L 25 AS 2743/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 204 AS 23713/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 2743/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. September 2012 aufgehoben, soweit der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, den Antragstellerinnen für die Zeit vom 10. September 2012 bis zum 20. September 2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochene Verpflichtung dahin geht, den Antragstellerinnen für die Zeit vom 21. September 2012 bis zum 28. Februar 2013, längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über ihren Widerspruch gegen dessen Bescheid vom 20. August 2012, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, und zwar der Antragstellerin zu 1) in Höhe von 479,99 Euro monatlich und der Antragstellerin zu 2) in Höhe von 148,65 Euro monatlich. Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen deren außergerichtliche Kosten für beide Instanzen zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet, soweit das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 10. September 2012 bis zum 20. September 2012 verpflichtet hat. Denn insoweit haben die Antragstellerinnen einen Anordnungsgrund im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht. Auch im Lichte des in Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebots effektiven Rechtsschutzes ist es ihnen insoweit nämlich zuzumuten, die Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache (hier: dem Verfahren bis zur bestandskräftigen Entscheidung über ihren nach Lage der Akten am 31. Oktober 2012 beim Antragsgegner eingegangenen Widerspruch gegen dessen Ablehnungsbescheid vom 20. August 2012) abzuwarten. Denn die vorgenannte Zeit ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts bereits verstrichen gewesen und schwere und unwiederbringliche Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, haben die Antragstellerinnen insoweit nicht dargelegt; sie sind auch sonst nicht ersichtlich.

Im Übrigen ist die Beschwerde des Antragsgegners jedoch unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 21. September 2012 bis zum 28. Februar 2013 verpflichtet, wobei der Tenor des Beschlusses dahingehend klarzustellen war, dass sich die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung längstens auf die Zeit bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den nach Lage der Akten am 31. Oktober 2012 beim Antragsgegner eingegangenen Widerspruch der Antragstellerinnen gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. August 2012 erstreckt und sich die zuerkannten Leistungen auf 479,99 Euro monatlich für die Antragstellerin zu 1) und 148,65 Euro monatlich für die Antragstellerin zu 2) belaufen.

Hinsichtlich der den Antragstellerinnen zustehenden Leistungen erweist sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zunächst als zulässig, wobei es insbesondere nicht an einem streitigen Rechtsverhältnis im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bzw. dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Nach Lage der Akten ist der Bescheid vom 20. August 2012, mit dem der Antragsgegner u. a. die Gewährung der von den Antragstellerinnen beantragten Leistungen abgelehnt hat, zwar bestandskräftig geworden, weil der Bescheid den im Antragsverfahren noch unvertretenen Antragstellerinnen selbst bekannt zu geben war und die Antragstellerinnen hiergegen nicht innerhalb der spätestens am 7. September 2012 (Tag der Abfassung des Widerspruchsschreibens) in Lauf gesetzten und spätestens am Montag, dem 8. Oktober 2012, endenden Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheides, sondern erst am 31. Oktober 2012 Widerspruch eingelegt haben. Angesichts der in ihrem Fall vorliegenden Besonderheiten bedeutet dies jedoch nicht, dass sich die Antragstellerinnen hier nicht mit Erfolg auf ein der vorläufigen Regelung fähiges Recht berufen könnten. Denn es darf im vorstehenden Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Antragstellerinnen beim Antragsgegner ebenfalls am 31. Oktober 2012 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist gestellt haben, der gemäß § 84 Abs. 2 Satz 3 SGG in Verbindung mit § 67 SGG aller Voraussicht nach Erfolg haben wird (vgl. zur Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung bei einem Antrag nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch: Beschlüsse des Senats vom 12. Februar 2009 – L 25 AS 70/09 B ER –, 18. Mai 2009 – L 25 AS 770/09 B ER – und 1. November 2011 – L 25 AS 1646/11 B ER – alle juris). Denn der Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist ist nach Lage der Akten zunächst innerhalb der in § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG geregelten Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses beim Antragsgegner eingegangen, weil die Antragstellerinnen erst am 30. Oktober 2012 infolge der Übermittlung der Beschwerdeschrift des Antragsgegners an ihren Verfahrensbevollmächtigten von dem Fristversäumnis Kenntnis erlangt haben. Überdies haben die Antragstellerinnen zur Begründung des Antrages Tatsachen vorgetragen und in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht, die allein den Schluss rechtfertigen, dass sie ohne Verschulden verhindert gewesen sind, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Denn nach ihren Angaben, deren Richtigkeit ihr Verfahrensbevollmächtigter anwaltlich versichert hat, hat Letzterer das Widerspruchsschreiben vom 7. September 2012 nicht nur selbst gefertigt, sondern auch selbst ausreichend frankiert am Abend des 7. September 2012 in einen in der Nähe seiner Kanzlei befindlichen Briefkasten der Deutschen Post (AG) in der Estraße in B eingeworfen, der täglich geleert wird. Diesen Geschehensablauf unterstellt, an dessen Richtigkeit zu zweifeln nach Lage der Akten kein Anlass besteht, durften die Antragstellerinnen darauf vertrauen, dass das Widerspruchsschreiben den Antragsgegner innerhalb der normalen Postlaufzeiten und damit innerhalb der (bei Absendung des Bescheides vom 20. August 2012 noch am selben Tage) mindestens bis Montag, dem 24. September 2012, laufenden Widerspruchsfrist problemlos erreichen würde. Dies reicht für die Zulässigkeit ihres Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aus.

