L 20 AS 1861/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 21 AS 1425/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 20 AS 1861/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juli 2012 abgeändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vollumfänglich zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für das sozialgerichtliche und für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer (Antragsgegner im Anordnungsverfahren) wehrt sich gegen die ihm vom Sozialgericht auferlegte Verpflichtung, über einen Antrag der Antragsteller auf Übernahme von Schulden erneut zu entscheiden.

Die Antragsteller beziehen von dem Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – SGB II -. Sie beantragten bei dem Antragsgegner am 04. Juni 2012 die darlehensweise Übernahme von Stromschulden in Höhe von 1.812,51 EUR und machten geltend, dass die Sperrung des Stromanschlusses drohe. Eine Ratenzahlungsvereinbarung mit dem Stromanbieter sei nicht zustande gekommen. Ihnen drohe eine der Wohnungslosigkeit vergleichbare Situation.

Mit Bescheid vom 12. Juni 2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Hiergegen erhoben die Antragsteller am 15. Juni 2012 Widerspruch, der mit Bescheid vom 20. Juni 2012 zurückgewiesen wurde.

Daraufhin haben die Antragsteller Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt/Oder erhoben sowie am 25. Juni 2012 beim Sozialgericht beantragt:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig an die Antragsteller die Stromschulden, die bei ihrem Energieversorger E.ON edis in Höhe von derzeit 1975,53 EUR aufgelaufen sind, als Darlehen zu übernehmen.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 11. Juni 2012 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, "bis spätestens 23.07.2012 eine vorläufige Entscheidung darüber zu treffen, ob und ggf. in welcher Höhe er Stromschulden der Antragsteller vorläufig übernimmt". Im Übrigen hat das Sozialgericht den Antrag zurückgewiesen und den Antragsgegner verpflichtet, die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das sozialgerichtliche Verfahren zu erstatten.

Der Antrag hätte nur dahingehend Erfolg, dass der Antragsgegner ermessensfehlerfrei über die vorläufige Gewährung eines Darlehens entscheiden müsse.

Gegen den am 17. Juli 2012 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 30. Juli 2012 Beschwerde eingelegt. Er ist der Auffassung, der ursprünglich von den Antragstellern gestellte Antrag hätte zurückgewiesen werden müssen. Die vom Sozialgericht vorgenommene Umdeutung des auf Zahlung gerichteten Antrages in einen Antrag auf Neubescheidung sei unzulässig, da die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – nicht vorlägen. Er, der Antragsgegner, habe in die Antragsänderung nicht eingewilligt, auch sei die Änderung nicht sachdienlich. Durch die "Umdeutung" werde dem eigentlichen Begehren der Antragsteller nicht ausreichend Rechnung getragen. Zudem fehle es für den so verstandenen Antrag an einem Anordnungsanspruch. Im sozialgerichtlichen Verfahren könnten Ermessensleistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur bei einer Ermessensreduktion auf Null zugesprochen werden. Hierfür lägen jedoch die Voraussetzungen nicht vor.

Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Juli 2012 abzuändern und den Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vollumfänglich zurückzuweisen sowie festzustellen, dass den Antragstellern keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten sind.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie halten die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Das Gericht habe zutreffend den "in unrichtiger Weise" gestellten Leistungsantrag in einen Antrag auf Neubescheidung umgedeutet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere fehlt es dem Antragsgegner nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis, denn er ist durch die Entscheidung des Sozialgerichts weiter beschwert. Eine Beschwer liegt bei einem Beklagten schon dann vor, wenn dem Antrag auf Abweisung des Antragsbegehrens – wie hier – nicht oder nicht vollumfänglich entsprochen worden ist (BSG v. 26.06.1973, 8/2 RU 112/70, BSGE 36, 62). Insofern ist eine formelle Beschwer ausreichend. Vorliegend könnte der Antragsgegner durch die Entscheidung des Sozialgerichts auch noch materiell beschwert sein. Zwar hat das Sozialgericht mit dem Tenor des angefochtenen Beschlusses dem Antragsgegner die Verpflichtung zur Neubescheidung lediglich "bis spätestens 23. Juli 2012" auferlegt. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich jedoch nicht, dass der Antragsgegner nur bis zum 23. Juli 2012 eine Neubescheidung vornehmen sollte. So führt das Sozialgericht zur Fristsetzung aus, dass der Antragsgegner noch Zeit benötige für eine Anhörung der Antragsteller und mögliche Ermittlungen (Seite 10 des Beschlusses, Ziff. 5 der Gründe). Diese Ausführungen könnten nahe legen, dass, da dem Antragsgegner gerade eine Bearbeitungsfrist eingeräumt werden sollte, der Tenor dahin zu verstehen ist, dass eine Entscheidung des Antragsgegners nicht vor dem 23. Juli 2012 verlangt werden kann und nicht dahin , dass die ausgesprochene Verpflichtung mit Ablauf des 23. Juli 2012 nicht mehr bestehen sollte. Letztlich konnte der Senat dies dahinstehen lassen, da die formelle Beschwer zur Zulässigkeit der Beschwerde führt.

