L 6 AS 139/12 ZVW

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 15 AS 664/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 139/12 ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 AS 6/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Auf die Revision d.Kl. wird Urteil des LSG zurückverwiesen!!!
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 07.02.2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren noch die Übernahme der Kosten für spezielle kieferorthopädische Behandlungen als Zuschuss in Höhe von 928,11 Euro.

Die 1996 geborene Klägerin bezog zusammen mit ihren Eltern bis zum 31.05.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Durch Bescheid vom 24.08.2009 (Änderungsbescheide vom 01.10.2009, 09.08.2010) bewilligte der Beklagte ihr diese für den Zeitraum von Dezember 2009 bis Mai 2010 (87,00 Euro Regelleistung und 264,56 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung monatlich).

Unter dem 18.11.2009 erteilte die zuständige Krankenkasse die Zusage, die Kosten für die von der Klägerin beantragten kieferorthopädischen Behandlung auf der Grundlage des vorgelegten Heil- und Kostenplans vom 22.09.2009, der ein Kostenvolumen von 2380,30 Euro auswies, zu übernehmen; damit seien alle medizinisch notwendigen Leistungen der Behandlung abgegolten. Sollte die Klägerin sich für darüber hinausgehende Privatleistungen entscheiden, seien die Mehrkosten selbst zu tragen. Den Eigenanteil von 20 Prozent werde sie erstatten, wenn der Erfolg der Behandlung durch Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung nachgewiesen sei.

Die Kosten wurden von der Krankenkasse getragen, die Erstattung des Eigenanteils erwartet die Klägerin mit Abschluss der Behandlung Anfang 2013.

Mit Schreiben vom 13.01.2010 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung in Höhe von 1079,59 Euro als Beihilfe und 445,77 Euro als Darlehen. Dabei handelte es sich zum einen (1079,59 Euro) um Kosten für von der behandelnden Kieferorthopädin als notwendig erachteten Zusatzleistungen, die von der Krankenkasse nicht übernommen wurden. Die darlehnsweise Übernahme (445,77 Euro) hingegen bezog sich auf den von der Klägerin zu zahlenden Eigenanteil, der nach erfolgreichem Abschluss der Behandlung von der Krankenkasse zurückgezahlt würde.

In einem ergänzenden Heil- und Kostenplan vom 06.10.2009 führte die Kieferorthopädin ergänzende Behandlungsmaßnahmen auf, die sie für notwendig erachte, die von der gesetzlichen Krankenkasse aber nicht erbracht werden dürften. Die Kosten für die aufgeführten Maßnahmen (Mehrkosten für vollprogrammiertes Band-Bracket-System, ungeteilte thermoelastische Bögen, Mundhygienekontrollen, Entfernen harter und weicher Zahnbeläge, zusätzliche Abformung beider Kiefer, Befunderhebung des stomatogyn. Systems, Registrierung der Zentrallage, Modellmontage Übertragungsbogen, Montage des Gegenkiefermodell) beliefen sich insgesamt auf 871,11 Euro, die zusätzlichen Labor- und Materialkosten auf 57,00 Euro. Mit Schreiben vom 30.11.2009 bestätigte sie der Klägerin, der Bescheid der Krankenkasse sei korrekt und nicht zu beanstanden. Die im ergänzenden Behandlungsplan aufgeführten Behandlungsmaßnahmen seien nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse enthalten und könnten somit nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse erbracht werden. Die aufgeführten Behandlungsmaßnahmen seien aber medizinisch notwendig im Rahmen der geplanten umfassenden kieferorthopädischen Behandlung.

Mit Bescheid vom 15.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2010 lehnte der Beklagte die Übernahme der geltend gemachten Kosten als Beihilfe und als Darlehen ab. Die Kosten für zahnärztliche Behandlungen seien nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ausschließlich von der gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen. Die Regelung durch das SGB V sei abschließend. Deshalb sehe der Leistungskatalog des SGB II weitere Gewährungen im Krankheitsfall bzw. zur gesundheitlichen Prophylaxe generell nicht vor. Lediglich in der Regelleistung seien 12 vom Hundert für Körper-/Gesundheitspflege und Hygiene enthalten. Auch die Voraussetzungen für eine darlehensweise Gewährung lägen nicht vor.

