Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
38
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 38 AS 2303/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II für den Zeitraum 28.06.2013 bis 28.12.2013, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Die Antragsteller begehren mit ihrem am 28.06.2013 gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II-ALG II) auf der Grundlage des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II).
Die 1991 geborene Antragstellerin zu 1, ihr 1996 geborener Ehemann, der Antragsteller zu 2) und ihre am 06.12.2011 geborene Tochter, die Antragstellerin zu 3), sind bulgarische Staatsangehörige.
Die noch minderjährige Antragstellerin zu 1) lebt seit dem 04.02.2008 in Deutschland und ist zusammen mit ihren Eltern eingereist. Ihr Ehemann reiste am 29.11.2009 in die Bundesrepublik ein. Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind seit dem 15.05.2013 verheiratet. Am 06.12.2011 wurde die gemeinsame Tochter geboren.
Die Antragstellerin zu 1) ist derzeit Hausfrau und bezieht keinerlei Einkommen. Ausweislich des Schreibens der Bundesagentur für Arbeit vom 18.01.2013 ist der Antragstellerin zu 1) kraft Gesetzes die Ausübung jeder Beschäftigung erlaubt. Der Antragsteller zu 2) ist als Straßenmusikant tätig und erzielt ein Einkommen von ca. 500 EUR monatlich. Die Antragstellerin zu 3) erhält monatlich 184 EUR Kindergeld.
Die Antragsteller wohnen zusammen mit den Eltern der Antragstellerin zu 1) und ihren beiden Brüdern in einer Wohnung auf der H.-straße in D ... Die Miete für die Wohnung beträgt 550 EUR, wovon auf die Antragsteller ein Betrag von 200 EUR entfällt.
Die Antragsteller haben einen Antrag auf Leistungen gestellt, spätestens mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 28.06.2013. Bislang ist über den Antrag nicht entschieden worden. Die Antragsgegnerin hat im Rahmen des Verfahrens weitere Ermittlungen angestellt, um den aufenthaltsrechtlichen Status der Antragstellerin zu 1) feststellen zu können und hierzu auch eine entsprechende Anfrage an das Ausländeramt gerichtet, die allerdings bis zum heutigen Tage nicht beantwortet worden ist.
Am 28.06.2013 haben die Antragsteller den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie tragen vor, dass der Leistungsausschluss des §§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorliegend nicht eingreife. Einerseits sei davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss für bulgarische Staatsangehörige aufgrund des sog. Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts nicht anwendbar sei. Andererseits verfüge die Antragstellerin zu 1) aufgrund ihres fünfjährigen Aufenthaltes in Deutschland über ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4 a Freizügigkeitsgesetz/EU und der Antragsteller zu 2) sei als Straßenmusikant selbstständig. Die Bedarfsgemeinschaft verfüge lediglich über ein monatliches Kindergeld i.H.v. 184,00 EUR sowie monatliche Einnahmen des Antragstellers zu 2) i.H.v. ca. 500,00 EUR und müsse 200 EUR Miete bei den Eltern bezahlen. Weitere Einkünfte oder Vermögen seien nicht vorhanden, so dass die Antragsteller hilfebedürftig seien.
