Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
36
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 36 AS 2517/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Es entspricht nach Auffassung der Kammer auch dem Sinn und Zweck des § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II, dass bis zum Abschluss des Verfahrens zur Feststellung der Er-werbsfähigkeit weiterhin der Beklagte zu Leistungen nach dem SGB II verpflichtet sein soll. Der Beklagte hatte und hat es selbst in der Hand durch Einleitung des Verfahrens nach § 44 a SGB II Klarheit und vor allem Rechtssicherheit über die Erwerbsfähigkeit des Klägers herzustellen.
Der Bescheid des Beklagten vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 14.09.2012 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Bescheides über die Aufhebung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).
Erstmals stellte der Kläger im Jahr 2007 einen Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosen-geld II, welches in der Folgezeit bis September 2012 laufend bewilligt wurde. Bereits mehrfach war zwischen den Beteiligten streitig, ob der Kläger erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II war und ist. Mit E-Mail vom 31.01.2012 war das Sozialamt der Stadt Gladbeck dem Beklagten unter Hinweis auf § 44 a Abs. 1 SGB II eine Entscheidung des Trägers über die Erwerbsfähigkeit des Klägers einzuholen und bis zur Entscheidung weiter über Leistungen nach dem SGB II zu entscheiden, weil bereits in der Vergangenheit keine Einigkeit darüber erzielt worden sei, ob bei dem Kläger eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliege. Zuletzt äußerte sich der amtsärztliche Dienst des Beklagten mit Schreiben vom 09.03.2012 dahingehend, dass weiter von einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers auszugehen sei.
Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 04.07.2012 für die Zeit ab dem 01.08.2012 wurden dem Kläger durch den Beklagten mit Bescheid vom 17.07.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.08.2012 bis zum 31.01.2013 bewilligt. Dieser Bewilligungsbescheid wurde nicht angefochten.
Mit Schreiben ebenfalls vom 17.07.2012 wandte sich der Beklagte an das Sozialamt der Stadt Gladbeck und vertrat die Ansicht, dass aufgrund der amtsärztlichen Einschätzung ein Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) bestünde. Um den Fall endlich zum Abschluss zu bringen, bitte der Beklagte um Einschaltung des Trägers seitens des Sozialamtes bezüglich der Prüfung der Erwerbsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 27.07.2012 hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung vom 01.09.2012 auf. Der Grund für die Aufhebung sei der Wegfall der Erwerbsfähigkeit.
Am 16.08.2012 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch. Er sei sehr wohl erwerbsfähig.
Aus einem Aktenvermerk vom 16.08.2012 geht hervor, dass das Sozialamt der Stadt Gladbeck dem Beklagten mitgeteilt habe, dass ab dem 01.09.2012 Leistungen nach dem SGB XII ausgezahlt würden. Im Übrigen sollen nunmehr das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Klägers eingeleitet werden.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2012 zurück. Unabhängig von der Frage der Erwerbsfähigkeit sei weitere Voraussetzung für die Erbringung von Leistungen nach dem SGB II die Hilfebedürftigkeit. Hilfebedürftig sei nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern könne und die erforderliche Hilfe nicht von Trägern anderer Sozialleistungen erhalte. Der Widerspruchsführer erhalte aber nach Abstimmung beider Leistungsträger ab September 2012 Leistungen nach dem SGB XII über das Sozialamt der Stadt Gladbeck. Hierdurch sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) eingetreten, die bei der Bewilligung am 17.07.2012 noch nicht vorgelegen hätten. Deshalb habe eine Aufhebung erfolgen müssen.
Am 17.10.2012 hat der Kläger Klage erhoben.
