S 8 SO 233/14 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 SO 233/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 29.08.2014 für zwölf Monate Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII für einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von 78,20 EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

Der Antragsteller wurde am 00.00.1967 geboren. Mit Bescheid vom 10.06.2014 gewährte die Deutsche Rentenversicherung Westfalen dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit befristet bis zum 31.05.2016. Die Rente beträgt monatlich 229,19 EUR. Am 18.06.2014 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Zuvor stand der Antragsteller im Leistungsbezug nach dem SGB II. In diesem Leistungssystem war ihm ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von 20 Prozent des Eckregelsatzes von 382 EUR, mithin 76,40 EUR monatlich gewährt worden. Ab dem 01.07.2014 wurden dem Antragsteller laufende Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII, aber ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung, gewährt. Am 08.08.2014 legte der Antragsteller eine Bestätigung des Allgemeinmediziners Dr. C vor, wonach er unter Zöliakie / Sprue leide und eine glutenfreie Diät benötige. Im weiteren Verlauf des Verfahrens legte er einen von der Frau Dr. Q ausgestellten Allergiepass vom 20.03.2008 vor, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.

Am 29.08.2014 hat der Antragsteller die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung führt er aus: Der Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung sei ihm in der Vergangenheit seit 2006 von den Jobcentern Weiden i.d.Opf., Hameln / Bad Pyrmont, Wesel und Paderborn gewährt worden. Nun werde ein histologischer Befund zum Nachweis der Zöliakie gefordert. Dieser sei nie gemacht worden, da er stark allergisch auf sämtliche Getreidesorten reagiere. Da man Zöliakie nur bei Entzündung der Darmschleimhaut feststellen könne und er hierfür mindestens vier Wochen Brot, Nudeln und andere glutenhaltige Getreidesorten essen müsse, werde er eine derartige Untersuchung nicht durchführen lassen. Es bestünden hierbei erhebliche Gesundheitsrisiken einschließlich einer Lebensgefahr für ihn. Sein Hausarzt Dr. C habe der Antragsgegnerin gegenüber aber bereits das Vorliegen einer Zöliakie bestätigt; zudem liege der Allergiepass im Original dort vor. Er benötige eine einstweilige Anordnung, um ausreichend Geld zum Essen zu haben.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm einen monatlichen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt sie aus: Zunächst lasse sich nach der derzeitigen Aktenlage nicht feststellen, dass ein Mehrbedarfszuschlag zu gewähren sei, da eine Zöliakie nicht nachgewiesen sei, da eine vorhandene Glutenunverträglichkeit nicht zwingend auf eine Zöliakie hinweise. Hinsichtlich der Gewebeprobe zum Nachweis der Erkrankung sei es zutreffend, dass der Antragsteller über einen Zeitraum von vier Wochen die unverträglichen Lebensmittel konsumieren müsse, dies gehe allerdings nicht mit einem unzumutbaren Gesundheitsrisiko einher. Ein solches bestünde vielmehr nur nach langfristigem, mehrjährigem Verzehr. Der Betreuer sei gebeten worden, die Unterlagen, die der Gewährung des Mehrbedarfs beim Jobcenter zugrunde gelegen hätten, vorzulegen. Sodann werde der Anspruch neu geprüft. Es lasse sich zudem nicht erkennen, dass dem Antragsteller durch die zeitliche Dauer der medizinischen Prüfung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, die nicht anders als durch die vorzeitige Bewilligung abgewendet werden könnten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie der Gerichtsakte zum Verfahren S 9 AS 1805/13 einschließlich der zugehörigen Verwaltungsakte des Jobcenters Paderborn, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG - Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht. Er hat nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung einen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach dem 3. Kapitel des SGB XII ab dem Eingang des Eilantrages bei Gericht, mithin dem 29.08.2014.

Gemäß §§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten können. Der Antragsteller kann seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, namentlich der Erwerbsminderungsrente, bestreiten. Er hat daher Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII, die er auch fortlaufend bezieht.

Gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Voraussetzung sind das Vorliegen medizinischer Gründe, das Erfordernis einer kostenaufwändigen Ernährung, ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung sowie die Kenntnis der betreffenden Person von dem medizinisch bedingten besonderen Ernährungsbedürfnis (vgl. zu § 21 Abs. 5 SGB II BSG, Urteil vom 20.02.2014, Az.: B 14 AS 65/12 R). Als Orientierungshilfe, welche Erkrankungen einen Mehrbedarf in welcher Höhe auslösen, können die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge aus dem Jahr 2008 herangezogen werden. Dies gilt insbesondere in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Hiervon ausgehend ist im vorliegenden Einzelfall unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhaltes eher wahrscheinlich, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung hat. Unabhängig davon, ob die Diagnose einer Zöliakie zutreffend ist, leidet der Antragsteller unter verschiedenen Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten. So hat der Antragsteller einen Allergiepass vorgelegt, in dem zum Teil hochgradige Allergien gegen Garnele, Haselnuss, Weizenmehl, Rohmilch, Glutamat, Casein, rohes Milcheiweiß, Roggenmehl, Gluten und Eigelb bestätigt sind. Der Allergiepass wurde ausgestellt von der Frau Dr. Q. Es ist nicht ersichtlich, dass die darin enthaltenen Feststellungen unzutreffend sind. Ein von der Bundesagentur für Arbeit erstelltes Gutachten des Dr. N zur Frage der Erwerbsfähigkeit bestätigt das Vorliegen einer Nahrungsmittelunverträglichkeit sowie einer chronischen Erkrankung der inneren Organe. Letztlich bestätigt der Hausarzt Dr. C auf dem Vordruck der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller eine glutenfreie Ernährung einhalten muss. Unabhängig von der Diagnose einer Zöliakie ist dies jedenfalls im Hinblick auf die im Allergiepass bestätigte Glutenunverträglichkeit plausibel. Eine glutenfreie Ernährung stellt nach den Mehrbedarfsempfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahr 2008 eine gegenüber der normalen Vollkosternährung kostenaufwändige Ernährung dar. Die hierfür in den Empfehlungen veranschlagten Mehrkosten betragen zwanzig Prozent des Eckregelsatzes und belaufen sich ausgehend von dem dem Antragsteller zu gewährenden Regelsatz in Höhe von 391 EUR auf 78,20 EUR monatlich. Der Mehrbedarf in Höhe von zwanzig Prozent des Eckregelsatzes wurde auch vom Jobcenter Paderborn dem Antragsteller zuletzt im Rahmen der dortigen Leistungsgewährung nach dem SGB II gewährt. Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung hält das Gericht diesen Betrag für ausreichend, aber auch für erforderlich, um dem Antragsteller die benötigte glutenfreie Ernährung zu ermöglichen.

Der Antragsteller hat für die Zeit ab Eingang des Eilantrages bei Gericht auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund verringern, je offensichtlicher der materiell-rechtliche Anspruch begründet ist. Hier hat der Antragsteller durch die Vorlage ärztlicher Unterlagen den besonderen Ernährungsbedarf glaubhaft gemacht. In Anbetracht der Tatsache, dass die Gefahr besteht, dass der Antragsteller tatsächliche Bedarfe im Bereich des Existenzminimums ohne den Mehrbedarf nicht decken kann, war dem Antrag zu entsprechen.

Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes, einer gegenwärtigen Notlage abzuhelfen, hat das Gericht den Zeitraum der zu erbringenden Leistungen auf die Zeit ab der Antragstellung beim Sozialgericht zunächst auf zwölf Monate begrenzt.

Soweit der Antragsteller die Gewährung des Mehrbedarfszuschlags auch für den Zeitraum vor Eingang des Eilantrages bei Gericht begehrt, so war der Antrag abzulehnen. Grundsätzlich kommt eine Verpflichtung zur Bewilligung von Leistungen vor dem Eingang der Beantragung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht nicht in Betracht. Dies beruht auf dem Grundsatz, dass Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege einer einstweiligen Anordnung nur zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage zu erfolgen hat und nicht rückwirkend zu bewilligen ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein Nachholbedarf plausibel und glaubhaft gemacht ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.08.2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B). Das ist vorliegend nicht der Fall. Nach Auffassung des Gerichts ist hier nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass sich aus einer möglicherweise rechtswidrigen Leistungsbewilligung für die Vergangenheit eine gegenwärtige Notlage ergibt. Insbesondere ist die Durchführung der besonderen Ernährung in der Vergangenheit nicht nachholbar. Mit der nunmehr angeordneten Gewährung des Mehrbedarfs wird der Antragsteller aber in die Lage versetzt, sich ab sofort bedarfsgerecht zu ernähren.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt das nahezu vollständige Obsiegen des Antragstellers.
Rechtskraft
Aus
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