Am 03.02.2012 hat die Klägerin einen Antrag auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht gestellt mit dem Ziel, den Beklagten im Eilverfahren zu verpflichten, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung in Höhe von insgesamt 1525,35 Euro zu übernehmen und zwar als Beihilfe zahlbar in monatlichen Beträgen von 31,78 Euro. Den Antrag hat das Sozialgericht (Az. S 15 AS 445/10 ER) abgelehnt, die eingelegte Beschwerde hat das Landessozialgericht mit Beschluss vom 28.04.2010 (L 19 AS 557/10 B ER) zurückgewiesen und ausgeführt, dass grundsätzlich für eine Bezieherin von Leistungen nach dem SGB II, die gesetzlich krankenversichert sei, die notwendige medizinische Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung sichergestellt werde und den Grundsicherungsträger grundsätzlich keine Einstandspflicht für weitergehende medizinische Maßnahmen treffe. Ein Anspruch auf die Übernahme der Kosten einer aufwändigeren kieferorthopädischen Behandlung, die das nach § 12 SGB V notwendige Maß überschreite, lasse sich auch nicht aus der durch die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 09.02.2010 geschaffenen Härtefallregelung ableiten (BVerfG Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09-). Denn die Kosten einer das notwendige Maß nach § 12 SGB V überschreitenden kieferorthopädischen Behandlung stellten keinen besonderen Bedarf dar, der zwingend zu decken sei. Soweit die Antragstellerin darauf verweise, dass die Bundesagentur für Arbeit in ihrer Geschäftsanweisung vom 17.02.2010 unter bestimmten Umständen einen Sonderbedarf im Sinne der Härtefallregelung bei nicht verschreibungspflichtigen Arznei- und Heilmitteln annehme, lasse sich daraus für die vorliegende Fallkonstellation kein Anspruch ableiten.

Die Klägerin hat am 15.02.2010 Klage erhoben und zunächst die Übernahme von Kosten in Höhe von insgesamt 1525,35 Euro, zahlbar in monatlichen Raten von 31,78 Euro, beantragt. Mit Schreiben vom 17.09.2010 hat sie die Übernahme dieser Kosten hilfsweise als Darlehen beantragt. Die medizinische Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung sei, auch soweit sie über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehe, nachgewiesen worden. Wenn diese Kosten nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen würden, sei der Beklagte nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - bzw. der dieser Entscheidung nachfolgenden Regelung in § 21 Abs. 6 SGB II verpflichtet, die Kosten zu übernehmen.

Mit Gerichtsbescheid vom 07.02.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei, soweit die Gewährung einer Beihilfe in Höhe von 1525,35 Euro begehrt werde, unbegründet. Der Beklagte habe zu Recht die Gewährung einer Beihilfe mangels eines entsprechenden Anspruchs der Klägerin abgelehnt. Zur Begründung hat es sich auf die Entscheidungsgründe des LSG NRW im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bezogen. Die Klage sei, soweit hilfsweise die Gewährung eines Darlehens beantragt worden sei, unzulässig, da insoweit die Klagefrist nicht eingehalten worden sei. Der Schriftsatz, mit dem die Klägerin erstmals auch die Gewährung eines Darlehens beantragt habe, sei erst am 17.09.2010 bei dem Beklagten eingegangen. Die Klagefrist sei aber schon am 15.03.2010 abgelaufen.

Der Gerichtsbescheid, der die Rechtsmittelbelehrung enthielt, die Entscheidung könne mit der Berufung angefochten werden, ist dem Vater der Klägerin als deren gesetzlichem Vertreter am 09.02.2011 zugestellt worden. Am 03.03.2011 (Donnerstag) hat dieser unter Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid beim Sozialgericht Köln beantragt, gemäß § 105 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Auf den Hinweis des Sozialgerichts vom 08.03.2011 (Dienstag), der laut "Abvermerk" in der Akte am selben Tag abgesandt wurde, dass ein Antrag auf mündliche Verhandlung nicht in Betracht komme und auf die Anfrage, ob Berufung eingelegt werden solle, hat die Klägerin am 10.03.2011 mitgeteilt, es werde gebeten, den Antrag auf mündliche Verhandlung als Berufung zu betrachten. Sie sei zunächst davon ausgegangen, dass gegen den Gerichtsbescheid wegen der Höhe des Streitwertes eine Berufung nicht gegeben sei.