Die Beschwerde ist begründet. Streitgegenstand im Beschwerdeverfahren ist allein die vom Sozialgericht ausgesprochene Verpflichtung zur Neubescheidung des von den Antragstellern am 04. Juni 2012 gestellten Antrages auf Übernahme von Schulden. Soweit das Sozialgericht den auf Verpflichtung zur darlehensweise Übernahme von 1975,53 EUR gerichteten Antrag mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen hat, ist diese Antragsabweisung rechtskräftig geworden.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung zur Neubescheidung verpflichtet.

Zwar war das Sozialgericht befugt, von dem schriftsätzlichen Antrag der Antragsteller abzuweichen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist das Gericht bei Entscheidung über Anträge nach § 86 b Abs. 2 SGG nicht an die gestellten Anträge gebunden und bestimmt nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks (einstweilige Sicherung eines Anspruchs oder einstweilige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) erforderlich sind (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86 b, Rn. 30; Hintz/Lowe, SGG, 1. Auflage 2012, § 86 b, Rn. 140). Soweit das Sozialgericht mit der Entscheidung davon ausgeht, dass in dem Verpflichtungsbegehren auf Leistung der Antrag auf Verpflichtung zur Neubescheidung enthalten ist, kommt es hierauf nicht an. Auch ist die Auslegung des Antrages der Antragsteller durch das Sozialgericht nicht nach § 99 SGG zu messen. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zutreffend die Befugnis zu einer vom gestellten Antrag abweichenden Verpflichtung angenommen.

Vorliegend war die Entscheidung des Sozialgerichts aufzuheben. Das den Gerichten bei Entscheidungen nach § 86 b Abs. 2 SGG eingeräumte Ermessen ist begrenzt durch den Zweck einer einstweiligen Anordnung, der Erforderlichkeit der zu treffenden Regelung zur Sicherung eines Anspruchs, zur Abwendung wesentlicher Nachteile. Die vom Gericht getroffene Regelung muss unter Berücksichtigung des glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs und des ebenso glaubhaft gemachten Anordnungsgrundes zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich sein.

Die Entscheidung des Sozialgerichts wird diesen Anforderungen nicht gerecht, die getroffene Anordnung ist nicht erforderlich zur Abwendung wesentlicher Nachteile.

Grundsätzlich ist ein Anspruch auf Neubescheidung nicht nach § 86 b Abs. 2 SGG sicherungsfähig, einer einstweiligen Regelung nicht zugänglich. Ist die begehrte Leistung – hier Schuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II - von einer Ermessensentscheidung abhängig, so setzt eine einstweilige Anordnung voraus, dass das Ermessen rechtmäßig nur in eine Richtung, nämlich zur Leistungsgewährung ausgeübt werden kann (BVerwG v. 16.08.1978, 1 WB 112/78, BVerwGE 63, 110). Dies ist hier gerade vom Sozialgericht nicht angenommen worden, da der auf eine Verpflichtung zur Leistung gerichtete Antrag abgewiesen worden ist.

Soweit vertreten wird, dass ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung dann einer einstweiligen Regelung zugänglich ist, wenn andernfalls der Anspruch verloren ginge (Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Auflage 2008, Rn. 212 m.w.N.), so ist dem für die Fälle zu folgen, in denen gerade die Neubescheidung schon verhindert, dass wesentliche Nachteile, die in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr reversibel sind, abgewendet werden (OVG Münster, NWVBl. 1994, 176 zur Auswahlentscheidung des Dienstherren bei Beförderungen).

Kann aber mit einer Verpflichtung zur Neubescheidung der geltend gemachte Nachteil nicht abgewendet werden, ist ein – im Hauptsacheverfahren zu klärender – Anspruch auf rechtsfehlerhafte Neubescheidung nicht einstweilen zu sichern.

So liegt es hier. Die Antragsteller haben sinngemäß geltend gemacht, dass ohne die Übernahme der beim Energieversorger bestehenden Verbindlichkeit durch unmittelbar bevorstehende Sperrung des Stromanschlusses eine dem Verlust der derzeitigen Unterkunft vergleichbare Notlage einzutreten droht bzw. eine mit dem Eintritt der Wohnungslosigkeit gleichzusetzende Situation einzutreten droht (§ 22 Abs. 8 SGB II). Ein Anordnungsanspruch wäre, da dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt ist, nur gegeben, wenn die einzig rechtmäßige Ausübung des Ermessens zu der Entscheidung im Sinne der Antragsteller führt. Dies hat das Sozialgericht mit der Entscheidung gerade nicht angenommen.

Mit einer Verpflichtung zur Neubescheidung kann bei unterstelltem Anordnungsanspruch der Verlust der Wohnung nicht abgewendet werden. Ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht (hinsichtlich des Zahlungsanspruchs), wie dies das Sozialgericht angenommen hat, fehlt es für einen Anspruch auf rechtsfehlerfreie Neubescheidung an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Die Antragsteller haben nämlich nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen nicht reversible Nachteile drohen, wenn über den Anspruch auf Neubescheidung im Hauptsacheverfahren entschieden wird. Ist es den Antragstellern zuzumuten, eine Neubescheidung abzuwarten, ist nicht ersichtlich, welche anderen, schwerwiegenden Nachteile als die Unterbrechung der Stromversorgung (was gerade vom Sozialgericht nicht angenommen wurde) drohen, die eine einstweilige Verpflichtung zur Neubescheidung erforderlich machen würde.

Nach allem war wie tenoriert zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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