Die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sei zu Unrecht erfolgt. Der Kläger sei nach wie vor erwerbsfähig. Hintergrund des Rechtsstreits sei, dass der Kläger durchaus eine Tätigkeit als Werkzeugmacher wieder aufnehmen wolle. Daher länger aus diesem Beruf heraus sei, sei eine berufliche Weiterqualifizierung erforderlich. Dies könne der Beklagte aber nur fördern, wenn die Voraussetzungen für Leistungen nach dem SGB II vorliegen würden. Daher stehe der Kläger "zwischen den Stühlen", was die Leistungen zur Förderung seiner Berufstätigkeit angeben. Die Kosten für eine Weiterqualifizierung beliefen sich schätzungsweise auf 7.500 EUR.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte stellt bereits das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers infrage. Der Kläger beziehe seit dem 01.09.2012 Leistungen nach dem SGB XII. Im Übrigen habe das Kreisgesundheitsamt am 14.04.2010, 10.09.2010 und 09.03.2012 festgestellt, dass der Kläger auf Dauer nicht in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit von mehr als 3 Stunden täglich nachzugehen und daher nicht erwerbsfähig sei. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde derzeit durch den Träger der Sozialhilfe erneut geprüft. Sollte sich dabei herausstellen, dass der Kläger entgegen der Gutachten doch erwerbsfähig sei, bestünde zwar ein An-spruch auf Leistungen nach dem SGB II über den 31.08.2012 hinaus. Da der Träger der Leistungen nach dem SGB XII aber bereits einen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe, würden sich für den Kläger keinerlei Nachteile ergeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der durch den Beklagten übersendeten Leistungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Insbesondere hat der Kläger auch das allgemeine notwendige Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung des vorliegenden Rechtsstreits. Das Rechtsschutzbedürfnis ist das berechtigte Interesse des Klägers, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 24/10 R = NZS 2012, 798). Ein solches Interesse besteht im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten hier bereits deshalb, weil sich der Kläger gegen die Aufhebung der ihm gegenüber zunächst bewilligten Leistungen nach dem SGB II wendet. Es besteht grundsätzlich ein berechtigtes Interesse, einen solchen belastenden Verwaltungsakt zu beseitigen. Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil die dem Kläger bewilligten Leistungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII in der Höhe identisch sein mögen. Es handelt sich um unterschiedliche Leistungssysteme mit verschiedenen Rechten und Pflichten, die trotz ihrer Parallelen das Interesse begründen, dem einen oder anderen System zugeordnet zu werden (Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.12.2007 – L 20 B 120/07 SO).
Die Klage ist auch begründet.
Der Kläger ist im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.09.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der mit Bescheid vom 17.07.2012 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II liegen nicht vor.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wir-kung für die Vergangenheit nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB X zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf er nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt entweder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X). Dabei betrifft § 45 Abs. 1 SGB X aufgrund seiner Stellung im Gefüge der §§ 44 ff. SGB X nur die Fälle der so genannten ursprünglichen Rechtswidrigkeit, also die Fälle, bei denen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bereits im Zeitpunkt seines Erlasses bestand (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 45, Rn. 31).
Hier kann offen bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 17. 7. 2012 tatsächlich wegen fehlender Erwerbsfähigkeit des Klägers anfänglich rechtswidrig ist, denn jedenfalls hat der Beklagte das ihm nach § 45 SGB X eingeräumte Ermessen im Aufhebungsbescheid vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.09.2012 nicht ausgeübt. Das Ermessen ist im vorliegenden Fall auch nicht nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) entbehrlich, denn ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X liegt aus Sicht der Kammer jedenfalls nicht vor.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. "Wesentlich" bedeutet in diesem Zusammenhang den Eintritt einer rechtserheblichen Änderung was voraussetzt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen (Steinwedel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 77. Ergänzungslieferung 2013, § 48 SGB X, Rn. 13 m. w. N.). Dies ist nicht der Fall.
Unabhängig davon, ob der Kläger erwerbsunfähig (geworden) ist, ist der Beklagte nach § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II weiterhin zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II ver-pflichtet.
§ 44 a SGB II regelt grundsätzlich das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit von Arbeitsuchenden durch die Agentur für Arbeit. Nach der Feststellung durch die Agentur für Arbeit haben diverse Leistungsträger das Recht zum Widerspruch gegen diese Feststellung (§ 44 a Abs. 1 Satz 2 SGB II). Nach dem Wortlaut des § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II besteht die Leistungspflicht zwar nur vom Widerspruch eines solchen Trägers gegen die negative Feststellung der Erwerbsfähigkeit bis zur Entscheidung über den Widerspruch. Diese Vorschrift enthält aber nicht die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 SGB III (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R; Knapp in: jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 44a, Rn. 71). Im Ergebnis fingiert § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II die Erwerbsfähigkeit des Arbeitsuchenden und verpflichtet den Träger der Leistungen nach dem SGB II daher nicht erst ab Widerspruch Leistungen nach dem SGB II zu erbringen (Knapp in: jurisPK-SGB II, a. a. O., Rn. 72). Dies gilt zur Überzeugung der Kammer auch nicht erst bei einem bereits bestehenden Streit zwischen zwei Leistungsträgern, sondern bereits im Vorfeld hierzu (so wohl auch: BSG, a. a. O.). Hieran ändert im vorliegenden Fall auch die Tatsache nichts, dass der Träger der Leistungen nach dem SGB XII "nahtlos" ab dem 01.09.2012 an den Kläger Sozialhilfe gezahlt hat, mithin also gar kein Streit über die Zuständigkeit der Leistungserbringung besteht. Denn die entscheidende Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers ist zwischen dem Beklagten und dem Träger der Leistungen nach dem SGB XII keinesfalls unstreitig. Dies zeigen die aus den Leistungsakten ersichtlichen Aufzeichnungen, wonach das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit nach § 44 a SGB II nunmehr eingeleitet werden soll. Es entspricht nach Auffassung der Kammer auch dem Sinn und Zweck des § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II, dass bis zum Abschluss des Verfahrens zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit weiterhin der Beklagte zu Leistungen nach dem SGB II verpflichtet sein soll. Der Beklagte hatte und hat es selbst in der Hand durch Einleitung des Verfahrens nach § 44 a SGB II Klarheit und vor allem Rechtssicherheit über die Erwerbsfähigkeit des Klägers herzustellen.
