S 96 AS 41324/09

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
96
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 96 AS 41324/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird – unter entsprechender Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 10. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2009 – verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ohne Anrechnung des erhaltenen Qualifizierungsentgeltes, also weitere Leistungen in Höhe von 62,26 EUR monatlich für den Zeitraum Februar 2008 bis Juni 2008 zu gewähren.

Der Beklagte erstattet der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Anrechnung eines Qualifizierungsentgeltes in Höhe von 62,26 EUR monatlich, das die Klägerin im Rahmen ihrer Ausbildung erhalten hat, auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Zeitraum Februar 2008 bis Juni 2008. Die im Jahr 1985 geborene Klägerin stand im streitgegenständlichen Zeitraum beim Beklagten im laufenden Leistungsbezug. Sie absolvierte seit dem September 2007 eine qualifizierte Ausbildung zur Steinmetzin und Steinbildhauerin an der K -Schule, Oberstufenzentrum Bautechnik I. Gemäß der zwischen der Klägerin, der K -Schule und der Steinmetz- und Bildhauer-Innung Berlin geschlossenen Zielvereinbarung vom 20. September 2007 sollte dabei die Steinmetz-und Bildhauer-Innung als Praktikumsbetrieb die fachpraktische Ausbildung bieten. Diese Zielvereinbarung sah ein monatliches Qualifizierungsentgelt, ein sogenanntes Basisentgelt, und ein leistungs- und verhaltensabhängiges Entgelt, das am Ende des Schulhalbjahres ausgezahlt wird, vor. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 10. März 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum Februar 2008 bis Juni 2008 in Höhe von monatlich zusammen 213,63 EUR. Dabei wurde ein Unterhalt in Höhe von 300 EUR und ein sonstiges Einkommen in Höhe von 62,26 EUR unter Berücksichtigung einer Versicherungspauschale von 30 EUR angerechnet. Tatsächlich erzielte die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum folgende Einnahmen: Die Klägerin erhielt Qualifizierungsentgelt (Basisentgelt) in Höhe von 62,26 EUR am 8. Februar 2008 und am 29. Februar 2008, zusammen im Februar 2008 damit 124,52 EUR. Hinzu kamen im Februar 2008 Unterhaltszahlungen in Höhe von insgesamt 300 EUR. Die Klägerin erhielt Qualifizierungsentgelt (Basisentgelt) in Höhe von 62,26 EUR am 31. März 2008. Hinzu kamen im März 2008 Unterhaltszahlungen in Höhe von insgesamt 300 EUR. Die Klägerin erhielt Qualifizierungsentgelt (Basisentgelt) in Höhe von 62,26 EUR am 30. April 2008. Hinzu kamen im April 2008 Unterhaltszahlungen in Höhe von insgesamt 300. Im Mai erhielt die Klägerin lediglich Unterhalt in Höhe von 200 EUR. Qualifizierungsentgelt wurde ihrem Konto im Mai 2008 nicht gutgeschrieben. Die Klägerin erhielt Qualifizierungsentgelt (Basisentgelt) in Höhe von 62,26 EUR am 2. Juni 2008. Hinzu kamen im Juni 2008 Unterhaltszahlungen in Höhe von insgesamt 200 EUR. Die Klägerin erhob gegen den Bescheid vom 10. März 2008 am 11. April 2008 Widerspruch. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. November 2009 als unbegründet zurück. Die Klägerin zu hat am 27. November 2009 Klage erhoben, mit der sie sich gegen die Anrechnung des Qualifizierungsentgeltes wendet. Das Qualifizierungsentgelt sei nicht anrechenbar, da es als Einkommen aus Erwerbstätigkeit anzusehen sei und unterhalb des für solche Einnahmen geltenden Freibetrages von 100 EUR liege. Zudem scheide eine Anrechnung wegen der Zweckbestimmung des Qualifizierungsentgeltes gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 1 a) SGb II aus. Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter entsprechender Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 10. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2009 zu verurteilen, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ohne Anrechnung des erhaltenen Qualifizierungsentgeltes, also weitere Leistungen in Höhe von 62,26 EUR monatlich für den Zeitraum Februar 2008 bis Juni 2008 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die Klage für unbegründet. Das Qualifizierungsentgelt sei zutreffend angerechnet worden. Es stelle keine Einnahme aus einer Erwerbstätigkeit dar. Auch handele es sich nicht um eine zweckbestimmte Einnahme, denn insbesondere das Basisentgelt werde voraussetzungslos gezahlt. Die Beteiligten haben im Erörterungstermin am 24. April 2012 ihr Einverständnis mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 SGG zulässig und begründet. Der Klägerin stehen höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu. Die Klägerin erfüllte die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II. Sie war insbesondere nicht nach § 7 Abs. 5 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, da dieser für die Klägerin wegen § 7 Abs. 6 Nr. 2 SGB II in der im streitgegenständlichen Zeitraum gültigen Fassung (aF) keine Anwendung findet, da der förderungsrechtliche Bedarf der Klägerin als Berufsfachschülerin sich nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bemaß. Der Beklagte durfte bei der Klägerin nicht wie geschehen das Qualifizierungsentgelt in Höhe von 62,26 EUR monatlich als Einkommen anrechnen. Eine solche Anrechnung scheitert zwar nicht – wie die Klägerin meint – an der Vorschrift des § 11 Abs. 2 S. 2 SGB II aF. Nach dieser Vorschrift sind von einem Einkommen mindestens 100 EUR abzusetzen, wenn der jeweilige Hilfeempfänger erwerbstätig ist. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Klägerin war Berufsfachschülerin an einem Oberstufenzentrum und absolvierte dort eine Ausbildung in Lernortkooperation, d.h. ohne in einem Ausbildungsbetrieb tätig zu sein. Das Qualifizierungsentgelt stellt – schon der Höhe nach – offensichtlich keine Gegenleistung für von der Klägerin erbrachte Arbeitsleistungen dar. Es ist damit nicht als Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit einzuordnen. Einer Anrechnung steht jedoch § 11 Abs. 3 Nr. 1 a) SGB II aF entgegen. Nach dieser Vorschrift sind Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit sie als zweckbestimmte Einnahmen einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II dienen und die Lage des Empfängers nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären. Das Qualifizierungsentgelt stellt eine zweckbestimmte Leistung dar. Eine solche Zweckbestimmung liegt vor, wenn einer Leistung eine bestimmte, vom Gesetzgeber erkennbar gebilligte Zweckrichtung zu Eigen ist, die nicht in der Bestreitung des Lebensunterhaltes besteht, so dass sie verfehlt würde, wenn der Empfänger sie (über den Weg der Einkommensanrechnung) hierzu verwenden müsste und dadurch verhindert wäre, sie ihrer eigentlichen Zweckbestimmung zufließen zu lassen. Gesetzgeberisches Ziel ist es, einerseits eine solche Zweckvereitelung und andererseits die Erbringung von Doppelleistungen für einen identischen Zweck zu vermeiden (vgl. Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, K § 11 Rz. 573 mwN). Das Verwaltungsgericht Berlin und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg haben in den Verfahren VG 18 A 245.06 bzw. OVG 6 B 14.08 die Frage zu beurteilen gehabt, ob das hier streitgegenständliche Qualifizierungsentgelt auf Leistungen nach dem BAföG (Schüler-BAföG) anzurechnen ist. Dabei ist – unter anderem durch Einholung von Stellungnahmen der zuständigen Senatsverwaltung – folgende Zweckbestimmung ermittelt worden: "Wie der vom Verwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Stellungnahme der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales vom 22. Januar 2008 zu entnehmen ist, müsse bei sog. Lernortkooperationen der Bildungsträger den gesamten vorgesehenen Praxisanteil des Berufsbildes simulieren, obwohl er kein Praxisbetrieb mit entsprechender Produktion sei. Dies habe Abstriche bei einer praxisorientierten Ausbildung zur Folge und sei deshalb nur ein bedarfsorientierter Ersatz für eine betriebliche Ausbildung, was dazu führe, dass es für einen Teil der Teilnehmer im Vergleich mit anderen Jugendlichen im Umfeld problematisch sei, eine mehrjährige Bildungsmaßnahme ohne weitere finanzielle Anreize durchzustehen. Deshalb sei in Lernortkooperationen zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen ein leistungsorientiertes Qualifizierungsentgelt auch als Instrument der Motivation vorgesehen. Die Konditionen für die Höhe und Verteilung des Qualifizierungsentgelts seien Bestandteil einer gemeinsam mit Klassenlehrer, Bildungsträger und den Jugendlichen für die jeweilige Maßnahme entwickelten pädagogischen Konzeption. Das Qualifizierungsentgelt habe Taschengeldcharakter und sei vom pädagogischen Ansatz her als Lern- und Leistungsanreiz mit finanziellem Belohnungsprinzip gedacht." (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 