L 7 AS 830/13 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 18 AS 1042/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 830/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.04.2013 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet dem Antragsteller ab dem 01.04.2013 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.10.2013 vorläufig den monatlichen Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sperling, Düsseldorf bewilligt. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Gemäß § 86 b Absatz 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Dies ist dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere, unzumutbare und nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.10.1988, Az.: 2 B vR 174/88). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) vom jeweiligen Antragsteller glaubhaft gemacht werden, § 86 b SGG in Verbindung mit den §§ 920 Absatz 2, 294 ZPO. Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (Bundessozialgericht, Beschluss vom 28.08.2001, Az.: B 9 V 23/01 B). Die mit einer einstweiligen Anordnung auf die Durchführung einer Maßnahme in der Regel zugleich verbundene Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache erfordert darüber hinaus erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches und des Grundes, da der einstweilige Rechtsschutz trotz des berechtigten Interesses des Rechtssuchenden an unaufschiebbaren gerichtlichen Entscheidungen nicht zu einer Verlagerung in das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes führen darf. Erforderlich ist mithin das Vorliegen einer gegenwärtigen und dringenden Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht. Soweit es um die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz geht, müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen bzw. wenn dies nicht möglich ist, auf der Basis einer Folgenabwägung auf Grundlage der bei summarischen Prüfung bekannten Sachlage entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05, Breithaupt 2005, 830 ff. mit weiteren Nachweisen, Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 10. Auflage 2012 zu § 86 b Rdnr. 29 a).

Im Sinne einer solchen Folgenabwägung ist der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begründet und der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.04.2013 abzuändern.

Der im Jahr 1976 geborene Antragsteller ist italienischer Staatsangehöriger. Er ist seit dem 12.01.2012 in Deutschland polizeilich gemeldet und im Besitz einer Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU vom 27.09.2012. Der Antragsteller hat von April 2012 bis August 2012 im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung als Aushilfe in einer Eisdiele gearbeitet und sich im Anschluss hieran arbeitslos gemeldet. In der zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner geschlossenen Eingliederungsvereinbarung vom 23.10.2012 verpflichtete sich der Antragsteller zur Teilnahme an einem Integrations-Sprachkurs Deutsch beim Bundesamt für Migration, der noch bis zum 22.10.2013 andauert. Der Antragsteller lebte bis zum 16.10.2012 bei einem Bekannten und ist seither auf Wohnungssuche. Mit Bescheid vom 19.11.2012 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 04.02.2013 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfs von monatlich 382,- Euro bis zum 31.03.2013, wies jedoch darauf hin, dass die Leistungen längstens für einen Zeitraum von 6 Monaten erbracht werden könnten, und der Antragsteller im Anschluss hieran als arbeitssuchend im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anzusehen sei, da er als Unionsbürger weniger als ein Jahr in der Bundesrepublik erwerbstätig gewesen sei. Den am 21.02.2013 gestellten Fortzahlungsantrag des Antragstellers lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 27.02.2013 unter Hinweis auf den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab.

Das Sozialgericht Düsseldorf hat den am 28.03.2013 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 23.04.2013 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es bestünden zwar keine Bedenken hinsichtlich des Vorliegens der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers , dieser sei jedoch nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von der Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ausgeschlossen, da er sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte. Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II und dessen Europarechtskonformität (insbesondere im Hinblick auf Art. 4 VO 883/2004 (EG) und auf Art. 24 Richtlinie 2004/38/EG) sowie hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des von der Bundesrepublik am 19.12.2011 unter Berufung auf Art. 16 b des Europäischen Fürsorgeabkommens erklärten Vorbehaltes bestünden nicht. Daher sei auch nicht im Rahmen einer Folgenabwägung, sondern abschließend zu entscheiden, und der Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen zurückzuweisen ...

Mit der am 03.05.2013 eingelegten Beschwerde hat der Antragsteller schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23.04.2013 zu ändern und dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II, hilfsweise nach dem SGB XII, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen über den 31.03.2013 hinaus zu gewähren und dem Antragsteller für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss.

