S 12 AY 11/13 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
12
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AY 11/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag wird abgelehnt. Die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller sind nicht erstattungsfähig.

Gründe:

Der Antrag der Antragsteller,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen für die Zeit ab Eingang dieses Antrags bei Gericht bis zum Ende des Monats der gerichtlichen Entscheidung Leistungen nach § 3 AsylbLG nach Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 (1 BvL 10/10 bzw. 2/11) unter Anrechnung der bisher erbrachten gekürzten Leistungen zu gewähren,

hat keinen Erfolg.

Gem. § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachtei-le nötig erscheint. Danach setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung voraus, dass der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit einer vorläufigen Entscheidung des Gerichts über diesen Hilfeanspruch (Anordnungsgrund) dargelegt und glaubhaft gemacht werden.

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung besteht bzw. ob den Antragstellern ein Abwarten der Entscheidung in ihrem Haupt-sacheverfahren (S 12 AY 99/12) vor dem Hintergrund zumutbar ist, dass die Antragsgegnerin die Leistungen der Antragsteller lediglich um bis zu ca. 19 % gekürzt hat.

Jedenfalls steht den Antragstellern die begehrte Leistung nicht zu. Die Leistungskürzung der Antragsgegnerin ist nach bisherigen Sach- und Streitstand rechtmäßig.

Denn die Voraussetzungen des § 1 a Nr. 1 AsylbLG liegen im Falle der Antragsteller vor. Nach dieser Regelung erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 (geduldete und vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller) sowie ihre Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu langen, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Die Antragsteller gehören dem genannten Personenkreis an, weil sie lediglich über Duldungen verfügen. Sie sind ferner nach eigenem Vorbringen im Verwaltungsverfahren ausschließlich deshalb in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, weil sie hier Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen wollten. Der Einreiseentschluss war nach Aktenlage damit eindeutig von wirtschaftlichen Interessen geprägt. Die Antragsteller haben in diesem Verfahren die deshalb nach Aktenlage berechtigte Annahme der Antragsgegnerin, prägend für den Einreiseentschluss der Antragsteller sei gewesen, dass diese hier staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen wollten, auch nicht angegriffen.

Das Gericht hält es trotz der im Antrag zitierten Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts grundsätzlich für rechtlich zulässig, weiterhin Leistungskürzungen nach § 1 a AsylbLG durchzuführen. Es teilt die Auffassung des Sozialgerichts Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012, S 21 AY 3362/12 ER (der mittlerweile durch Beschluss des LSG Thüringen vom 17.01.2013, L 8 AY 1801/12 B ER aufgehoben wurde), des Sozialgerichts Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012, S 17 AY 81/12 ER, des Sozialgerichts Lüneburg, 13.12.2012, S 26 AY 26/112 ER, und des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.02.2013, L 15 AY 2/13 B ER nicht.

Das Bundesverfassungsgericht äußert sich in seiner Entscheidung nicht zur Regelung des § 1 a AsylbLG. Insbesondere macht es in seiner Entscheidung nicht deutlich, dass Leistungskürzungen nach § 1 a AsylbLG in Ausführung seiner Entschei-dung nicht mehr rechtlich zulässig wären.

Zuzugestehen ist aber, dass das Bundesverfassungsgerichts in Randziffer 121 sei-nes Urteils ausführt: "Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Ausländer und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen." Diese Ausführungen sind ebenso wie die in dem o.g. Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in Randziffern 99, 100, 101, 119, 120, in denen sich das Bundesverfassungsgericht zur Nichtzulässigkeit der Absenkung der Leistungen we-gen eines Kurzaufenthaltes unterhalb insbesondere des soziokulturellen Existenzminimums äußert, vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit den Leistungen nach § 3 AsylbLG und der Frage beschäftigt hat, ob diese evident unzureichend sind und daher Art. 1 und Art. 20 GG verletzt sind. Es ging dem Bundesverfassungsgericht augenscheinlich darum deutlich zu machen, dass die Gewährung evident unzureichender Leistungen an Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG nicht aus den Gründen möglich ist, aus denen der Gesetzgeber 1993 das AsylbLG geschaffen hat. Aus diesen Ausführungen lässt sich entgegen der Meinung der oben zitierten Entscheidung nicht schließen, dass das Bundesverfassungsgericht Leistungskürzungen im Rahmen des AsylbLG für generell unzulässig hält. Den Entscheidungsgründen lässt sich vielmehr nur entnehmen, dass Leistungskürzungen "aus migrationspolitischen Erwägungen" nicht unterhalb des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums erfolgen dürfen.