2. März 2010, Az: OVG 6 B 14.08, juris) Die Kammer hält den Zweck insoweit für zutreffend ermittelt und hat keinen Anlass für weitergehende Ermittlungen oder die Annahme einer abweichenden Zweckbestimmung gesehen. Dieser Zweck, d.h. Ausbildungsabbrüche bei Auszubildenden, die keinem Ausbildungsbetrieb zugeordnet sind und dementsprechend auch keine Ausbildungsvergütung beziehen, durch Gewährung eines Taschengeldes zur geringfügigen Verbesserung ihrer finanziellen Situation zu verhindern, verbunden mit einem Lern- und Leistungsanreiz, ist ein anderer Zweck als die bloße Sicherung des Lebensunterhaltes. Es liegt damit keine Doppelleistung vor. Auch würde der dem Qualifizierungsentgelt beigemessene Zweck verfehlt, wenn eine Anrechnung erfolgen würde. Dazu hat das Oberverwaltungsgericht (aaO) – denn auch in der im BAföG-Recht geltenden Anrechnungsvorschrift kommt es auf das Kriterium einer zu befürchtenden Zweckverfehlung an – zutreffend ausgeführt: "Das Verwaltungsgericht weist zutreffend darauf hin, dass diese mit der Zahlung des Entgelts verfolgten Motivationszwecke verfehlt würden, wenn es auf die Ausbildungsförderung angerechnet würde. Das gilt in besonderem Maße für die leistungsabhängig gezahlten Bestandteile des Qualifizierungsentgelts, weil, wie das Verwaltungsgericht richtig darlegt, vorbildliches Verhalten in der Ausbildung nicht zu der beabsichtigten finanziellen Belohnung, sondern lediglich zu einer Kürzung der Förderung führen würde. Aber auch der mit der Zahlung des Basisentgelts verfolgte Zweck, Ausbildungsabbrüche zu verhindern, indem den Auszubildenden ein geringer monatlicher Betrag als (zusätzliches) Taschengeld zur Verfügung gestellt wird, würde im Falle einer Anrechnung konterkariert." Schließlich ist auch die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II neben dem anrechnungsfrei bleibenden Qualifizierungsentgelt noch gerechtfertigt. Dies ergibt sich bereits aus der geringen Höhe des Entgelts, welches – entsprechend seiner Zweckbestimmung – nicht mehr als einen Taschengeldcharakter hat. Vor diesem Hintergrund ist das Qualifizierungsentgelt als zweckbestimmte Einnahme gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 1 a) SGB II aF nicht als Einkommen anzurechnen (vgl. auch Geiger in: Münder, Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II, 4. Auflage, § 11a, Rz. 9). Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Nachfolgevorschrift des § 11a Abs. 3 SGB II neu formuliert worden ist und nunmehr eventuell einen in der entsprechenden Vorschrift ausdrücklich genannten Zweck erfordert und damit eventuell strengere Anforderungen stellt. Zwar spricht die Gesetzesbegründung insoweit von einer "Klarstellung" (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 94). Es wird jedoch nicht deutlich, dass eine ohnehin schon geltende Einschränkung zur Verdeutlichung lediglich im Gesetzeswortlaut nachvollzogen werden sollte. Es drüfte sich vielmehr um eine korrigierende Klarstellung für die Zukunft handeln. Hinzu kommt, dass es sich nicht um die Begründung der hier maßgeblichen Vorschrift (sondern der Nachfolgevorschrift) handelt, so dass sie als Quelle der historischen Auslegung der hier maßgeblichen Vorschrift ohnehin nicht herangezogen werden kann, sondern allenfalls ein Indiz für ein Auslegung in der einen oder anderen Weise darstellen kann. Vorliegend kann die Kammer (weitere) Anhaltspunkte für diese einschränkende Auslegung des § 11 Abs. 3 Nr. 1 a) SGB II aF nicht erkennen. Nach alledem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG. Die Berufung bedurfte gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 SGG der Zulassung. Denn im Streit steht die Anrechnung von insgesamt 311,30 EUR (5 x 62,26 EUR). Damit liegt der Wert des Beschwerdegegenstandes unter 750 EUR. Die Berufung war gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Denn es gibt bislang, soweit für die Kammer ersichtlich, keine sozialgerichtliche Rechtsprechung zu der – über den vorliegenden Einzelfall hinausgehenden – Fragestellung, ob das hier streitgegenständliche Qualifizierungsentgelt beim Bezug von Leistungen nach dem SGB II anrechnungsfrei nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 a) SGB II aF bleibt. Eine grundsätzliche Bedeutung dieser Rechtsfrage war daher anzunehmen.
Rechtskraft
Aus
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