L 18 AS 1472/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 159 AS 11701/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1472/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Mai 2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet.

Das Sozialgericht (SG) hat beanstandungsfrei die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Aufhebungsbescheid 10. Mai 2012 angeordnet. Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese Anordnung auch auf die zwischenzeitlich – nach Erteilung des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2012 – erfolgte Klageerhebung bei dem SG erstreckt.

Einer gerichtlichen Entscheidung über die Beschwerde steht nicht entgegen, dass nach Erlass des angefochtenen Beschlusses des SG der Widerspruchsbescheid erteilt wurde und gegen ihn inzwischen Klage erhoben worden ist. Anders als in den Fällen, in denen gemäß § 86 Abs. 2 SGG in der bis 01. Januar 2002 gültig gewesenen Fassung (aF) die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes eintrat und bei nachfolgender Klageerhebung im Hinblick auf die Sonderregelung des § 97 SGG aF mit dem Tag vor Eintritt der Rechtshängigkeit endete (vgl. BSG SozR 3 – 1300 § 50 Nr. 20 mwN), erlischt die nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG gerichtlich angeordnete aufschiebende Wirkung – soweit sie nicht befristet wurde – erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit des zugrunde liegenden Bescheides (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rn 19 mwN; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zum SGG, 4. Auflage, 78. Lfg., September 2004, § 86b Rz. 24; BVerwGE 78, 192, 208, 209 zu § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-). Da die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage – anders als nach dem bis 01. Januar 2002 gültig gewesenen Recht (§86 Abs. 2; § 97 SGG aF) – in derselben Vorschrift (§ 86b Abs. 1 SGG) einheitlich geregelt ist, bedarf es nach Klageerhebung keiner – erneuten – Prüfung und Entscheidung über die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in einem weiteren Verfahren (vgl auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. April 2006 – L 3 B 1138/05 U ER – juris).

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist schon deshalb gerechtfertigt, weil erhebliche Gründe gegen die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides sprechen und daher eine Folgenabwägung – zugunsten der Antragstellerin – vorzunehmen ist. Anders als im Verfahren nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bedarf es vorliegend auch keines Anordnungsgrundes iS eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses, der für die Gewährung von Leistungen für Unterkunft und Heizung in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats regelmäßig nicht gegeben ist.

Die verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris) ergibt sich im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht – wie bei der die italienische Staatsangehörigkeit besitzenden Antragstellerin – zumindest vorbehaltlich der noch zu klärenden Tragweite der behaupteten Beschäftigungsaufnahme zum 1. Juni 2012 - auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – (Urteil vom 04. Juni 2009 – C - 22/08 - juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl. EuGH aaO). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung. Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt. Die Folgenabwägung erfolgte auch im Hinblick darauf, dass im Hauptsacheverfahren abschließend zu klären sein wird, ob die Antragstellerin ggfs als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt ist, und ob sie anspruchsschädliches Einkommen bezieht.

Angesichts des Existenz sichernden Charakters der beanspruchten Leistungen wiegen die dem Antragstellerin drohenden Nachteile bei einer Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggfs nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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