Mit Urteil vom 16.06.2011 hat der Senat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Die Berufung sei verfristet. Zulässiges Rechtsmittel sei hier gem. §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG die Berufung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro übersteige. Der am 03.03.2011 beim Sozialgericht Köln gestellte "Antrag auf mündliche Verhandlung gem. § 105 Abs. 2 SGG" könne entgegen der Ansicht der Klägerin nicht als (fristgemäße) Berufung ausgelegt bzw. in eine solche umgedeutet werden. Die Klägerin habe in ihrem Schreiben vom 03.03.2011 bewusst und eindeutig einen - gegen Gerichtsbescheide in bestimmten Fällen grundsätzlich gemäß § 105 Abs. 2 S. 2 SGG - statthaften "Antrag auf mündliche Verhandlung" gestellt. Umstände, aus denen sich ergebe, dass entgegen dem ausdrücklichen Begehren Berufung eingelegt werden sollte, seien nicht erkennbar. Der Antrag auf mündliche Verhandlung könne auch nicht in eine Berufung umgedeutet werden. Die Erklärung ziele gerade auf eine Überprüfung in derselben Instanz. Das Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 03.03.2011, der in vielen weiteren Verfahren, die er für sich und seine Familienangehörigen vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht führt, seine Rechtskenntnisse zum Ausdruck gebracht habe, sei seinem Wortlaut und Inhalt nach eindeutig. Dies gelte umso mehr, als die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Gerichtsbescheides ausdrücklich und richtig auf das - einzig zulässige - Rechtsmittel einer Berufung hingewiesen habe. Ihr Hinweis darauf, dass sie zunächst von der Unzulässigkeit der Berufung ausgegangen sei, rechtfertigte eine Wiedereinsetzung nicht. Bei einem Irrtum über das richtige Rechtsmittel sei nur dann kein Verschulden iSv § 67 SGG anzunehmen, wenn der Irrtum auch bei sorgfältiger Prüfung nicht hätte vermieden werden können. Aufgrund der eindeutigen Rechtsmittelbelehrung des sozialgerichtlichen Urteils sei - selbst für einen völlig rechtsunkundigen Kläger und ohne sorgfältige Prüfung - ein Irrtum über das zulässige Rechtsmittel leicht vermeidbar gewesen.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 20.12.2011 das Urteil des Senats aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Das LSG habe zu Unrecht ein Prozess- anstatt ein Sachurteil erlassen. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG seien gegeben, die Berufungsfrist sei gewahrt. Ohne Verschulden handle ein Prozessbeteiligter auch dann, wenn ein Verschulden zwar vorgelegen habe, dieses aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen sei bzw ihm nicht zugerechnet werden könne, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre (BSG 30.01.2002 - B 5 RJ 10/01 R, SozR 3-1500 § 67 Nr 21). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren dürfe ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB BVerfGE 60, 1; 75, 183) und sei zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123; BVerfGE 79, 372). Dementsprechend sei Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruhe, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht lägen (vgl BVerfGE 93, 99; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts bestehe immer dann, wenn es darum gehe, eine Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter könne daher erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen würden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden. So liege der Fall hier. Der Antrag der Klägerin auf mündliche Verhandlung sei am Donnerstag, den 03.03.2011 beim SG eingegangen. Die Berufungsfrist sei am Mittwoch, dem 09.03.2011 abgelaufen. Bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang habe die Bearbeitung des Schriftsatzes nach dessen Eingang auf jeden Fall mehr als einen Tag vor dem Ablauf der Berufungsfrist am 09.03.2011 erfolgen können. Erfolgt sei die Bearbeitung - mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit der Berufung - jedoch erst am 08.03.2011, also fünf Tage nach dem Eingang des Antrags. Selbst wenn das Aufklärungsschreiben bei der Klägerin erst am Dienstag, dem 08.03.2011 eingegangen wäre, wäre noch hinreichend Zeit gewesen, die Berufung fristgerecht einzulegen. Es sei auch zu erwarten, dass die Klägerin die versäumte Handlung innerhalb der Berufungsfrist nachgeholt hätte, denn sie habe am Tag des Erhalts des Schreibens des SG, am 10.03.2011 - einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist - Berufung eingelegt.