Die Regelung des § 1 a Nr. 1 AsylbLG ist eine migrationspolitisch bedingte Regelung. Denn sie dient dem Ziel, die Einwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen durch die Gewährung lediglich der unabweisbar gebotenen Leistungen einzudämmen bzw. den Anreiz einer Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen zu mindern, indem sie die Einreise aus wirtschaftlichen Gründen sanktioniert. Hieraus folgt indessen nicht, dass diese Regelung nunmehr nicht mehr angewendet werden kann. Die Regelung ist gesetzlich vorgesehen und wurde nicht für verfassungswidrig erklärt. Sind ihre Tat-bestandsvoraussetzungen erfüllt, hat der Hilfesuchende nur noch den gesetzlich vorgesehen Anspruch auf die "unabweisbar gebotene Leistung".

Das Bundesverfassungsgericht äußert sich in seiner Entscheidung nicht dazu, welche Leistung im Sinne des § 1 a AsylbLG unabweisbar geboten ist. Allerdings ist unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, dass – weil § 1 a Nr. 1 AsylbLG migrationspolitisch bedingt ist - die Leistungskürzung nicht unterhalb des verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums erfolgen darf. Die Leistungen müssen also so hoch sein, dass das von der Verfassung selbst geschützte physische und soziokulturelle Existenzminimum mit Hilfe dieser Leistungen gesichert werden kann. In diesem Zusammenhang gehen die oben zitierten Entscheidungen offenbar davon aus, dass sich das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus der in dieser Entscheidung festgelegten Leistungshöhe ergibt. Dies ist allerdings nicht der Fall. Denn das Bundesverfassungsgericht hat die Leistungen nach § 3 AsylbLG mit Wirkung zum 01.08.2012 bzw. zum 01.01.2011 für noch nicht bestandskräftig entschiedene Zeiträume nicht in Höhe des durch die Verfassung selbst geschützten Existenzminimums festgesetzt. Vielmehr führt das Bundesverfassungs-gericht in diesem Zusammenhang unter Randziffer 126 aus: "Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Ob damit auch die möglicherweise abweichenden Bedarfe derjenigen reali-tätsgerecht abgebildet werden, auf die das Asylbewerberleistungsgesetz Anwendung findet, ist nicht gesichert. Ebenso wenig kann eine Aussage darüber erfolgen, ob auf dieser Grundlage ermittelte Leistungen an Berechtigte in anderen Fürsorgesystemen einer verfassungsrechtlichen Kontrolle Stand halten. Da jedoch derzeit keine tauglichen Daten zur Verfügung stehen, bleibt dem Senat nur die Annahme, dass jeden-falls die wesentlichen Grundbedarfe durch Leistungen in einer Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz orientierten Höhe vorübergehend gedeckt werden können." Das Bundesverfassungsgericht hat also die Höhe der vorläufig bis zur gesetzlichen Neuregelung zu gewährenden Leistungen nicht unmittelbar an der Verfassung selbst gemessen. Es hat vielmehr das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz als Maßstab für die Festsetzung der Höhe der Leistungen angewendet. Das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz setzt aber nicht das absolute Existenzminimum im Sinne der Ver-fassung fest. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit diesem Gesetz den ihm durch die Verfassung eingeräumten Gestaltungsspielraum für die Gewährung existenzsichernder Leistungen ausgeschöpft. Die Verfassung gebietet es dabei, soweit es um die Höhe der gesetzlich zu gewährenden Leistungen geht, lediglich, dass die Leistungen das zur Sicherung der physischen und soziokulturellen Existenz eines Menschen Notwendige abdecken. Dabei steht dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Dieser ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz Notwendige konkretisiert und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geht (vgl. o.g. Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts, Randziffer 93).

Die gesetzliche Konkretisierung des Existenzminimums bedeutet also nicht zwangsläufig, dass der Gesetzgeber das von der Verfassung her gebotene Existenzminimum als "Mindestleistung" festsetzt. Vielmehr kann der Gesetzgeber in Ausführung des Sozialstaatsprinzips auch Leistungen oberhalb des verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimums festsetzen, etwa weil anders ein politischer Konsens über die Höhe der Sozialhilfeleistungen im weitesten Sinne nicht herbeigeführt werden kann.