Die Antragsteller beantragen,
der Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Antragstellerin zu 1) im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik eingereist sei und festgestellt werden müsse, ob sich die Antragstellerin zu 1) auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen könne als zum Zweck der Arbeitssuche. Zudem sei nicht bekannt, ob die Antragstellerin zu 1) durch ihre Eheschließung die Familienangehörigeneigenschaft nach dem Freizügigkeitsgesetz verloren haben könnte. Der Verlust der Freizügigkeit, wenn er denn durch die Ausländerbehörde festgestellt werde, führe auf jeden Fall dazu, dass die Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nicht zu erbringen hätte. Insoweit verweist die Antragsgegnerin auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 25.01.2012, Az. B 14 AS 138/11 R. Zudem sei die Tätigkeit des Antragstellers zu 2) als Straßenmusikant keine selbstständige Tätigkeit und führe nicht dazu, dass er als Selbstständiger vom Leistungsausschluss nicht mehr betroffen sei. Außerdem müsse ein Unionsbürger für ein Daueraufenthaltsrecht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EU erfüllen. Das Erfüllen der Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht durch die Antragstellerin zu 1) werde infrage gestellt und möge ihr von der Ausländerbehörde bescheinigt werden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Gründe:
II
Der Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Leistungen ist als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG (SGG) zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft und begründet. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 4 in Verbindung mit den §§ 19ff. Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs voraus, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Anordnungsgrund kann nur die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern eine Wechselwirkung derart besteht, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 27).
Nach diesen Maßstäben haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn bei der im Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist, wobei auch wegen der mit der einstweiligen Regelung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache ein strenger Maßstab anzulegen ist. Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 4 GG), ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Anordnungsgrund kann nur die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sein. Entscheidend ist insoweit, ob es nach den Umständen des Einzelfalles für den Betroffenen zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Erhebliche Nachteile sind anzunehmen, wenn der Antragsteller konkret in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht ist oder ihm die Vernichtung der Lebensgrundlage droht. Auch erhebliche wirtschaftliche Nachteile, die entstehen, wenn das Ergebnis eines langwierigen Hauptsacheverfahrens abgewartet werden müsste, können ausreichen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05).
Der Anordnungsanspruch der Antragsteller hinsichtlich der Gewährung von Leistungen folgt aus den §§ 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 4 in Verbindung mit den §§ 19ff. Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 19 ff., 7 Abs. 1 S. 1 SGB II sind vorliegend nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte dem Grunde nach gegeben.
Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu zwei zu 2) haben das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 Buchst. a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Absatz ein S. 1 Nr. 1 SGB II). Als bulgarische Staatsangehörige sind die Antragsteller trotz Nichterteilung einer Arbeitsgenehmigung erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 20). Die Antragsteller sind im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II hilfebedürftig. Sie verfügen nur über ein Einkommen von ca. 684 EUR und haben kein Vermögen.
Unstreitig haben die Antragsteller ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 4 SGB II. Gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I ist der gewöhnliche Aufenthalt dort, wo sich die Person unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 30.1.2013, AzB4 AS 54/12 R). Entscheidend ist, dass der Anspruchsteller seinen Lebensmittelpunkt tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland hat; das Vorliegen eines Aufenthaltsgrundes im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes ist bei EU-Bürgern nicht mehr erforderlich (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 21).
Die Antragsteller sind nach ihren an Eides statt versicherten Angaben und der vorgelegten Meldebescheinigung der Stadt D. seit ihrer Einreise am 04.02.2008 bzw. 29.11.2009 ununterbrochen in Deutschland und wohnhaft in D ...
Die Antragstellerin zu 1) und zu 2) unterfallen entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin -unabhängig davon, ob dieser überhaupt mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist-, nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II. Die Antragsteller halten sich nicht zur Arbeitssuche im Bundesgebiet auf.
Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vom Leistungsanspruch ausgenommen. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist als Regelung, die von existenzsichernden Leistungen ausschließt, restriktiv auszulegen. Es muss positiv festgestellt werden, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik zusteht (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; LSG NRW, Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 22).
Die Antragstellerin zu 1) kann sich als bulgarische Staatsangehörige mit einem dauerhaften Aufenthalt von über fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf ein anderes Aufenthaltsrecht als zur Arbeitssuche, nämlich auf ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Freizügigkeitsgesetz (FreizügigG-EU) berufen. Ein Daueraufenthaltsrecht erlangen danach die Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
Da bislang hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) zudem keine Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes einer Freizügigkeitsberechtigung erfolgt ist, ist von einer Freizügigkeitsvermutung und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit ihres bisherigen fünfjährigen Aufenthalts auszugehen. Dies gilt umso mehr, weil bei Unionsbürgern nicht darauf abgestellt werden kann, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zudem sind Unionsbürger auch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.28 ff.). Insofern ist die Antragstellerin zu 1) nicht verpflichtet, die von der Antragsgegnerin geforderte Bescheinigung der Ausländerbehörde vorzulegen.
Der Antragsteller zu 2) kann sich zudem als Straßenmusikant auf ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) berufen, denn dies ist -im Rahmen der summarischen Prüfung -als niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit anzusehen. Somit ist auch er - unabhängig davon, dass auch bei ihm keine positive Feststellung des Aufenthalts zur Arbeitssuche erfolgen kann - nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst (entgegen: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2010, Az. L 25 AS 1831/09 B ER; Beschluss vom 05.03.2012, L 29 AS 414/12 B ER)
Eine niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit erfordert, dass damit ein Erwerbszweck in der Weise erfolgt, dass die Tätigkeit entgeltlich erbracht wird und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellt. Mit dieser Teilhabe am Wirtschaftsleben muss ein wirtschaftlicher Güteraustausch angestrebt werden, der auch ideelle Güter oder Dienstleistungen betreffen kann. An den Umfang und die wirtschaftliche Bedeutung der Tätigkeit, die ggf. zum Lebensunterhalt der Familie nicht ausreicht, dürfen rechtlich nur relativ geringe Ansprüche gestellt werden (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2010, Az. L 10 AS 1023/10 B ER –juris-, Rz 13- bezüglich Flaschensammlern abgelehnt-).
Aus § 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) lässt sich entnehmen, dass selbstständige Künstler ihre Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben müssen. Künstler ist gemäß § 2 KSVG, wer Musik ausübt, schafft oder lehrt. Maßgebend ist nicht, ob ein Gewerbe vorliegt (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 14.08.2002, Az.L 1 KR 33/01-juris- Rn. 42).
Auch Straßenmusik ist als Kunst anzusehen, die durch Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) geschützt ist. Vorliegend sichert der Antragsteller zu 2) zumindest teilweise den Lebensunterhalt durch seine Tätigkeit als Straßenmusikant und übt diese auch regelmäßig aus. Im Gegensatz zu einem Flaschensammler, bei dem eine niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit im Sinne des §§ 2 Abs. 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz (FreizügigG/EU) nicht anzunehmen ist, weil er nur eine reine Sammeltätigkeit ausübt, erbringt eine Straßenmusikant eine eigene künstlerische Leistung. Er wendet sich an den allgemeinen Markt in der Weise, dass er seine eigene künstlerische Leistung anbietet und bei erfolgreicher Ansprache der Passanten durch seine Musik eine Gegenleistung erhält. Dies entspricht nicht der typischen Leistungserbringung in der Weise, dass eigene Leistungen direkt gegen Geld an den Markt gebracht werden, sondern die Voraussetzung, dass der vorbeilaufende Passant Gefallen an der Leistung des Musikanten finden muss, damit der Musikant eine entsprechende Gegenleistung für die Musikdarbietung erbringt. Da allerdings die Straßenmusikanten zum Zweck des Gelderwerbs ihre Musikdarbietung erbringen, wird man dies auch als Erwerbstätigkeit qualifizieren können.
Darüber hinaus ist unabhängig davon, ob man die Tätigkeit des Antragstellers zu 2) als selbstständige Tätigkeit qualifiziert, auch nicht anzunehmen, dass er sich allein zum Zweck der Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhält. Hierzu gibt es keinerlei Anhaltspunkte, insbesondere weil er sich bereits seit vier Jahren in der Bundesrepublik rechtmäßig, was zu vermuten ist, aufhält
Der Leistungsanspruch der Antragstellerin 3) als Tochter der erwerbsfähigen Eltern folgt aus § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da es um die Gewährung von existenzsichernden Leistungen geht, ist es ihnen nicht zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Der Anordnungsgrund besteht für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht und muss auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens begrenzt werden, weil eine einstweilige Anordnung nicht über das im Hauptsacheverfahren erreichbare Begehren hinausgehen darf, § 41Abs. 1 S. 4 SGB II. Darüber hinaus war der Anordnungsantrag auf längstens sechs Monate zu befristen, damit der Fall in leistungsrechtlicher Hinsicht sachgerecht unter Kontrolle gehalten werden kann.
Hinsichtlich des Begehrens der Antragsteller, ihnen auch Leistungen für die Unterkunft und Heizung zu gewähren, liegt hier ausnahmsweise auch ein Anordnungsgrund vor, auch wenn im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bezüglich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung es grundsätzlich erforderlich ist, dass Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit droht. Dies ist grundsätzlich erst bei Rechtshängigkeit einer Räumungsklage anzunehmen (LSG NRW, Beschluss vom 31.05.2012 – L 7 AS 337/12 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 25.05.2012 – L 7 AS 742/12 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 25.05.2011 – L 12 AS 381/11B ER). Dies ist hier nicht der Fall.
Allerdings ist ein Zuwarten auf die Klärung im Hauptsacheverfahren umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen sind (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.07.2007 - L 32 B 723/07 AS ER -; vom 05.09.2007 - L 32 AS 1423/07 AS ER -). Hier ist den Antragstellern angesichts der bestehenden hohen Erfolgschancen in der Sache nicht zuzumuten, ihre laufenden mietvertraglichen Pflichten nicht erfüllen zu können. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Familie der Antragstellerin hierdurch auch erheblich belastet wäre. Auch bei den Kosten der Unterkunft handelt es sich um Grundsicherung zur Wahrung des Existenzminimums.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Die Antragsteller begehren mit ihrem am 28.06.2013 gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II-ALG II) auf der Grundlage des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II).
Die 1991 geborene Antragstellerin zu 1, ihr 1996 geborener Ehemann, der Antragsteller zu 2) und ihre am 06.12.2011 geborene Tochter, die Antragstellerin zu 3), sind bulgarische Staatsangehörige.
Die noch minderjährige Antragstellerin zu 1) lebt seit dem 04.02.2008 in Deutschland und ist zusammen mit ihren Eltern eingereist. Ihr Ehemann reiste am 29.11.2009 in die Bundesrepublik ein. Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind seit dem 15.05.2013 verheiratet. Am 06.12.2011 wurde die gemeinsame Tochter geboren.
Die Antragstellerin zu 1) ist derzeit Hausfrau und bezieht keinerlei Einkommen. Ausweislich des Schreibens der Bundesagentur für Arbeit vom 18.01.2013 ist der Antragstellerin zu 1) kraft Gesetzes die Ausübung jeder Beschäftigung erlaubt. Der Antragsteller zu 2) ist als Straßenmusikant tätig und erzielt ein Einkommen von ca. 500 EUR monatlich. Die Antragstellerin zu 3) erhält monatlich 184 EUR Kindergeld.
Die Antragsteller wohnen zusammen mit den Eltern der Antragstellerin zu 1) und ihren beiden Brüdern in einer Wohnung auf der H.-straße in D ... Die Miete für die Wohnung beträgt 550 EUR, wovon auf die Antragsteller ein Betrag von 200 EUR entfällt.
Die Antragsteller haben einen Antrag auf Leistungen gestellt, spätestens mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 28.06.2013. Bislang ist über den Antrag nicht entschieden worden. Die Antragsgegnerin hat im Rahmen des Verfahrens weitere Ermittlungen angestellt, um den aufenthaltsrechtlichen Status der Antragstellerin zu 1) feststellen zu können und hierzu auch eine entsprechende Anfrage an das Ausländeramt gerichtet, die allerdings bis zum heutigen Tage nicht beantwortet worden ist.
