger Ausländer, hält sich länger als drei Monate in der Bundesrepublik auf (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II) und ist nicht leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II). Er ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Auf ein anderes Aufenthaltsrecht nach § 2 FreizügigkeitsG/EU, das den Leistungsausschluss bereits aus diesem Grund entfallen lassen würde, hat sich die Antragstellerin nicht berufen. Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein anderes Aufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügigkeitsG/EU mit Ausnahme der Arbeitssuche in Nr. 1 2. Alt. der Vorschrift vorliegen könnte. Insbesondere sieht er sich nicht in der Lage, die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügigkeitsG/EU im einstweiligen Rechtsschutzverfahren abschließend zu beurteilen.

Der allein auf der Arbeitssuche beruhende Leistungsausschluss gilt jedoch nicht für die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 (EFA), zu denen u. a. die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande zählen. Das EFA ist unmittelbar geltendes Bundesrecht, das weder von den Vorschriften des SGB II noch vom Recht der Europäischen Union verdrängt wird (so Bundessozialgericht (BSG) in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 21). Als Niederländer kann sich der Antragsteller auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA berufen. Danach verpflichten sich die Vertragsschließenden, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebiets, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im Folgenden: Fürsorge) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebiets geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Bei den Regelleistungen nach § 20 SGB II handelt es sich auch um Fürsorge im Sinne dieser Vorschrift (vgl. BSG in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21).

Der von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 für Leistungen nach dem SGB II erklärte Vorbehalt gemäß Art. 16 b) EFA gegen das EFA schließt den Antragsteller nicht wirksam vom Bezug von Grundsicherungsleistungen aus.

Zwar hatte die Bundesrepublik bereits zuvor einen Vorbehalt erklärt, der zum Ausschluss der Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten von den im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in §§ 30, 72 BSHG vorgesehenen Hilfen zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage und zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten geführt hatte. Allerdings hat sich der Vorbehalt nicht auf die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 2. Abschnitt des BSHG bezogen, so dass sich nicht die Frage stellt, ob der erste Vorbehalt nach dem Außerkrafttreten des BSHG mit Wirkung zum 01. Januar 2005 auf die Nachfolgegesetzgebung, also hier das SGB II, anzuwenden ist (vgl. BSG in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21). Der nunmehr zum 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt ist unwirksam, da er nicht den dafür normierten Voraussetzungen entspricht und deshalb unzulässig ist.

Nach Art. 2 Abs. 1 d) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) bedeutet Vorbehalt eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern. Aus der Verwendung des Wortes "bei" ergibt sich, dass der Vorbehalt dann abgegeben werden muss, wenn der Staat dem Vertrag beitritt. Dies wird in Art. 19 zur Anbringung von Vorbehalten noch einmal bekräftigt. Eine Regelung für einen nachträglichen Vorbehalt enthält die WVK nicht. Dagegen ist in Art. 16 b EFA als speziellerer Norm geregelt, dass jeder Vertragsschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen hat, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragsschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden machen. Diese Regelung setzt also voraus, dass gleichzeitig mit der Mitteilung neuer Rechtsvorschriften der Staat seinen Vorbehalt gegen die Anwendung dieser Rechtsvorschrift auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten erklärt. Zum 19. Dezember 2011 hat die Bundesrepublik den Vorbehalt hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II erklärt. Der Vorbehalt ist als Reaktion auf die Entscheidung des BSG vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - (in SozR 4 - 4200 § 7 Nr. 21) zur Anwendbarkeit des EFA im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu verstehen. Das SGB II ist jedoch kein neues Gesetz, denn es ist bereits am 01. Januar 2005 in Kraft getreten, ohne dass ein Vorbehalt erklärt worden ist. Zwar könnte man die Auffassung vertreten, dass das Gesetz auch dann als neu zu bezeichnen ist, wenn es novelliert und neu verkündet wird (vgl. zum Streitstand: Matthias Reuß, Wissenschaftlicher Dienst des deutschen Bundestags, Sachstand: Zur Zulässigkeit von Vorbehalten zum Europäischen Fürsorgeabkommen - WD 2 - 3000 - 035/12 -). Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist mit wenigen redaktionellen Änderungen aber schon zum 28. August 2007 (Gesetz vom 19. August 2007, BGBl. I, S. 1970) in Kraft getreten, ohne dass gleichzeitig ein Vorbehalt erklärt worden ist. Letztlich werden bei der Anwendung und Auslegung geltenden Rechts durch ein Bundesgericht wie hier durch das BSG am 19. Oktober 2010 keine neuen Rechtvorschriften geschaffen. Der Senat weicht nicht von einer gegenteiligen Auffassung in den Beschlüssen des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 03. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER -, 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER - und vom 05. März 2012 - L 29 AS 414/12 B ER -, zitiert nach juris, ab, denn die Ausführungen dort zum EFA gehören nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidungen, da die Antragsteller dieser Verfahren Staatsangehörige von Polen und Rumänien waren, die das EFA nicht ratifiziert haben.

Somit liegt ein zulässiger Vorbehalt nicht vor, die Vorschriften des EFA sind weiterhin anwendbar. Auf die Entscheidung der Frage, ob die Zulässigkeit des Vorbehalts an der fehlenden Ermächtigung durch ein Parlamentsgesetz scheitert (so Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 25. April 2012 - S 55 AS 9238/12 -, zitiert nach juris), kommt es damit vorderhand ebenso wenig an wie auf die Auffassung des Sozialgerichts, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei bei europarechtskonformer Auslegung nicht auf EU-Ausländer wie den Antragsteller hier anzuwenden.

Der Antragsteller kann also Grundsicherungsleistungen nach § 20 SGB II beanspruchen. Der Regelbedarf beträgt nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II ab dem 01. Januar 2012 374,- Euro monatlich. Zur Vermeidung der Vorwegnahme in der Hauptsache hält der Senat einen Abzug von 20% für angemessen, so dass sich der Regelbedarf auf 299,20 Euro monatlich reduziert. Hinzu kommen die KdU und Heizung, die nach dem vorliegenden Mietvertrag 212,19 Euro betragen, insgesamt also 511,39 Euro monatlich. Die Leistungsgewährung, die nur vorläufig zu erfolgen hat, hat das Sozialgericht für die hier allein zu treffende einstweilige Regelung in Anlehnung an die Dauer eines sonst regelmäßigen sechsmonatigen Bewilligungszeitraums (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II) auf die Zeit von sechs Monaten, gerechnet ab seiner Beschlussfassung, befristet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG). Mit ihm erledigt sich zugleich der Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG auf Aussetzen der Vollstreckung.
Rechtskraft
Aus
Saved