Eine Aufhebung der Leistungen nach dem SGB II folgt auch nicht aus § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X wegen der Erzielung von Einkommen in Form der Leistungen nach dem SGB XII bzw. wegen des damit einhergehenden Wegfalls der Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II. Wenn Leistungen durch den Sozialhilfeträger nur erbracht werden, weil keine Leistungen nach dem SGB II gezahlt werden – die sich aber mit den Leistungen nach dem SGB XII ausschließen – kann dies nach Auffassung der Kammer keine Einkommenserzielung im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II sein. Derartige Konstellationen sind über einen Erstattungsanspruch zu lösen. Erfüllt – wie nach oben dargestellten Ausführungen der Träger der Leistungen nach dem SGB XII – ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen, entsteht zu Gunsten des nicht zur Leistung verpflichteten Trägers gegenüber dem Beklagten ein Erstattungsanspruch im Sinne des § 105 Abs. 1 SGB X. Dies hat dem Berechtigten gegenüber nach § 107 Abs. 1 SGB X zur Folge, dass die ihm zustehenden Sozialleistungen als erfüllt gelten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 183 SGG.
Die Berufung ist zuzulassen, da der Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Frage der Reichweite und Wirkungen der Nahtlosigkeitsregelung des § 44 a SGB II insbesondere im dem Fall, wenn zwischen zwei Leistungsträger kein Streit über die Leistungserbringung besteht, ist höchstrichterlich nicht geklärt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Bescheides über die Aufhebung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II).
Erstmals stellte der Kläger im Jahr 2007 einen Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosen-geld II, welches in der Folgezeit bis September 2012 laufend bewilligt wurde. Bereits mehrfach war zwischen den Beteiligten streitig, ob der Kläger erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II war und ist. Mit E-Mail vom 31.01.2012 war das Sozialamt der Stadt Gladbeck dem Beklagten unter Hinweis auf § 44 a Abs. 1 SGB II eine Entscheidung des Trägers über die Erwerbsfähigkeit des Klägers einzuholen und bis zur Entscheidung weiter über Leistungen nach dem SGB II zu entscheiden, weil bereits in der Vergangenheit keine Einigkeit darüber erzielt worden sei, ob bei dem Kläger eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vorliege. Zuletzt äußerte sich der amtsärztliche Dienst des Beklagten mit Schreiben vom 09.03.2012 dahingehend, dass weiter von einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers auszugehen sei.
Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 04.07.2012 für die Zeit ab dem 01.08.2012 wurden dem Kläger durch den Beklagten mit Bescheid vom 17.07.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.08.2012 bis zum 31.01.2013 bewilligt. Dieser Bewilligungsbescheid wurde nicht angefochten.
Mit Schreiben ebenfalls vom 17.07.2012 wandte sich der Beklagte an das Sozialamt der Stadt Gladbeck und vertrat die Ansicht, dass aufgrund der amtsärztlichen Einschätzung ein Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) bestünde. Um den Fall endlich zum Abschluss zu bringen, bitte der Beklagte um Einschaltung des Trägers seitens des Sozialamtes bezüglich der Prüfung der Erwerbsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 27.07.2012 hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung vom 01.09.2012 auf. Der Grund für die Aufhebung sei der Wegfall der Erwerbsfähigkeit.
Am 16.08.2012 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch. Er sei sehr wohl erwerbsfähig.