Am 28.06.2013 haben die Antragsteller den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie tragen vor, dass der Leistungsausschluss des §§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorliegend nicht eingreife. Einerseits sei davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss für bulgarische Staatsangehörige aufgrund des sog. Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts nicht anwendbar sei. Andererseits verfüge die Antragstellerin zu 1) aufgrund ihres fünfjährigen Aufenthaltes in Deutschland über ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4 a Freizügigkeitsgesetz/EU und der Antragsteller zu 2) sei als Straßenmusikant selbstständig. Die Bedarfsgemeinschaft verfüge lediglich über ein monatliches Kindergeld i.H.v. 184,00 EUR sowie monatliche Einnahmen des Antragstellers zu 2) i.H.v. ca. 500,00 EUR und müsse 200 EUR Miete bei den Eltern bezahlen. Weitere Einkünfte oder Vermögen seien nicht vorhanden, so dass die Antragsteller hilfebedürftig seien.
Die Antragsteller beantragen,
der Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung verweist sie darauf, dass die Antragstellerin zu 1) im Rahmen des Familiennachzugs in die Bundesrepublik eingereist sei und festgestellt werden müsse, ob sich die Antragstellerin zu 1) auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen könne als zum Zweck der Arbeitssuche. Zudem sei nicht bekannt, ob die Antragstellerin zu 1) durch ihre Eheschließung die Familienangehörigeneigenschaft nach dem Freizügigkeitsgesetz verloren haben könnte. Der Verlust der Freizügigkeit, wenn er denn durch die Ausländerbehörde festgestellt werde, führe auf jeden Fall dazu, dass die Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nicht zu erbringen hätte. Insoweit verweist die Antragsgegnerin auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 25.01.2012, Az. B 14 AS 138/11 R. Zudem sei die Tätigkeit des Antragstellers zu 2) als Straßenmusikant keine selbstständige Tätigkeit und führe nicht dazu, dass er als Selbstständiger vom Leistungsausschluss nicht mehr betroffen sei. Außerdem müsse ein Unionsbürger für ein Daueraufenthaltsrecht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EU erfüllen. Das Erfüllen der Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht durch die Antragstellerin zu 1) werde infrage gestellt und möge ihr von der Ausländerbehörde bescheinigt werden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Gründe:
II
Der Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Leistungen ist als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG (SGG) zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft und begründet. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 4 in Verbindung mit den §§ 19ff. Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs voraus, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Anordnungsgrund kann nur die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern eine Wechselwirkung derart besteht, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 27).
Nach diesen Maßstäben haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn bei der im Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist, wobei auch wegen der mit der einstweiligen Regelung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache ein strenger Maßstab anzulegen ist. Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 Abs. 4 GG), ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Anordnungsgrund kann nur die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sein. Entscheidend ist insoweit, ob es nach den Umständen des Einzelfalles für den Betroffenen zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Erhebliche Nachteile sind anzunehmen, wenn der Antragsteller konkret in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht ist oder ihm die Vernichtung der Lebensgrundlage droht. Auch erhebliche wirtschaftliche Nachteile, die entstehen, wenn das Ergebnis eines langwierigen Hauptsacheverfahrens abgewartet werden müsste, können ausreichen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05).
Der Anordnungsanspruch der Antragsteller hinsichtlich der Gewährung von Leistungen folgt aus den §§ 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 4 in Verbindung mit den §§ 19ff. Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 19 ff., 7 Abs. 1 S. 1 SGB II sind vorliegend nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte dem Grunde nach gegeben.
Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu zwei zu 2) haben das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 Buchst. a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Absatz ein S. 1 Nr. 1 SGB II). Als bulgarische Staatsangehörige sind die Antragsteller trotz Nichterteilung einer Arbeitsgenehmigung erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 20). Die Antragsteller sind im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II hilfebedürftig. Sie verfügen nur über ein Einkommen von ca. 684 EUR und haben kein Vermögen.
