S 197 AS 10018/13 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
197
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 197 AS 10018/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Kosten für eine Vereinsfahrt stellen als „Teilnahme an Freizeiten“ im Sinne des § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II einen vom Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II umfassten Bedarf dar, wodurch der Anwendungsbereich des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB II eröffnet ist.

Kann ein einmaliger Bedarf für die Teilnahme an einer Freizeit nicht aus den nach § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II anerkannten Mitteln finanziert werden, ist bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen die Gewährung eines Darlehens möglich. Dies entspricht auch der gesetzgeberischen Intention, durch die Einführung des § 28 SGB II die materielle Basis für Chancengerechtigkeit herzustellen und eine stärkere Integration bedürftiger Kinder und Jugendlicher in die Gemeinschaft zu erreichen.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ein Darlehen in Höhe von 364,00 EUR für die Vereinsfahrt vom 18. Mai 2013 bis 25. Mai 2013 durch Direktzahlung an Herrn B. V. zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Der Antragsgegner hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

Gründe:

I. Der im Jahr 2000 geborene Antragsteller bezieht in der Bedarfsgemeinschaft seiner Mutter beim Antragsgegner Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Der Vater des Antragsstellers ist verstorben. Die Bedarfsgemeinschaft der Mutter verfügt über kein Vermögen. Das Konto der Mutter weist per 29. März 2013 einen negativen Stand von 4.523,41 EUR auf. Der Antragsteller ist Schüler und spielt seit mehreren Jahren wöchentlich im Verein W. C./V. Fußball. Neben dem regulären Spielbetrieb bestreitet der Verein auch Freundschaftsspiele, die bei der jeweiligen anderen Mannschaft abgehalten werden. Vom 18. bis 25. Mai 2013 plant der Verein eine Freundschaftsreise nach Barcelona, an der auch der Antragsteller teilnehmen möchte. Die Kosten für die Vereinsfahrt, die sich aus Fahrtkosten, Unterkunft- und Verpflegungskosten und Nebenkosten (ohne Taschengeld) zusammensetzen, belaufen sich auf 364,00 EUR. Den Antrag der Mutter des Antragstellers auf Übernahme der Kosten lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 28. März 2013 ab, da nach § 28 Abs. 7 SGB II lediglich ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben von monatlich 10,00 EUR anerkannt werden könne und es sich bei der Fahrt um eine nicht anerkennensfähige Freizeit handele. Der hiergegen eingelegte Widerspruch vom 8. April 2013 ist noch nicht beschieden. Mit Schreiben vom 19. April 2013 beantragte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, den Betrag als Darlehen nach § 73 SGB XII zu gewähren. Der Antragsteller meint, ihm stehe ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Vereinsfahrt zu, da ihm die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben nicht verwehrt werden könne. Für andere Vereinsmitglieder habe das JobCenter Mitte die Kosten übernommen. Die Ausgrenzung des Antragstellers müsse durch die Gewährung der Kosten verhindert werden.