Die mit Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.04.2013 als zuständiger Träger für die Gewährung der Leistungen nach dem SGB XII beigeladene Stadt Neuss hat keinen Antrag gestellt. Sie hält im Hinblick auf die streitige Rechtsfrage eine Entscheidung im Wege der Folgenabwägung für geboten, wobei ein Verweis auf die Leistungen nach dem SGB XII zur Sicherung des Existenzminimums nicht in Betracht käme. Die Beschwerde ist im Sinne einer solchen Folgenabwägung begründet. Bedenken hinsichtlich der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers bestehen nicht. Er hat bis zum 31.03.2013 Leistungen in Höhe des Regelbedarfes von 382,- Euro monatlich von dem Antragsgegner erhalten. Leistungen für Unterkunft und Heizung macht der auf Wohnungssuche befindliche Antragsteller (derzeit) nicht geltend. Der Antragsgegner hat die Hilfebedürftigkeit auch nicht in Frage gestellt. Der Antragsteller hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik (§ 7 Absatz 1 Nr. 4 SGB II). Die Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes richtet sich nach § 30 SGB I. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat hiernach eine Person dort, wo sie sich nach Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie dort nicht nur vorübergehend verweilen möchte. Der gewöhnliche Aufenthalt setzt damit in objektiver Hinsicht den faktischen Aufenthalt an einem Ort und darüber hinaus in subjektiver Hinsicht den Willen voraus, sich an diesem Ort zukunftsoffen aufzuhalten. Erforderlich ist also eine Prognose, die anhand objektiv nachvollziehbarer Tatsachen und nach außen manifestierter subjektiver Umstände zu treffen ist (vgl. Schlegel in JurisPK, 2. Auflage, § 30 SGB I Rn. 34 ff). Jedenfalls für die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotene Prüfungsdichte kann dahingestellt bleiben, ob der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes "bereichsspezifisch" auszulegen ist (so jedoch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 18.04.2013, Az. L 19 AS 362/13 B ER). Denn bei summarischer Prüfung kann festgestellt werden, dass der Antragsteller sich tatsächlich in der Bundesrepublik aufhält, und auch keine Gründe ersichtlich oder vorgetragen worden sind, die für eine zeitnahe Beendigung seines Aufenthaltes in Deutschland sprechen würden. Der Antragsteller ist als "Alt-EU-Bürger" freizügigkeitsberechtigt (§§ 1 ff FreizügG/EU). Gründe, die zu einer Ausreiseverpflichtung des Antragstellers führen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Aufenthalt in Deutschland ist damit bei der gebotenen summarischen Prüfung zukunftsoffen im Sinne des § 30 SGB I.

Der Antragsteller ist auch erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II, da er gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als in der Bundesrepublik arbeitsuchender Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt ist. Er ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland länger als drei Monate währt. Bei der Frage, ob der Antragsteller gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil er sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhält, ob das europäische Fürsorgeabkommen (EFA) durch den von der Bundesrepublik erklärten Vorbehalt außer Kraft tritt, oder ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 hinter diese zurücktritt, handelt es sich um umstrittene Rechtsfragen, die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht einheitlich beantwortet sind (vgl. etwa entgegen der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.5.2012, L 19 AS 794/12 B ER unter Berufung auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 08.5.2012, S 91 AS 8804/12 ER; LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012, Az. L 19 AS 1393/12 B ER; Schreiber in NZS 2012, Seite 647 ff.; für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II: die von dem Antragsgegner zitierte Entscheidung des Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 11.6.2012 Az. S 205 AS 11266/12 ER und Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14.5.2012 - S 124 AS 7164/12 ER; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.6.2012, Az. L 20 AS 1322/12 B ER und vom 02.8.2012, Az. L 5 AS 1297/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012, Az. L 3 AS 1477/11). Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze folgt nicht zuletzt aus den Ausführungen des Sozialgerichts Düsseldorf in dem Beschluss vom 23.04.2013 unter ausführlicher Darstellung des Streitstandes. Aufgrund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung, unter Berücksichtigung des durch Art. 1 Grundgesetz geschützten Existenzminimums zu entscheiden ist (BVerfG -, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Die Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Ohne die beantragten Leistungen drohen existentielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht mehr abwenden kann, da der Lebensunterhalt des Antragstellers nicht gesichert ist. Demgegenüber hat der Antragsgegner allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Insbesondere ist der Antragsteller zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu verweisen (LSG NRW Beschluss vom 20.12.2012 Az. L 7 AS 2138/12 B ER).

Da der Antrag in der Hauptsache somit hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, war dem Antragsteller Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§§ 73a SGG, 114 ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).

Schumacher Redenbach-Grund Oh
Rechtskraft
Aus
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