Dieser Antrag ist im tenorierten Umfang auch begründet. Denn insoweit haben die Antragstellerinnen sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2 bis 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)).

Unter Beachtung des sich aus Artikel 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes erweist sich die Sache hinsichtlich der zuerkannten Leistungen zunächst als eilbedürftig. Denn den Antragstellerinnen ist es insoweit nicht zuzumuten, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren (hier im Verfahren bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über ihren nach Lage der Akten am 31. Oktober 2012 beim Antragsgegner eingegangenen Widerspruch gegen dessen Ablehnungsbescheid vom 20. August 2012) abzuwarten, weil sie nach Lage der Akten lediglich über monatliches Einkommen in Höhe von insgesamt 484,00 Euro (300,00 Euro Elterngeld und 184,00 Euro Kindergeld) verfügen, das zur Deckung ihres laufenden Lebensunterhalts nicht ausreicht. Dass sie diesen Lebensunterhalt kurzfristig durch Hilfen oder Inanspruchnahme Dritter – wie z. B. den Vater der Antragstellerin zu 2) – decken könnten, ist nicht ersichtlich.

Darüber hinaus steht den Antragstellerinnen hinsichtlich der ihnen zustehenden Leistungen auch ein Anordnungsanspruch zu. Anders als das Sozialgericht, dessen Entscheidungsgründen der Senat ansonsten folgt und die er deshalb gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG nicht im Einzelnen wiederholen muss, lässt der Senat hier allerdings offen, ob sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1), die die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, als Mutter der Antragstellerin zu 2), die ausweislich ihres Reisepasses deutsche Staatsangehörige ist, aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet ergibt. Denn selbst wenn sie ihr Aufenthaltsrecht nicht aus der vorgenannten Vorschrift, sondern allein aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) herleiten und sich dann allein zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten sollte, könnte ihrem im Übrigen gegebenen Leistungsanspruch der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelte Leistungsausschluss hier nicht entgegengehalten werden. Denn der Senat hält es nach wie vor für problematisch, ob und unter welchen konkreten Voraussetzungen die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf einen Unionsbürger überhaupt Anwendung finden darf (vgl. grundlegend Beschluss vom 23. Mai 2012 – L 25 AS 837/12 B ER – juris), und entscheidet Fälle, in denen es für einen Unionsbürger um die Frage der Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geht, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren auf der Grundlage einer Folgenabwägung (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris), die angesichts der hier in Rede stehenden existenzsichernden Leistungen zu Gunsten der Antragstellerin zu 1) ausfallen muss.