Ausgehend hiervon wäre eine Kürzung der Leistungen nach dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz in Fällen wie diesem nur dann nicht möglich, wenn sich feststellen ließe, dass die verbleibenden Leistungen "evident unzureichend" in dem Sinne sind, dass mit diesen Leistungen die physische und/oder soziokulturelle Existenz nicht mehr gesichert werden kann. Dies ist nicht der Fall.

Denn die in dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz für die Abteilungen 3, 4 und 6 bis 11 festgelegten Regelbedarfsbeträge enthalten einzelne Bedarfspositionen, deren Nicht- bzw. nur teilweise Deckung keinesfalls gegen die Verfassung verstößt (vgl. zur Aufschlüsselung des Regelbedarfs: Einzelbeträge aus den Regelbedarfen des SGB II und SGB X sowie des Asylbewerberleistungsrechts ab 01.01.2013, ZfF 2013, Seite 1 ff.). So enthält die Abteilung 3 beispielsweise Leistungen für Damen- und Herren-bekleidung, obwohl der jeweilige Berechtigte nur einer dieser Bedarfsgruppen zugeordnet werden kann. Die Abteilung 6 enthält Leistungen für Instandsetzung und Re-paraturen, die bei den in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Leistungsberechtigten nicht anfallen. Gleiches gilt für die Abteilung 6. Denn diese Abteilung be-inhaltet Bedarfe, die typischerweise bei Grundleistungsberechtigten nach § 3 AsylblG, die Krankenhilfeleistungen nach § 4 AsylbLG beanspruchen können, nicht entstehen (z.B. die Praxisgebühr, die nach wie vor bedarfserhöhend berücksichtigt wird, und Kosten für Eigenanteile und Rezeptgebühren bei pharmazeutischen Er-zeugnissen). Ferner ist es fraglich, ob der Einzelne zur Führung einer menschenwürdigen soziokulturellen Existenz auf die in den Abteilungen 8, 9 und 12 aufgeführten Beträge in voller Höhe angewiesen ist. Das SG Meiningen, Beschluss vom 19.12.2012, S 18 AY 2434/12 ER, vertritt in diesem Zusammenhang sogar die Mei-nung, auf die Leistungen für Bedarfe der Abteilung 9 könne vorläufig vollständig ver-zichtet werden, ohne dass deshalb das verfassungsrechtlich geschützte soziokulturelle Existenzminimum gefährdet sei.

Jedenfalls geht das Gericht davon aus, dass die Kürzung der Leistungen um einen Betrag von ca. 20 % der jeweiligen Regelbedarfsstufe (= 70 EUR des Regelbedarfs eines nach dem AsylbLG leistungsberechtigten Haushaltsvorstandes) die Grenze des unabweisbar Gebotenen nicht unterschreitet. Eine solche Kürzung führt zur Überzeugung des Gerichts, nicht dazu, dass der Lebensunterhalt im Sinne einer menschenwürdigen physischen und soziokulturellen Existenz nicht mehr gedeckt werden kann. Deshalb sind die hier streitigen Kürzungen der Antragsgegnerin, die diesen Betrag sogar noch unterschreiten, nicht zu beanstanden.

Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist auch nicht vor dem Hintergrund als rechtlich bedenklich anzusehen, dass die Antragsteller bereits seit dem 01.01.2012 lediglich die zum Lebensunterhalt unabweisbar gebotenen Leistungen erhalten, d.h. für einen Zeitraum von mittlerweile 14 Monaten. Zwar hält das Gericht es grundsätzlich für bedenkenswert, ob die Gewährung des absoluten Existenzminimums auf Dauer mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu vereinbaren ist. Denn der Personenkreis des § 1 a Nr. 1 AsylbLG hat keine Möglichkeit, die Gewährung der regulären Leis-tungen herbeizuführen, es sei denn, ihm wird ein Aufenthaltstitel erteilt. Jedenfalls aber geht das Gericht bei vorläufiger Würdigung davon aus, dass die Gewährung der unabweisbar gebotenen Leistungen hier noch verhältnismäßig ist.

Im Übrigen hat das Gericht berücksichtigt, dass die Antragsteller keine individuellen Gründe dafür genannt haben, warum sie mit Hilfe der ihnen bewilligten Leistungen nicht in der Lage sind, ihr verfassungsrechtlich garantiertes Existenzminimum zu de-cken. Sie berufen sich vielmehr ausschließlich auf die oben zitierten Entscheidungen anderer Gerichte.
Rechtskraft
Aus
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