Vor dem erkennenden Gericht stützt die Klägerin ihren Anspruch für die Zeit ab dem 09.02.2010 auf die vom BVerfG in der Entscheidung vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - sog Härtefallregelung, für die Zeit ab dem 03.06.2010 auf § 21 Abs. 6 SGB II. Der Mehrbedarf sei hier unabweisbar, da er insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt sei und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweiche. Zuwendungen Dritter, konkret Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse, seien nicht für den gesamten Bedarf von 3308,41 Euro, sondern zunächst nur für einen Teil von 1783,06 Euro vorhanden. Zwar bestehe nach §§ 29 Abs. 1, 92 Abs. 1 SGB V für die Klägerin im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ein Anspruch auf die notwendige, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kieferorthopädische Versorgung. Der Anspruch auf notwendige Versorgung werde aber nicht in allen Fällen durch den Leistungsanspruch aus der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt. Soweit im Einzelfall Leistungen medizinisch notwendig seien, die nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten seien, seien diese grundsätzlich vom Versicherten selbst zu tragen. Es sei fraglich, wie Bezieher von Leistungen nach dem SGB II diesen medizinischen Mehraufwand mangels eigenen Einkommens finanzieren sollten. Ein Mehrbedarf von 1525,35 Euro weiche erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf ab.

In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht hat die Klägerin ihr Klagebegehren beschränkt: Die auf die Übernahme des Eigenanteils gerichtete Klage hat sie zurückgenommen. Weiterverfolgt werde nur noch der Anspruch auf Übernahme eines Betrags von 928,11 Euro als Zuschuss. Hierbei handele es sich um die von der Krankenkasse nicht abgedeckten Behandlungen nach dem ergänzenden Heil- und Kostenplan vom 06.10.2009. Sie hat alle im Rahmen der Behandlung erstellten Rechnungen und den KFO-Behandlungsplan vorgelegt und erklärt, die Rechnungen seien alle beglichen worden, indem der Vater der Klägerin sich das entsprechende Geld von Bekannten geliehen habe.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 07.02.2011 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2010 zu verurteilen, ihr 928,11 Euro als Zuschuss für die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich zur Begründung auf seine Ausführungen im Klage- und Berufungsverfahren.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Streit- und der die Klägerin betreffende Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogene Verfahrensakte L19 AS 557/10 B ER. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig.

Der erkennende Senat legt die rechtliche Beurteilung des Bundessozialgerichts zugrunde, wonach das erkennende Gericht in seinem Urteil vom 16.11.2011 zu Unrecht ein Prozess- anstatt ein Sachurteil erlassen hat. Mit dieser Maßgabe sind Bedenken gegen die Statthaftigkeit der Berufung wegen Nichterreichens des Berufungsstreitwerts (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), die sich darauf gründen, dass die geltend gemachten Leistungen möglicherweise als Mehrbedarf bestimmten Leistungszeiträumen zuzuordnen sind, obsolet. Dies gilt auch mit Blick auf die Wahrung der Berufungsfrist bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG), so wie sie im Beschluss vom 20.12.2011 - B 4 AS 161/11 B - hergeleitet wird. Zur Behandlung künftiger Verfahren sieht das Gericht aber Veranlassung, vorsorglich auf Folgendes hinzuweisen: Auch der Senat ist der Auffassung, dass unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren ein Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten darf (vgl zB BVerfGE 60, 1; 75, 183) und zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet ist (BVerfGE 78, 123; BVerfGE 79, 372). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter kann daher erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (s Beschluss vom 20.12.2011 - B 4 AS 161/11 B - m.w.N.).

Ob allerdings ein offenkundiges Versehen - und eine dem Rechnung tragende prozessuale Fürsorgepflicht - immer schon dann angenommen werden kann, wenn ein gerichtserfahrener und rechtskundiger Bevollmächtigter bewusst von der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung abweicht und ein anderes, unstatthaftes Rechtsmittel wählt, wird nur in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu beurteilen sein. Gleichermaßen erscheint die Einschätzung der Bearbeitungszeit "bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang" nicht verallgemeinerungsfähig. Festzuhalten bleibt, dass der Antrag der Klägerin auf mündliche Verhandlung dem zuständigen Kammervorsitzenden am nächsten Werktag vorgelegt, einen Werktag später von ihm bearbeitet und die richterliche Verfügung noch am selben Tage umgesetzt wurde. Wenn der Vertreter der Klägerin vier Werktage nach Eingang des Antrags den richterlichen Hinweis in Händen hält, bildet sich hier ein Geschäftsgang ab, bei dem nur schwerlich solche Lücken erkennbar sind, dass man die Bearbeitung des Schriftsatzes regelmäßig "auf jeden Fall mehr als einen Tag" vorher erwarten kann.