Um den Antragstellerinnen, die bei sachdienlicher Auslegung ihres Begehrens keine Entscheidung nur dem Grunde nach beantragt haben, die Vollstreckung aus dem angefochtenen Beschluss zu ermöglichen, soweit er durch die Entscheidung des Senats bestätigt worden ist, war der Tenor dieses Beschlusses zunächst dahingehend klarzustellen, dass sich die den Antragstellerinnen für die Zeit vom 21. September 2012 bis zum 28. Februar 2013 zuerkannten Leistungen auf 479,99 Euro monatlich für die Antragstellerin zu 1) und 148,65 Euro monatlich für die Antragstellerin zu 2) belaufen. Die Höhe dieser Leistungen ergibt sich hierbei aus folgender Berechnung: Die Antragstellerin zu 1) hat einen monatlichen Bedarf in Höhe von 686,14 Euro (Regelbedarf: 374,00 Euro, Mehrbedarf für eine Alleinerziehende: 134,64 Euro sowie hälftige Kosten der Unterkunft und Heizung: 177,50 Euro), der monatliche Bedarf der Antragstellerin zu 2) beträgt 396,50 Euro (Regelbedarf: 219,00 Euro sowie hälftige Kosten der Unterkunft und Heizung: 177,50 Euro). Von dem monatlichen Bedarf der Antragstellerin zu 2) ist das Kindergeld in Höhe von 184,00 Euro monatlich abzusetzen, so dass für sie ein Hilfebedarf in Höhe von 212,50 Euro monatlich verbleibt. Unter Hinzurechnung des monatlichen Bedarfs der Antragstellerin zu 1) ergibt sich hieraus für beide Antragstellerinnen ein Gesamtbedarf von 898,64 Euro monatlich, von dem 76,35 v. H. auf die Antragstellerin zu 1) und 23,65 v. H. auf die Antragstellerin zu 2) entfallen. In diesem prozentualen Verhältnis ist das der Antragstellerin zu 1) bis einschließlich 27. Februar 2012 bewilligte und im Laufe eines jeden Lebensmonats der Antragstellerin zu 2) gezahlte Elterngeld in Höhe von 300,- Euro monatlich abzüglich 30,- Euro Versicherungspauschale monatlich gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung von dem jeweiligen (Hilfe)Bedarf abzuziehen, so dass sich für die Antragstellerin zu 1) ein monatlicher Anspruch in Höhe von (686,14 Euro – 206,15 Euro =) 479,99 Euro ergibt, während sich der monatliche Anspruch der Antragstellerin zu 2) auf (212,50 Euro – 63,85 Euro =) 148,65 Euro beläuft.

Darüber hinaus war der Tenor des angefochtenen Beschlusses, soweit er durch den Senat bestätigt worden ist, dahingehend klarzustellen, dass sich die damit ausgesprochene Verpflichtung längstens auf die Zeit bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den nach Lage der Akten am 31. Oktober 2012 beim Antragsgegner eingegangenen Widerspruch der Antragstellerinnen gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. August 2012 erstreckt. Denn eine Regelungsanordnung darf gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG nur in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, darf also nicht – was vom Sozialgericht bei sachdienlicher Auslegung seines Beschlusses auch nicht beabsichtigt gewesen ist – über das hinausgehen, was im Hauptsacheverfahren maximal erreicht werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in analoger Anwendung. Dabei waren unter Veranlassungsgesichtspunkten dem Antragsgegner die außergerichtlichen Verfahrenskosten der Antragstellerinnen auch insoweit aufzuerlegen, als der Antragsgegner mit seiner Beschwerde durchgedrungen ist.

Der Antrag der Antragstellerinnen, ihnen für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe zu bewilligen, war abzulehnen, weil sie mit Blick auf die vorstehende Kostenentscheidung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mehr bedürfen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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