Unstreitig haben die Antragsteller ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 7 Abs.1 S. 1 Nr. 4 SGB II. Gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I ist der gewöhnliche Aufenthalt dort, wo sich die Person unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 30.1.2013, AzB4 AS 54/12 R). Entscheidend ist, dass der Anspruchsteller seinen Lebensmittelpunkt tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland hat; das Vorliegen eines Aufenthaltsgrundes im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes ist bei EU-Bürgern nicht mehr erforderlich (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 21).
Die Antragsteller sind nach ihren an Eides statt versicherten Angaben und der vorgelegten Meldebescheinigung der Stadt D. seit ihrer Einreise am 04.02.2008 bzw. 29.11.2009 ununterbrochen in Deutschland und wohnhaft in D ...
Die Antragstellerin zu 1) und zu 2) unterfallen entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin -unabhängig davon, ob dieser überhaupt mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist-, nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II. Die Antragsteller halten sich nicht zur Arbeitssuche im Bundesgebiet auf.
Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vom Leistungsanspruch ausgenommen. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist als Regelung, die von existenzsichernden Leistungen ausschließt, restriktiv auszulegen. Es muss positiv festgestellt werden, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik zusteht (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.13 ff; LSG NRW, Beschluss vom 19.07.2013, Az. L 19 AS 942/13 B ER -juris- Rn. 22).
Die Antragstellerin zu 1) kann sich als bulgarische Staatsangehörige mit einem dauerhaften Aufenthalt von über fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf ein anderes Aufenthaltsrecht als zur Arbeitssuche, nämlich auf ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Freizügigkeitsgesetz (FreizügigG-EU) berufen. Ein Daueraufenthaltsrecht erlangen danach die Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
Da bislang hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) zudem keine Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes einer Freizügigkeitsberechtigung erfolgt ist, ist von einer Freizügigkeitsvermutung und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit ihres bisherigen fünfjährigen Aufenthalts auszugehen. Dies gilt umso mehr, weil bei Unionsbürgern nicht darauf abgestellt werden kann, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zudem sind Unionsbürger auch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R, Rn.28 ff.). Insofern ist die Antragstellerin zu 1) nicht verpflichtet, die von der Antragsgegnerin geforderte Bescheinigung der Ausländerbehörde vorzulegen.
Der Antragsteller zu 2) kann sich zudem als Straßenmusikant auf ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) berufen, denn dies ist -im Rahmen der summarischen Prüfung -als niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit anzusehen. Somit ist auch er - unabhängig davon, dass auch bei ihm keine positive Feststellung des Aufenthalts zur Arbeitssuche erfolgen kann - nicht vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst (entgegen: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2010, Az. L 25 AS 1831/09 B ER; Beschluss vom 05.03.2012, L 29 AS 414/12 B ER)
Eine niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit erfordert, dass damit ein Erwerbszweck in der Weise erfolgt, dass die Tätigkeit entgeltlich erbracht wird und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellt. Mit dieser Teilhabe am Wirtschaftsleben muss ein wirtschaftlicher Güteraustausch angestrebt werden, der auch ideelle Güter oder Dienstleistungen betreffen kann. An den Umfang und die wirtschaftliche Bedeutung der Tätigkeit, die ggf. zum Lebensunterhalt der Familie nicht ausreicht, dürfen rechtlich nur relativ geringe Ansprüche gestellt werden (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.09.2010, Az. L 10 AS 1023/10 B ER –juris-, Rz 13- bezüglich Flaschensammlern abgelehnt-).
Aus § 1 des Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) lässt sich entnehmen, dass selbstständige Künstler ihre Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben müssen. Künstler ist gemäß § 2 KSVG, wer Musik ausübt, schafft oder lehrt. Maßgebend ist nicht, ob ein Gewerbe vorliegt (Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 14.08.2002, Az.L 1 KR 33/01-juris- Rn. 42).