Das beklagte Jobcenter ist nach § 70 Nr. 1 SGG beteiligtenfähig (BSG Urteil vom 18.01.2011 - B 4 AS 108/10 R - juris Rn 9). Nach § 76 Abs. 3 Satz 1 SGB II ist die gemeinsame Einrichtung als Rechtsnachfolger an die Stelle der bisherigen beklagten Arbeitsgemeinschaft getreten.

Gegenstand der Überprüfung im Berufungsverfahren ist der angefochtene Bescheid vom 13.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2010, gegen den sich die vom Kläger zulässigerweise erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) richtet, nur noch insoweit, als die Übernahme der Kosten aus dem ergänzenden Heil- und Kostenplan vom 06.10.2009 als Zuschuss im Streite steht.

Die Berufung ist unbegründet. Bezogen auf diese Kosten in Höhe von 928,11 Euro für die gesamte Behandlung hat das Sozialgericht die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 13.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01 ...2010 ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Sie hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme dieser Kosten.

Für die Übernahme der Kosten von ergänzenden Behandlungsmaßnahmen über die von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckte kieferorthopädische Behandlung hinaus fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Die Klägerin kann den erhobenen Anspruch insbesondere nicht stützen auf die durch die Anordnung des BVerfG im Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - geschaffene Härtefallregelung, die unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1, 20 GG abgeleitet wird und inhaltsgleich übernommen wurde in § 21 Abs. 6 SGB II, der durch das StabRuaÄndG vom 27.05.2010 mit Wirkung vom 03.06.2010 eingefügt wurde. Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht.

Bei den aufzubringenden Kosten der aufwändigeren Maßnahmen im Rahmen der mehrjährigen kieferorthopädischen Behandlung handelt es sich schon nicht um einen laufenden Bedarf. Sie sind zwar wiederkehrend, da sie nach Maßgabe der Behandlung über deren gesamte Zeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlicher Höhe anfallen. Für den Charakter eines laufenden Bedarfs hingegen ist darauf abzustellen, dass dieser regelmäßig und in kürzeren Abständen ent-/besteht (vgl zu den laufenden und wiederkehrenden Leistungen nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG 10. Aufl § 144 Rnr 21b, 22 mwN).

Der Bedarf ist auch kein besonderer im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II. Er erwächst nicht aus einer atypischen Lebenssituation. Mit dem Bezug auf einen Bedarf im Einzelfall wird ein atypischer Bedarf erfasst, der nur bei einer mehr oder weniger kleinen Gruppe von Leistungsberechtigten auftritt (vgl. Behrend in juris PraxisKomm SGB II 3. Aufl 2012 § 21 RdNr 78; Herold-Tews in Löns/Herold-Tews SGB II 3. Aufl. 2011 § 21 RdNr 39; Münder in LPK-SGB II 4. Aufl 2011 § 21 RdNr 36). Schon im Jahr 2001 war aber festzustellen, dass eine kieferorthopädische Behandlung im Durchschnitt bei einem Anteil von mindestens ca 50 Prozent der Kinder in Deutschland durchgeführt wurde (Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) zum Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen "Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Band III, Über-, Unter- und Fehlversorgung). Diese oder eine ähnliche durch die Zahl der behandelten Kinder und Jugendlichen gekennzeichnete Bedarfslage ist eher als typisch, jedenfalls aber nicht als atypisch einzuordnen.

Letztlich ist der Bedarf auch nicht unabweisbar. Die notwendige medizinische Versorgung wird für die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II, die wie die Klägerin gesetzlich krankenversichert sind, durch die gesetzliche Krankenversicherung sichergestellt (vgl. BSG Urteil vom 19.09.2008 - B 14/7b As 10/07 R - juris RdNr 26). Dies gilt auch mit Blick auf die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten. Die notwendige kieferorthopädische Behandlung von Versicherten vor Vollendung des 18. Lebensjahres wird von der gesetzlichen Krankenversicherung gem. §§ 28 Abs. 2 Satz 6, 29 Abs. 1 SGB V in bestimmten Indikationsgruppen zu 100 Prozent übernommen. Der zunächst geschuldete Eigenanteil des Versicherten wird nach erfolgreicher Behandlung erstattet. Bei der Klägerin liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 iVm mit den nach § 29 Abs. 4 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss bestimmten Indikationsgruppen vor. Die Kostenzusage durch die zuständige Krankenkasse wurde erteilt.

Vor diesem Hintergrund ist die darüber hinausgehende aufwändigere Behandlung der Klägerin nicht etwa deshalb unabweisbar, weil andernfalls die kieferorthopädische Behandlung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht durchgeführt werden könnte oder deren Erfolg nicht sichergestellt wäre. Bei den zusätzlichen Maßnahmen handelt es sich erkennbar sämtlich um Leistungen, die (nur) die Qualität der verwendeten Materialien oder des verwendeten Instrumentariums betreffen bzw als zusätzliche Dienstleistungen geeignet erscheinen, die Qualität der Maßnahme zu erhöhen. Daraus folgt aber, dass ohne diese Maßnahmen die kieferorthopädische Behandlung ebenfalls hätte erfolgreich durchgeführt werden können.

Ob damit die von der Kieferorthopädin im ergänzenden Heil- und Kostenplan aufgeführten und später erbrachten Leistungen entgegen ihrer Auffassung notwendig im Sinne des §§ 12, 29 SGB V waren oder nicht, ist hier nicht zu entscheiden. Der Träger der Grundsicherung kann ohne weitere Ermittlungen davon ausgehen, dass die notwendige kieferorthopädische Versorgung der Klägerin durch die gesetzliche Krankenversicherung erfolgt und grundrechtsrelevante Beeinträchtigungen durch eine nicht ausreichende Krankenbehandlung ausscheiden. Gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen nach dem SGB V können nur innerhalb dieses Leistungssystems daraufhin überprüft werden, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind (vgl. dazu BVerfGE 115, 25 ff). Die Frage, ob die Kosten für eine aufwändigere kieferorthopädische Behandlung übernommen werden, muss der Hilfebedürftige gegenüber seiner Krankenkasse klären. Die Klägerin hat dies getan und die Leistungszusage erhalten. Hinsichtlich der therapeutischen Notwendigkeit einer bestimmten Behandlung und den Anforderungen an ihren Nachweis gelten für Leistungsempfänger nach dem SGB II keine anderen Voraussetzungen als für die übrigen Versicherten nach dem SGB V, die Versicherungsschutz insbesondere aufgrund abhängiger Beschäftigung erlangen (vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen BSG Urteil vom 26.05.2011 - B 14 AS 146/10 R - juris RdNr 24). Die Klägerin hat hier zusätzlich die Leistungszusage von der Behandlerin inhaltlich überprüfen lassen. Diese hat aus ihrer Sicht die Richtigkeit der Entscheidung der Krankenkasse bestätigt. Anhaltspunkte für eine nur unzureichende Erbringung von Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Behandlungsfall bestehen nicht.

Entgegen der Auffassung der Klägerin kann sie ihren Anspruch auch nicht auf die Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom 17.02.2010 stützen, die unter bestimmten Umständen einen Sonderbedarf im Sinne der Härtefallregelung bei nicht verschreibungspflichtigen Arznei- und Heilmitteln annimmt. Anders als Arznei- und Heilmittel, die auch bei medizinischer Notwendigkeit unter bestimmten Umständen vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind (§ 34 SGB V), sind bei der kieferorthopädischen Behandlung von Minderjährigen alle medizinisch notwendigen Maßnahmen uneingeschränkt Gegenstand der Versorgung.

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch lässt sich auch nicht aus § 73 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ableiten. Hier fehlt es, wie bereits ausgeführt, an einer besonderen, atypischen Lebenslage. Das sozialrechtlich zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum wird mit Blick auf die notwendige Versorgung dadurch abgedeckt, dass die Klägerin der gesetzlichen Krankenversicherung angehört (vgl. § 5 Abs. 2 a SGB V) und die Beiträge vom Träger der Grundsicherung gezahlt werden (§ 252 Abs. 1 Satz 2 SGB V; vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen BSG Urteil vom 26.05.2011 - B 14 AS 146/10 R - juris RdNr 21 ff).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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