Der Antragsteller beantragt, den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, die Kosten für die beantragte mehrtägige Reise des Antragstellers im Zeitraum vom 18. Mai 2013 bis 25. Mai 2013 nach Barcelona/Spanien in Höhe von 364,00 EUR zu zahlen, hilfsweise darlehenshalber zu gewähren. Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen. Er ist der Ansicht, dem Antragsteller stehe kein Anspruch nach § 28 Abs. 7 SGB II zu, da ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft nur in Höhe von 10 EUR monatlich berücksichtigt werden könne. Auf die Gewährung eines Darlehens nach § 73 SGB XII habe der Antragsteller als Bezieher von Leistungen nach dem SGB II keinen Anspruch. Auch eine Darlehensgewährung nach § 24 SGB II komme nicht in Betracht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen. II. Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist er unbegründet. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür muss der Antragsteller nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache bei summarischer Prüfung überwiegende Erfolgsaussichten hat. Ein Anordnungsgrund ist dann anzunehmen, wenn dem Anragsteller ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht zuzumuten ist, weil ihm ohne Erlass der einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die auch nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch auf eine darlehensweise Gewährung der Kosten als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 24 Abs. 1 S. 1 SGB II. Soweit danach im Einzelfall ein vom Regelbedarf umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden kann, erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sach- oder als Geldleistung und gewährt dem Leistungsberechtigten ein entsprechendes Darlehen. Die Kosten für die Vereinsfahrt stellen einen vom Regelbedarf umfassten Bedarf dar. Nach § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II umfasst der Regelbedarf auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesen gehört nach S. 2 in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II fasst unter den Begriff der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ausdrücklich die "Teilnahme an Freizeiten". Zwar werden die Bedarfe für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben nach § 28 Abs. 1 S. 1 SGB II neben dem Regelbedarf nach Abs. 7 gesondert berücksichtigt. Daraus ergibt sich nach Ansicht des Gerichts jedoch nicht, dass die in § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II genannte "Teilhabe an Freizeiten" nicht (auch) vom Regelbedarf umfasst ist. Auch wenn der Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 1 SGB II dafür spricht, dass die in § 28 SGB II aufgezählten Bedarfe als Sonder- oder Mehrbedarfe neben den Regelbedarf treten und damit nur diejenigen Bedarfe vom Regelbedarf erfasst sind, die nicht unter § 28 SGB II fallen (vgl. Breitkreuz in: Beck’scher Onlinekommentar Sozialrecht, Stand: 1.03.2013, § 28 Rn. 1), ergibt sich unter Berücksichtigung der dem Regelbedarf von Kindern und Jugendlichen zugrunde liegenden Positionen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, dass die Teilnahme an Freizeiten nach wie vor vom Regelbedarf umfasst ist. Gleichzeitig mit der Einführung des § 28 SGB II hat der Gesetzgeber einige Positionen bei der Bemessung der Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche herausgenommen, da diese Positionen in den neuen Bedarfen des § 28 Abs. 7 SGB II aufgehen. So blieben bei der Bemessung des Regelbedarfs die Positionen "Außerschulische Unterrichte, Hobbykurse" in der Abteilung 09 und "Mitgliedsbeiträge an Organisationen ohne Erwerbszweck" in Abteilung 12 der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe unberücksichtigt (BT-Drs. 17/3404, S. 106). Die Position "Außerschulische Unterrichte, Hobbykurse" geht nunmehr in § 28 Abs. 7 Nr. 2 SGB II auf, der einen Bedarf für Unterricht in künstlerischen Fächern und vergleichbare angeleitete Aktivitäten der kulturellen Bildung anerkennt. Die Position "Mitgliedsbeiträge an Organisationen ohne Erwerbszweck" findet sich nunmehr in § 28 Abs. 7 Nr. 1 SGB II als Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit. Die Teilnahme an Freizeiten in § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II kann hingegen nicht unter die Positionen "Außerschulische Unterrichte, Hobbykurse" und "Mitgliedsbeiträge an Organisationen ohne Erwerbszweck" gefasst werden. Vielmehr fällt die Teilnahme an Freizeiten unter die Position "Sonstige Freizeit- und Kulturdienstleistungen" in Abteilung 09. Diese Position ist bei der Bemessung des Regelbedarfs von Kindern- und Jugendlichen auch weiterhin und trotz Einführung des § 28 SGB II berücksichtigt worden. Die Einordnung der "Teilnahme an Freizeiten" als (auch) vom Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II erfasst, eröffnet die Anwendung des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB II. Kann ein einmaliger Bedarf für die Teilnahme an einer Freizeit nicht aus den nach § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II anerkannten Mitteln finanziert werden, ist bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen die Gewährung eines Darlehens