Auch Straßenmusik ist als Kunst anzusehen, die durch Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) geschützt ist. Vorliegend sichert der Antragsteller zu 2) zumindest teilweise den Lebensunterhalt durch seine Tätigkeit als Straßenmusikant und übt diese auch regelmäßig aus. Im Gegensatz zu einem Flaschensammler, bei dem eine niedergelassene selbstständige Erwerbstätigkeit im Sinne des §§ 2 Abs. 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz (FreizügigG/EU) nicht anzunehmen ist, weil er nur eine reine Sammeltätigkeit ausübt, erbringt eine Straßenmusikant eine eigene künstlerische Leistung. Er wendet sich an den allgemeinen Markt in der Weise, dass er seine eigene künstlerische Leistung anbietet und bei erfolgreicher Ansprache der Passanten durch seine Musik eine Gegenleistung erhält. Dies entspricht nicht der typischen Leistungserbringung in der Weise, dass eigene Leistungen direkt gegen Geld an den Markt gebracht werden, sondern die Voraussetzung, dass der vorbeilaufende Passant Gefallen an der Leistung des Musikanten finden muss, damit der Musikant eine entsprechende Gegenleistung für die Musikdarbietung erbringt. Da allerdings die Straßenmusikanten zum Zweck des Gelderwerbs ihre Musikdarbietung erbringen, wird man dies auch als Erwerbstätigkeit qualifizieren können.
Darüber hinaus ist unabhängig davon, ob man die Tätigkeit des Antragstellers zu 2) als selbstständige Tätigkeit qualifiziert, auch nicht anzunehmen, dass er sich allein zum Zweck der Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhält. Hierzu gibt es keinerlei Anhaltspunkte, insbesondere weil er sich bereits seit vier Jahren in der Bundesrepublik rechtmäßig, was zu vermuten ist, aufhält
Der Leistungsanspruch der Antragstellerin 3) als Tochter der erwerbsfähigen Eltern folgt aus § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da es um die Gewährung von existenzsichernden Leistungen geht, ist es ihnen nicht zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Der Anordnungsgrund besteht für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht und muss auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens begrenzt werden, weil eine einstweilige Anordnung nicht über das im Hauptsacheverfahren erreichbare Begehren hinausgehen darf, § 41Abs. 1 S. 4 SGB II. Darüber hinaus war der Anordnungsantrag auf längstens sechs Monate zu befristen, damit der Fall in leistungsrechtlicher Hinsicht sachgerecht unter Kontrolle gehalten werden kann.
Hinsichtlich des Begehrens der Antragsteller, ihnen auch Leistungen für die Unterkunft und Heizung zu gewähren, liegt hier ausnahmsweise auch ein Anordnungsgrund vor, auch wenn im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bezüglich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung es grundsätzlich erforderlich ist, dass Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit droht. Dies ist grundsätzlich erst bei Rechtshängigkeit einer Räumungsklage anzunehmen (LSG NRW, Beschluss vom 31.05.2012 – L 7 AS 337/12 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 25.05.2012 – L 7 AS 742/12 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 25.05.2011 – L 12 AS 381/11B ER). Dies ist hier nicht der Fall.
Allerdings ist ein Zuwarten auf die Klärung im Hauptsacheverfahren umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen sind (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.07.2007 - L 32 B 723/07 AS ER -; vom 05.09.2007 - L 32 AS 1423/07 AS ER -). Hier ist den Antragstellern angesichts der bestehenden hohen Erfolgschancen in der Sache nicht zuzumuten, ihre laufenden mietvertraglichen Pflichten nicht erfüllen zu können. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Familie der Antragstellerin hierdurch auch erheblich belastet wäre. Auch bei den Kosten der Unterkunft handelt es sich um Grundsicherung zur Wahrung des Existenzminimums.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG
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