Aus einem Aktenvermerk vom 16.08.2012 geht hervor, dass das Sozialamt der Stadt Gladbeck dem Beklagten mitgeteilt habe, dass ab dem 01.09.2012 Leistungen nach dem SGB XII ausgezahlt würden. Im Übrigen sollen nunmehr das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Klägers eingeleitet werden.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.09.2012 zurück. Unabhängig von der Frage der Erwerbsfähigkeit sei weitere Voraussetzung für die Erbringung von Leistungen nach dem SGB II die Hilfebedürftigkeit. Hilfebedürftig sei nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern könne und die erforderliche Hilfe nicht von Trägern anderer Sozialleistungen erhalte. Der Widerspruchsführer erhalte aber nach Abstimmung beider Leistungsträger ab September 2012 Leistungen nach dem SGB XII über das Sozialamt der Stadt Gladbeck. Hierdurch sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) eingetreten, die bei der Bewilligung am 17.07.2012 noch nicht vorgelegen hätten. Deshalb habe eine Aufhebung erfolgen müssen.
Am 17.10.2012 hat der Kläger Klage erhoben.
Die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sei zu Unrecht erfolgt. Der Kläger sei nach wie vor erwerbsfähig. Hintergrund des Rechtsstreits sei, dass der Kläger durchaus eine Tätigkeit als Werkzeugmacher wieder aufnehmen wolle. Daher länger aus diesem Beruf heraus sei, sei eine berufliche Weiterqualifizierung erforderlich. Dies könne der Beklagte aber nur fördern, wenn die Voraussetzungen für Leistungen nach dem SGB II vorliegen würden. Daher stehe der Kläger "zwischen den Stühlen", was die Leistungen zur Förderung seiner Berufstätigkeit angeben. Die Kosten für eine Weiterqualifizierung beliefen sich schätzungsweise auf 7.500 EUR.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.09.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte stellt bereits das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers infrage. Der Kläger beziehe seit dem 01.09.2012 Leistungen nach dem SGB XII. Im Übrigen habe das Kreisgesundheitsamt am 14.04.2010, 10.09.2010 und 09.03.2012 festgestellt, dass der Kläger auf Dauer nicht in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit von mehr als 3 Stunden täglich nachzugehen und daher nicht erwerbsfähig sei. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers werde derzeit durch den Träger der Sozialhilfe erneut geprüft. Sollte sich dabei herausstellen, dass der Kläger entgegen der Gutachten doch erwerbsfähig sei, bestünde zwar ein An-spruch auf Leistungen nach dem SGB II über den 31.08.2012 hinaus. Da der Träger der Leistungen nach dem SGB XII aber bereits einen Erstattungsanspruch geltend gemacht habe, würden sich für den Kläger keinerlei Nachteile ergeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der durch den Beklagten übersendeten Leistungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Insbesondere hat der Kläger auch das allgemeine notwendige Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung des vorliegenden Rechtsstreits. Das Rechtsschutzbedürfnis ist das berechtigte Interesse des Klägers, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 24/10 R = NZS 2012, 798). Ein solches Interesse besteht im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten hier bereits deshalb, weil sich der Kläger gegen die Aufhebung der ihm gegenüber zunächst bewilligten Leistungen nach dem SGB II wendet. Es besteht grundsätzlich ein berechtigtes Interesse, einen solchen belastenden Verwaltungsakt zu beseitigen. Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil die dem Kläger bewilligten Leistungen nach dem SGB II und nach dem SGB XII in der Höhe identisch sein mögen. Es handelt sich um unterschiedliche Leistungssysteme mit verschiedenen Rechten und Pflichten, die trotz ihrer Parallelen das Interesse begründen, dem einen oder anderen System zugeordnet zu werden (Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.12.2007 – L 20 B 120/07 SO).
Die Klage ist auch begründet.
Der Kläger ist im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn der Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.09.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der mit Bescheid vom 17.07.2012 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II liegen nicht vor.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wir-kung für die Vergangenheit nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB X zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf er nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt entweder durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X). Dabei betrifft § 45 Abs. 1 SGB X aufgrund seiner Stellung im Gefüge der §§ 44 ff. SGB X nur die Fälle der so genannten ursprünglichen Rechtswidrigkeit, also die Fälle, bei denen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bereits im Zeitpunkt seines Erlasses bestand (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 45, Rn. 31).
Hier kann offen bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 17. 7. 2012 tatsächlich wegen fehlender Erwerbsfähigkeit des Klägers anfänglich rechtswidrig ist, denn jedenfalls hat der Beklagte das ihm nach § 45 SGB X eingeräumte Ermessen im Aufhebungsbescheid vom 27.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.09.2012 nicht ausgeübt. Das Ermessen ist im vorliegenden Fall auch nicht nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) entbehrlich, denn ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X liegt aus Sicht der Kammer jedenfalls nicht vor.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. "Wesentlich" bedeutet in diesem Zusammenhang den Eintritt einer rechtserheblichen Änderung was voraussetzt, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt (so) nicht hätte erlassen dürfen (Steinwedel in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 77. Ergänzungslieferung 2013, § 48 SGB X, Rn. 13 m. w. N.). Dies ist nicht der Fall.
Unabhängig davon, ob der Kläger erwerbsunfähig (geworden) ist, ist der Beklagte nach § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II weiterhin zur Erbringung von Leistungen nach dem SGB II ver-pflichtet.
§ 44 a SGB II regelt grundsätzlich das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit und Hilfebedürftigkeit von Arbeitsuchenden durch die Agentur für Arbeit. Nach der Feststellung durch die Agentur für Arbeit haben diverse Leistungsträger das Recht zum Widerspruch gegen diese Feststellung (§ 44 a Abs. 1 Satz 2 SGB II). Nach dem Wortlaut des § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II besteht die Leistungspflicht zwar nur vom Widerspruch eines solchen Trägers gegen die negative Feststellung der Erwerbsfähigkeit bis zur Entscheidung über den Widerspruch. Diese Vorschrift enthält aber nicht die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 SGB III (BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R; Knapp in: jurisPK-SGB II, 3. Auflage 2012, § 44a, Rn. 71). Im Ergebnis fingiert § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II die Erwerbsfähigkeit des Arbeitsuchenden und verpflichtet den Träger der Leistungen nach dem SGB II daher nicht erst ab Widerspruch Leistungen nach dem SGB II zu erbringen (Knapp in: jurisPK-SGB II, a. a. O., Rn. 72). Dies gilt zur Überzeugung der Kammer auch nicht erst bei einem bereits bestehenden Streit zwischen zwei Leistungsträgern, sondern bereits im Vorfeld hierzu (so wohl auch: BSG, a. a. O.). Hieran ändert im vorliegenden Fall auch die Tatsache nichts, dass der Träger der Leistungen nach dem SGB XII "nahtlos" ab dem 01.09.2012 an den Kläger Sozialhilfe gezahlt hat, mithin also gar kein Streit über die Zuständigkeit der Leistungserbringung besteht. Denn die entscheidende Frage der Erwerbsfähigkeit des Klägers ist zwischen dem Beklagten und dem Träger der Leistungen nach dem SGB XII keinesfalls unstreitig. Dies zeigen die aus den Leistungsakten ersichtlichen Aufzeichnungen, wonach das Verfahren zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit nach § 44 a SGB II nunmehr eingeleitet werden soll. Es entspricht nach Auffassung der Kammer auch dem Sinn und Zweck des § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II, dass bis zum Abschluss des Verfahrens zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit weiterhin der Beklagte zu Leistungen nach dem SGB II verpflichtet sein soll. Der Beklagte hatte und hat es selbst in der Hand durch Einleitung des Verfahrens nach § 44 a SGB II Klarheit und vor allem Rechtssicherheit über die Erwerbsfähigkeit des Klägers herzustellen.
Eine Aufhebung der Leistungen nach dem SGB II folgt auch nicht aus § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X wegen der Erzielung von Einkommen in Form der Leistungen nach dem SGB XII bzw. wegen des damit einhergehenden Wegfalls der Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II. Wenn Leistungen durch den Sozialhilfeträger nur erbracht werden, weil keine Leistungen nach dem SGB II gezahlt werden – die sich aber mit den Leistungen nach dem SGB XII ausschließen – kann dies nach Auffassung der Kammer keine Einkommenserzielung im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II sein. Derartige Konstellationen sind über einen Erstattungsanspruch zu lösen. Erfüllt – wie nach oben dargestellten Ausführungen der Träger der Leistungen nach dem SGB XII – ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen, entsteht zu Gunsten des nicht zur Leistung verpflichteten Trägers gegenüber dem Beklagten ein Erstattungsanspruch im Sinne des § 105 Abs. 1 SGB X. Dies hat dem Berechtigten gegenüber nach § 107 Abs. 1 SGB X zur Folge, dass die ihm zustehenden Sozialleistungen als erfüllt gelten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 183 SGG.
Die Berufung ist zuzulassen, da der Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Frage der Reichweite und Wirkungen der Nahtlosigkeitsregelung des § 44 a SGB II insbesondere im dem Fall, wenn zwischen zwei Leistungsträger kein Streit über die Leistungserbringung besteht, ist höchstrichterlich nicht geklärt.
Rechtskraft
Aus
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