L 7 AS 476/14 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 26 AS 405/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 476/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 20.02.2014 wird zurückgewiesen. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt S aus F Prozesskostenhilfe gewährt. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz über die Bewilligung von Regelbedarf in Höhe von 391 EUR monatlich ab Februar 2014 und über den Krankenversicherungsschutz. Insbesondere ist strittig, ob die Antragstellerin hilfebedürftig ist und ob die Antragstellerin mit dem Zeugen, Herrn T, eine Bedarfsgemeinschaft bildet.

Der erkennende Senat hatte bereits mit Beschluss vom 19.12.2013 (L 7 AS 2172/13 B ER) der Antragstellerin, geboren am 00.00.1958, den Regelbedarf für Dezember 2013 und Januar 2014 vorläufig im Rahmen der Folgenabwägung zuerkannt. Hierzu führte der Senat im Wesentlichen aus, die Zweifel an einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3a Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) der Antragstellerin mit Herrn T, geboren am 00.00.1952, seien im Klageverfahren oder aber bei einem Fortzahlungsantrag durch einen Hausbesuch des Außendienstes des Antragsgegners zu klären. Für den Anordnungsanspruch der Antragstellerin spräche die im Verfahren abgegebene eidesstattliche Versicherung.

Mit Schreiben vom 23.01.2014 und 21.02.2014 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin auf, zur Vermögenssituation des Zeugen T weitere Unterlagen einzureichen. Mit Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 29.01.2014 hat die Antragstellerin vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg die Weiterbewilligung der Leistungen in Form des Regelbedarf und des Krankenversicherungsschutzes ab Februar 2014 begehrt. Sie führe lediglich ein Untermietverhältnis gegenüber dem Zeugen. Es bestehe keine Bedarfsgemeinschaft. Dies hat die Antragstellerin auch durch eidesstattliche Versicherung bestätigt und einen handschriftlichen Untermietvertrag zur Gerichtsakte überreicht. Der Antragsgegner hat auf drei Versuche zur Wohnungsbesichtigung hingewiesen. Mitarbeiter des Außendienstes hätten weder die Antragstellerin noch den Zeugen angetroffen. Ein Termin für den 13.02.2014 sei durch Einwurf eines Hinweisschreibens in den Briefkasten am 12.02.2014 angekündigt worden.

Das SG hat mit Beschluss vom 20.02.2014 der Antragstellerin im Rahmen der Folgenabwägung Leistungen des Regelbedarfs einschließlich einer Versicherung bei der gesetzlichen Krankenkasse für die Zeit vom 01.02.2014 bis 30.04.2014 bewilligt. Das SG hat sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Ausführungen des erkennenden Senats im Beschluss vom 19.12.2013 gestützt.

Der Antragsgegner hat fristgerecht am 17.03.2014 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt. Die Antragstellerin teilte mit, der Zeuge verweigere den Hausbesuch durch die Mitarbeiter des Antragsgegners und die Offenlegung seiner Vermögensverhältnisse.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat zu Recht im Rahmen der Folgenabwägung der Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung in Form des Regelbedarfs nach §§ 7, 19, 20 SGB SGB II zugesprochen. Die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung war daher nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) festzustellen.

1) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO - ). Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, S. 927; Keller in: Meyer-Ladewig u.a., Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012 zu § 86 b Rn. 29 a).

2) Im Rahmen der Folgenabwägung sind der Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Hinblick auf den Regelbedarf vorläufig zu bewilligen gewesen.

a) Die Antragstellerin hat zunächst den Anordnungsgrund gemäß § 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft gemacht. Als Anordnungsgrund verlangt das Gesetz gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG für die Regelungsanordnung die Abwendung wesentlicher Nachteile. Das Eilverfahren dient der Vermeidung unzumutbarer Folgen oder irreparabler Schäden. Dies ist dann der Fall, wenn einem Antragsteller unter Berücksichtigung auch der im Streit befindlichen öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist. Im Hinblick auf den begehrten Regelbedarf ist der Anordnungsgrund zu bejahen.

b) Dem Gericht ist im Übrigen hinsichtlich des Anordnungsanspruchs eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, daher war im Rahmen einer Folgenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin zu entscheiden (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NVwZ-RR 2001, S. 694 (695)).

aa) Nach summarischer Prüfung sind zunächst die allgemeinen Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II gegeben. Die Antragstellerin ist am 23.12.1958 geboren und hat damit das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Die Antragstellerin ist erwerbsfähig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II. Die Antragstellerin hat im Übrigen auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II glaubhaft gemacht. Gegenteilige Anhaltspunkte liegen nicht vor und sind von dem Antragsgegner auch nicht in substantiierter Form geltend gemacht worden.

bb) Die Folgenabwägung ist geboten. Es ist abschließend noch nicht geklärt, ob die Antragstellerin i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3, 9 SGB II hilfebedürftig ist; insbesondere bestehen Zweifel, ob die Antragstellerin in einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II mit Herrn T steht und deshalb die Vermögensverhältnisse von Herrn T gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 SGB II als Partner der Antragstellerin bei deren Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen sind. Die Einkommens- und Vermögenssituation von Herrn T ist ungeklärt.