möglich. Dieses Ergebnis entspricht auch der gesetzgeberischen Intention, durch die Einführung des § 28 SGB II die materielle Basis für Chancengerechtigkeit herzustellen und eine stärkere Integration bedürftiger Kinder und Jugendlicher in die Gemeinschaft zu erreichen (BT-Drs. 17/3404, S. 104). Die Deckung des Bedarfs nach § 28 Abs. 7 SGB II dient unmittelbar dazu, den Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe im Rahmen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche stärker in bestehende Vereins- und Gemeinschaftsstrukturen zu integrieren und Kontakt mit Gleichaltrigen zu intensivieren (BT-Drs. 17/3404, S. 104). Sähe man die Teilnahme an Freizeiten im Sinne des § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II als nicht vom Regelbedarf umfasst an, so wäre die Gewährung eines Darlehens nach § 24 Abs. 1 SGB II – im Gegensatz zur Rechtslage vor Schaffung des § 28 SGB II – nicht möglich. Dies würde – entgegen der gesetzgeberischen Zielrichtung – zu einer Verschlechterung der rechtlichen Position von Kinder und Jugendlichen gegenüber der zuvor bestehenden Rechtslage führen. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB II sind erfüllt. Der Bedarf des Antragstellers ist unabweisbar. Für die Auslegung der Unabweisbarkeit des Bedarfs im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB II ist einerseits § 21 Abs. 6 S. 2 SGB II heranzuziehen (Behrend in juris-Praxiskommentar, SGB II, 3. Aufl. 2011, § 24 Rn. 36). Hiernach ist ein Mehrbedarf unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Weiterhin ist ein Bedarf unabweisbar im Sinne von § 24 Abs. 1 S. 1 SGB II, wenn er zur Sicherung des Existenzminimums unverzichtbar ist oder eine erhebliche Beeinträchtigung desselben vorliegt (Schmidt in Oestreicher, SGB II/SGB XII, 60. EL, § 21 Rn. 58 sowie § 23 Rn. 16a; ähnlich: Bender in Gagel, SGB II/SGB III, 42. EL 2011, § 24 Rn. 12 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Die Kosten für die Vereinsfahrt in Höhe von 364,00 EUR weichen erheblich vom durchschnittlichen Bedarf ab. Der Betrag übersteigt den Regelbedarf des Sozialgeldes des Antragstellers um über 100,00 EUR. Die Bedarfsgemeinschaft verfügt über kein Vermögen, wie durch den negativen Kontostand von über 4.500 EUR glaubhaft gemacht ist. Eine Ansparung dieses Betrages ist in der verbleibenden Zeit bis zur Vereinsfahrt nicht möglich. Auch ein Ansparen im Voraus war nicht möglich. Bei einer Ansparung von monatlich 10 % des Sozialgeldes in Höhe von 25,10 EUR bräuchte es mehr ein Jahr, um die Kosten anzusparen. Zu berücksichtigen ist auch, dass vom Antragsteller selbst als 13-jährigem Kind eine solche Ansparleistung weder verlangt noch realistisch erbracht werden kann. Das Gericht sieht im Falle der Versagung des Bedarfs eine erhebliche Beeinträchtigung des soziokulturellen Existenzminimums. § 28 SGB II regelt, für welche Bedarfe Leistungen für Bildung und Teilhabe erbracht werden, mit denen das menschenwürdige Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe sichergestellt wird (BT-Drs. 17/3404, S. 104). Die Möglichkeit, an Freizeiten teilzunehmen, zählt bei Kindern und Jugendlichen zum soziokulturellen Existenzminimum. Dem hat der Gesetzgeber in § 28 Abs. 7 Nr. 3 SGB II eine besondere Bedeutung beigemessen. Die Teilnahme an der Vereinsfahrt mit den anderen Vereinsmitgliedern ermöglicht dem Antragsteller die vom Gesetzgeber durch § 28 SGB II geförderte stärkere Integration in die bestehende Vereinsstruktur und intensiviert seinen Kontakt zu den anderen Vereinsmitgliedern. Eine Vereinsfahrt schafft unter den Teilnehmern gemeinsame und teambildende Erlebnisse, die insbesondere für Mannschaftssportler von besonderer Bedeutung sind. Eine Versagung der Teilnahme an der Vereinsfahrt würde dem Antragsteller diese Möglichkeiten nehmen und zur Verstärkung der Chancenungerechtigkeit gegenüber den Kindern führen, deren Eltern nicht auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Nach alldem hat der Antragsteller einen Anspruch auf Gewährung des Darlehens durch Direktzahlung an den im Antrag des Antragstellers vom 12. Februar 2013 genannten Boris Vengust. Ein Anspruch des Antragstellers auf die Gewährung eines Zuschusses in Höhe von 364,00 EUR, der sich allenfalls aus § 28 SGB II ergeben könnte, besteht jedoch nicht. Nach § 28 Abs. 7 SGB II wird ein Bedarf für die Teilnahme an Freizeiten lediglich in Höhe von 10,00 EUR monatlich anerkannt. § 28 Abs. 2 SGB II, der die tatsächlichen Kosten einer Fahrt anerkennt, ist hier nicht einschlägig, weil er nur Schulausflüge und Klassenfahrten erfasst. Der Anordnungsgrund für die Darlehensgewährung ergibt sich daraus, dass die Vereinsfahrt bereits am 18. Mai 2013 beginnt und der Kostenbeitrag zuvor geleistet werden muss. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist daher nicht zumutbar. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache. Da der Antragsteller nur mit dem hilfsweise gestellten Antrag obsiegte, war es sachgerecht, den Antragsgegner nur zur hälftigen Kostenerstattung zu verpflichten.

Rechtsmittelbelehrung: Der Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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