Für die Hilfebedürftigkeit und gegen eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft spricht die eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 29.01.2014. Hiermit hat die Antragstellerin erklärt, lediglich zur Untermiete bei Herrn T zu wohnen und weder eine Lebens- noch eine Liebesgemeinschaft mit ihm zu unterhalten. Außerdem hat die Antragstellerin an Eides statt versichert, über keine Einkünfte zu verfügen. Für die Darstellung sprechen auch der Untermietvertrag seit dem 01.09.2012 und die gegenseitigen Pflichten. Die Antragstellerin ist zur Pflege der Möbel in allen Räumen verpflichtet. Dieser Umstand spricht nicht für eine gegenseitige Einstandsgemeinschaft. Auch die vom Antragsgegner gegen die Bewilligung von Leistungen herangezogenen Argumente sprechen nicht in einem so gewichtigen Umfang gegen die Hilfebedürftigkeit und für eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und Herrn T, dass die Zweifel im Rahmen der Folgenabwägung überwiegen. Es besteht keine Pflicht, einen Hausbesuch im Rahmen der Feststellung des Vorliegens einer Partnerschaft zu dulden (Spellbrink/G. Becker in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB III, 3. Auflage 2013, § 7, Rn. 103 i.V.m Rixen/Weißenberger in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB III, 3. Auflage 2013, § 6, Rn. 31, der auf Art. 13 Grundgesetz (GG) hinweist). Die Weigerung, einen Hausbesuch zu dulden, darf daher im Rahmen der Beweiswürdigung nicht überbetont werden (Spellbrink/G. Becker in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB III, 3. Auflage 2013, § 7, Rn. 104). Soweit ein Dritter Auskünfte nicht erteilt, kann die Behörde ihn als Zeugen vernehmen; § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X und gegebenenfalls das Sozialgericht um entsprechende, auch eidliche Vernehmung ersuchen; § 22 SGB X (Blüggel in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB III, 3. Auflage 2013, § 60 Rn. 57). Dies ist nach summarischer Prüfung in dieser Form nicht geschehen.

Es sind daher die weiteren Erkenntnisquellen auszuschöpfen, bevor eine Beweislastentscheidung getroffen wird. Die Klärung der Zweifel kann gegenwärtig im Übrigen auch im Hauptsacheverfahren vor dem SG zum Aktenzeichen 26 AS 329/14 erfolgen. Zur Abklärung der bestehenden Zweifel am Verhältnis der Antragstellerin zu Herrn T wird das SG den Zeugen T zu vernehmen haben. Im Rahmen der Durchführung des Hauptsacheverfahrens ist der Zeuge zur Aussage verpflichtet. Dem SG stehen die durch §§ 118 SGG i.V.m § 380 ZPO eingeräumten Möglichkeiten - Ordnungsgeld, Ordnungshaft und Kostenerstattung - zur Seite, um den Zeugen zum Erscheinen und zur Aussage anzuhalten.

cc) Die Folgenabwägung fällt im vorliegenden Verfahren zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin sind unter Beachtung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II einerseits und der Wahrung der Würde des Menschen nach Art. 1 Grundgesetz (GG) andererseits in die Abwägung einzustellen, wobei nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn diese nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, zu verhindern ist (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Die Antragstellerin begehrt die Sicherstellung eines existentiellen Grundbedürfnisses, hier in Form des Regelbedarfs. Demgegenüber hat das Interesse der Antragsgegnerin, nicht die Hauptsache vorwegzunehmen und der Antragstellerin keine Leistungen zu gewähren, deren Voraussetzungen nach Abschluss des Hauptsachverfahrens sich als nicht vorliegend erweisen, zurückzutreten.

dd) Unter Berücksichtigung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II und der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei nicht möglicher abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Ausschöpfung des Rahmens des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II grundsätzlich gerechtfertigt (LSG NW, Beschluss vom 16.05.2013 - L 7 AS 742/13 B ER). Im Fall der Folgenabwägung ist es nicht ausgeschlossen, dass der Grundsicherungsträger seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand ist bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung zu tragen, indem die nachteiligen Folgen auf Seiten des Trägers zeitlich begrenzt werden (LSG NW, Beschluss vom 02. Dezember 2013 - L 2 AS 1726/13 B ER). Hierbei ist der Zeitraum der Bewilligung so zu wählen, dass die notwendigen Ermittlungen möglich erscheinen. Insoweit war die Beschränkung des Bewilligungszeitraums vom 01.02.2014 bis 30.04.2014 durch das SG nicht zu beanstanden.

3) Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 73a SGG, § 114 Zivilprozessordnung (ZPO).

4) Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved