Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 7 AS 935/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wegen mangelnder Mitwirkung des Leistungsempfängers versagtes Kindergeld ist mangels tatsächlichen Zuflusses nicht auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen.
1. Der Bescheid des Beklagten vom 23.08.2012 wird unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2012 geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, seinen Bescheid vom 18.06.2012 zurückzunehmen, soweit ab dem 02.07.2012 Kindergeld bei dem Kläger fiktiv als Einkommen berücksichtigt wurde.
2. Der Beklagte hat dem Kläger seine Kosten zu erstatten.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die fiktive Anrechnung tatsächlich nicht gezahlten Kindergeldes auf die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II des Klägers in der Zeit vom 01.08.2012 bis 31.10.2012 (Arbeitslosengeld II – AlG II).
Der 1991 geborene Kläger befand sich im Streitzeitraum bereits seit geraumer Zeit im Bezug von Leistungen nach dem SGB II; er lebte in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter C. Auf Antrag bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 04.04.2012 für die Zeit vom 01.05.2012 bis 31.10.2012 endgültig Leistungen nach dem SGB II, wobei der Beklagte für den Kläger Erwerbseinkünfte in Höhe von 200,00 EUR monatlich (350,00 EUR Arbeitsentgelt abzüglich 150,00 EUR an Freibeträgen) berücksichtigte. Kindergeld für den Kläger wurde nicht angerechnet. Die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes betrug hiernach 99,00 EUR, die der Kosten der Unterkunft und Heizung 66,00 EUR. Mit Bescheid vom 16.05.2012 änderte der Beklagte seine Entscheidung wegen eines Mehrbedarfes für die Mutter des Klägers.
In der Folge ging dem Beklagten der Bescheid der Familienkasse D vom 12.06.2012 über die Ablehnung des Kindergeldantrages vom April 2012 wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers zu. Mit Bescheid vom 18.06.2012 hob der Beklagte seine Leistungsbewilligung für den Kläger ab dem 01.07.2012 auf, da wegen der vom Beklagten nunmehr vorgenommenen fiktiven Anrechnung nicht geflossenen Kindergeldes seit dem Monat Juli 2012 ein Leistungsanspruch des Klägers nicht mehr bestand. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erkundigte sich mit Schreiben vom 06.08.2012, warum der Kläger seit Juli 2012 keine Leistungen mehr erhalte; zudem habe er die Beendigung seiner Tätigkeit im Lebensmittelhandel zum 31.03.2012 dem Beklagten rechtzeitig angezeigt. Daraufhin erließ der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid vom 23.08.2012, mit dem er dem Kläger nunmehr für die Zeit vom 01.08. bis 31.10.2012 erneut Leistungen nach dem SGB II bewilligte. Hierbei nahm er (wie bereits im Bescheid vom 18.6.2012) eine Anrechnung von Kindergeld auf die Leistungen in Höhe von 184,00 EUR monatlich abzüglich der Versicherungspauschale von 30,00 EUR monatlich (somit in Höhe von 154,00 EUR) vor, ohne dass Kindergeld tatsächlich an den Kläger geflossen war. Weitere Einkünfte des Klägers wurden nicht mehr angerechnet. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.10.2012 als unbegründet zurück. Das dem Kläger zustehende Kindergeld sei – selbst wenn es nicht gezahlt worden sei – fiktiv auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen, da der Kläger im Bewilligungsverfahren der Familienkasse nicht ausreichend mitgewirkt habe.
Hiergegen richtet sich die am 03.12.2012 bei dem Sozialgericht Kassel erhobene Klage.
Der Kläger hält die Leistungsbewilligung des Beklagten für falsch. Kindergeld sei vom Beklagten zu Unrecht angerechnet worden. Eine Anrechnung komme jedoch deswegen nicht in Betracht, weil es tatsächlich seit April 2011 nicht mehr gezahlt worden sei. Eine fiktive Anrechnung sei auch dann nicht möglich, wenn der Kläger tatsächlich seinen Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren der Familienkasse bei der Kindergeldgewährung nicht nachgekommen wäre.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24.08.2012 zu ändern, den Widerspruchsbescheid vom 31.10.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 18.06.2012 zurückzunehmen, soweit in der Zeit vom 01.07.2012 bis 31.10.2012 tatsächlich nicht gezahltes Kindergeld auf die Leistungen des Klägers vom 01.07. bis 31.10.2012 als Einkommen angerechnet wurden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Kläger müsse sich seine mangelnde Mitwirkungshandlung gegenüber der Familienkasse, die in dem mangelnden Nachweis seiner Ausbildungssuche bestanden habe, zurechnen lassen. Er habe seine Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber der Familienkasse nicht ausreichend erfüllt, was gemäß § 5 Abs. 3 SGB II dazu führe, das ihm ggfs. zustehende, jedoch nicht bewilligte, Kindergeld fiktiv auf seine Leistungen nach dem SGB II anzurechnen. Gemäß § 5 Abs. 3 SGB II sei von dem Beklagten bereits ein Antrag bei der Familienkasse auf Zahlung von Kindergeld gestellt worden; der Kläger habe jedoch die Bewilligung von Kindergeld letztlich verhindert, weil er seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei. Hierbei habe es sich auch um kurzfristig realisierbares Einkommen gehandelt, das daher fiktiv habe angerechnet werden dürfen. Hierbei handele es sich zu der fiktiven Anrechnung des Kindergeldes um eine verbindliche Weisungslage, von welcher der Beklagte nicht abweichen könne. Im Übrigen werde Bezug genommen auf das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 20.06.2011, Az. S 8 AS 1220/10; das unter Umständen entgegenstehende Urteil des Bundessozialgerichtes vom 29.11.2012, B 14 AS 161/11 R sei bekannt. Nach Stellungnahme der vorgesetzten Dienststelle des Beklagten (Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit) verblieb der Beklagte bei seiner Rechtsauffassung.
Das Gericht hat Auskünfte der Familienkasse D vom 15.04.2013 und 10.07.2013 eingeholt, wonach dem Kläger seit April 2011 wegen fehlender Anspruchsvoraussetzungen kein Kindergeld mehr bewilligt worden sei. Zuletzt sei Kindergeld für den Monat März 2011 gezahlt worden. Für das Jahr 2012 sei der Anspruch ungeprüft. Im Übrigen sei der Kindergeldantrag wegen fehlender Mitwirkung des Klägers im Juni 2012 abgelehnt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 23.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zu Unrecht hat der Beklagte nicht gezahltes Kindergeld als Einkommen in Höhe von 154,00 EUR monatlich bei dem Kläger auf seine Leistungen angerechnet.
1. Im vorliegenden Rechtsstreit bedarf zunächst der Streitgegenstand einer Auslegung. Mit Bescheid vom 18.06.2012 hatte der Beklagte dem Kläger mitgeteilt, dass ab dem 01.07.2012 keine Leistungen mehr gezahlt wurden. Es ist unklar geblieben, inwieweit der Kläger diesen Bescheid möglicherweise nicht erhalten hat. Jedenfalls wertet die Kammer das Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 06.08.2012, mit dem er nachfragte, warum seit Juli 2012 trotz Aufgabe seiner Beschäftigung zum 31.03.2012 keine Leistungen mehr gezahlt würden, als Antrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X iVm § 40 Abs. 1 SGB II. Denn der Kläger verfolgte offensichtlich das Ziel der Leistungsgewährung seit dem 01.07.2012, was in seiner Frage, warum ab diesem Zeitpunkt keine Leistungen mehr gezahlt wurden, hinreichend zum Ausdruck kam. Zwar hatte der Beklagte mit dem schließlich angefochtenen Bescheid vom 23.08.2012 Leistungen erst ab dem 01.08.2012 (und nicht bereits ab dem 1.7.2012) unter Anrechnung von Kindergeld ohne weitere Anrechnung des bis 31.03.2012 noch erzielten Erwerbseinkommens bewilligt. Bei verständiger Auslegung handelt es sich hierbei jedoch um eine inzidente Ablehnung der Leistungsbewilligung für die Zeit ab dem 01.07.2012, so dass die Kammer zu der Einschätzung gelangt ist, dass der Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren wegen des als Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auszulegenden Begehrens des Klägers auch die Zeit vom 01.07.2012 bis 31.07.2012 umfasst.
2. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X iVm § 40 Abs. 1 SGB II, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Rücknahmevoraussetzungen im Sinne dieser Vorschrift liegen für die Zeit ab dem 01.07.2012 bis zum Ende des Streitgegenstandes am 31.10.2012 vor. Denn der Beklagte hat zu Unrecht tatsächlich nicht zugeflossenes Kindergeld auf die Leistungen des Klägers angerechnet. Hierauf beruhte unter anderem die Leistungsaufhebung für die Zeit ab dem 01.07.2012, da der Kläger – unstreitig – seit Auszahlung des März-Einkommens 2012 über keine Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit oder sonstiger Einkünfte mehr verfügte. Der Änderungsbescheid vom 18.06.2012, mit dem der Beklagte seine Leistungsbewilligung ab dem 01.07.2012 letztlich aufgehoben hatte, ist demnach rechtswidrig im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II; auch sind dem Kläger hierdurch Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld II seit dem 01.07.2012 zu Unrecht nicht gewährt worden.
Der Bescheid vom 18.06.2012 ist bereits deswegen rechtswidrig, weil eine Änderungsvorschrift für die Zeit ab dem 01.07.2012 nicht greift. Es ergibt sich keine Verhältnisänderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II, wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Denn dem Kläger war vor dem 01.07.2012 kein Kindergeld gezahlt worden und hiernach ebenso wenig; eine Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse im Sinne der Vorschrift lag nicht vor. Allein der Ablehnungsbescheid der Familienkasse D. vom 12.06.2012 stellt keine Änderung der Verhältnisse dar. Eine wesentliche Änderung kann aber auch nicht in dem zugrundeliegenden Umstand gesehen werden (wie es offenbar die Weisungslage des Beklagten vorsehen mag), dass die Familienkasse mit Bescheid vom 12.06.2012 nunmehr wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers die Kindergeldbewilligung abgelehnt hatte. Denn in der mangelnden Mitwirkungshandlung gegenüber einem Dritten, hier der Familienkasse, liegt eine wesentliche Änderung nicht. Eine wesentliche Änderung kann auch nicht entsprechend der Rechtsauffassung des Beklagten darin gesehen werden, dass nunmehr wegen mangelnder Mitwirkungshandlungen des Klägers Kindergeld fiktiv anzurechnen wäre, weil es – hätte der Kläger entsprechend mitgewirkt – ihm als Einkommen gezahlt worden wäre, er somit seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II verringert hätte. Dieses Vorgehen mag der Weisungslage des Beklagten entsprechen, ist jedoch rechtswidrig. Denn maßgebend ist allein der tatsächliche Zufluss von anderen Leistungen oder von Einkommen. Denn es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass die Minderung eines Bedarfes anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.11.2012, B 14 AS 161/11 R, juris, RdNr. 18, mit weiteren umfangreichen Nachweisen; Schmidt in Eicher, Kommentar zum SGB II, § 11, RdNr. 26). Da dem Kläger keine Kindergeldleistungen zugeflossen sind, ist es bei ihm nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch tatsächlich nicht anzurechnen. Zweifel an diesem Ergebnis bestehen zur vollen Überzeugung der Kammer angesichts der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. auch BSG, Urteil vom 14.03.2012, B 14 AS 98/11 R, juris, RdNr. 16) nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Das Gericht hat die Berufung zum Hessischen Landessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da der Beklagte sich während des vorliegenden Rechtsstreits auf seine ihn bindende Weisungslage berufen hat.
2. Der Beklagte hat dem Kläger seine Kosten zu erstatten.
3. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die fiktive Anrechnung tatsächlich nicht gezahlten Kindergeldes auf die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II des Klägers in der Zeit vom 01.08.2012 bis 31.10.2012 (Arbeitslosengeld II – AlG II).
Der 1991 geborene Kläger befand sich im Streitzeitraum bereits seit geraumer Zeit im Bezug von Leistungen nach dem SGB II; er lebte in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter C. Auf Antrag bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 04.04.2012 für die Zeit vom 01.05.2012 bis 31.10.2012 endgültig Leistungen nach dem SGB II, wobei der Beklagte für den Kläger Erwerbseinkünfte in Höhe von 200,00 EUR monatlich (350,00 EUR Arbeitsentgelt abzüglich 150,00 EUR an Freibeträgen) berücksichtigte. Kindergeld für den Kläger wurde nicht angerechnet. Die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes betrug hiernach 99,00 EUR, die der Kosten der Unterkunft und Heizung 66,00 EUR. Mit Bescheid vom 16.05.2012 änderte der Beklagte seine Entscheidung wegen eines Mehrbedarfes für die Mutter des Klägers.
In der Folge ging dem Beklagten der Bescheid der Familienkasse D vom 12.06.2012 über die Ablehnung des Kindergeldantrages vom April 2012 wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers zu. Mit Bescheid vom 18.06.2012 hob der Beklagte seine Leistungsbewilligung für den Kläger ab dem 01.07.2012 auf, da wegen der vom Beklagten nunmehr vorgenommenen fiktiven Anrechnung nicht geflossenen Kindergeldes seit dem Monat Juli 2012 ein Leistungsanspruch des Klägers nicht mehr bestand. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erkundigte sich mit Schreiben vom 06.08.2012, warum der Kläger seit Juli 2012 keine Leistungen mehr erhalte; zudem habe er die Beendigung seiner Tätigkeit im Lebensmittelhandel zum 31.03.2012 dem Beklagten rechtzeitig angezeigt. Daraufhin erließ der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid vom 23.08.2012, mit dem er dem Kläger nunmehr für die Zeit vom 01.08. bis 31.10.2012 erneut Leistungen nach dem SGB II bewilligte. Hierbei nahm er (wie bereits im Bescheid vom 18.6.2012) eine Anrechnung von Kindergeld auf die Leistungen in Höhe von 184,00 EUR monatlich abzüglich der Versicherungspauschale von 30,00 EUR monatlich (somit in Höhe von 154,00 EUR) vor, ohne dass Kindergeld tatsächlich an den Kläger geflossen war. Weitere Einkünfte des Klägers wurden nicht mehr angerechnet. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.10.2012 als unbegründet zurück. Das dem Kläger zustehende Kindergeld sei – selbst wenn es nicht gezahlt worden sei – fiktiv auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen, da der Kläger im Bewilligungsverfahren der Familienkasse nicht ausreichend mitgewirkt habe.
Hiergegen richtet sich die am 03.12.2012 bei dem Sozialgericht Kassel erhobene Klage.
Der Kläger hält die Leistungsbewilligung des Beklagten für falsch. Kindergeld sei vom Beklagten zu Unrecht angerechnet worden. Eine Anrechnung komme jedoch deswegen nicht in Betracht, weil es tatsächlich seit April 2011 nicht mehr gezahlt worden sei. Eine fiktive Anrechnung sei auch dann nicht möglich, wenn der Kläger tatsächlich seinen Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren der Familienkasse bei der Kindergeldgewährung nicht nachgekommen wäre.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24.08.2012 zu ändern, den Widerspruchsbescheid vom 31.10.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 18.06.2012 zurückzunehmen, soweit in der Zeit vom 01.07.2012 bis 31.10.2012 tatsächlich nicht gezahltes Kindergeld auf die Leistungen des Klägers vom 01.07. bis 31.10.2012 als Einkommen angerechnet wurden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Kläger müsse sich seine mangelnde Mitwirkungshandlung gegenüber der Familienkasse, die in dem mangelnden Nachweis seiner Ausbildungssuche bestanden habe, zurechnen lassen. Er habe seine Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber der Familienkasse nicht ausreichend erfüllt, was gemäß § 5 Abs. 3 SGB II dazu führe, das ihm ggfs. zustehende, jedoch nicht bewilligte, Kindergeld fiktiv auf seine Leistungen nach dem SGB II anzurechnen. Gemäß § 5 Abs. 3 SGB II sei von dem Beklagten bereits ein Antrag bei der Familienkasse auf Zahlung von Kindergeld gestellt worden; der Kläger habe jedoch die Bewilligung von Kindergeld letztlich verhindert, weil er seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei. Hierbei habe es sich auch um kurzfristig realisierbares Einkommen gehandelt, das daher fiktiv habe angerechnet werden dürfen. Hierbei handele es sich zu der fiktiven Anrechnung des Kindergeldes um eine verbindliche Weisungslage, von welcher der Beklagte nicht abweichen könne. Im Übrigen werde Bezug genommen auf das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 20.06.2011, Az. S 8 AS 1220/10; das unter Umständen entgegenstehende Urteil des Bundessozialgerichtes vom 29.11.2012, B 14 AS 161/11 R sei bekannt. Nach Stellungnahme der vorgesetzten Dienststelle des Beklagten (Regionaldirektion Hessen der Bundesagentur für Arbeit) verblieb der Beklagte bei seiner Rechtsauffassung.
Das Gericht hat Auskünfte der Familienkasse D vom 15.04.2013 und 10.07.2013 eingeholt, wonach dem Kläger seit April 2011 wegen fehlender Anspruchsvoraussetzungen kein Kindergeld mehr bewilligt worden sei. Zuletzt sei Kindergeld für den Monat März 2011 gezahlt worden. Für das Jahr 2012 sei der Anspruch ungeprüft. Im Übrigen sei der Kindergeldantrag wegen fehlender Mitwirkung des Klägers im Juni 2012 abgelehnt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 23.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zu Unrecht hat der Beklagte nicht gezahltes Kindergeld als Einkommen in Höhe von 154,00 EUR monatlich bei dem Kläger auf seine Leistungen angerechnet.
1. Im vorliegenden Rechtsstreit bedarf zunächst der Streitgegenstand einer Auslegung. Mit Bescheid vom 18.06.2012 hatte der Beklagte dem Kläger mitgeteilt, dass ab dem 01.07.2012 keine Leistungen mehr gezahlt wurden. Es ist unklar geblieben, inwieweit der Kläger diesen Bescheid möglicherweise nicht erhalten hat. Jedenfalls wertet die Kammer das Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 06.08.2012, mit dem er nachfragte, warum seit Juli 2012 trotz Aufgabe seiner Beschäftigung zum 31.03.2012 keine Leistungen mehr gezahlt würden, als Antrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X iVm § 40 Abs. 1 SGB II. Denn der Kläger verfolgte offensichtlich das Ziel der Leistungsgewährung seit dem 01.07.2012, was in seiner Frage, warum ab diesem Zeitpunkt keine Leistungen mehr gezahlt wurden, hinreichend zum Ausdruck kam. Zwar hatte der Beklagte mit dem schließlich angefochtenen Bescheid vom 23.08.2012 Leistungen erst ab dem 01.08.2012 (und nicht bereits ab dem 1.7.2012) unter Anrechnung von Kindergeld ohne weitere Anrechnung des bis 31.03.2012 noch erzielten Erwerbseinkommens bewilligt. Bei verständiger Auslegung handelt es sich hierbei jedoch um eine inzidente Ablehnung der Leistungsbewilligung für die Zeit ab dem 01.07.2012, so dass die Kammer zu der Einschätzung gelangt ist, dass der Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren wegen des als Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auszulegenden Begehrens des Klägers auch die Zeit vom 01.07.2012 bis 31.07.2012 umfasst.
2. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X iVm § 40 Abs. 1 SGB II, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Rücknahmevoraussetzungen im Sinne dieser Vorschrift liegen für die Zeit ab dem 01.07.2012 bis zum Ende des Streitgegenstandes am 31.10.2012 vor. Denn der Beklagte hat zu Unrecht tatsächlich nicht zugeflossenes Kindergeld auf die Leistungen des Klägers angerechnet. Hierauf beruhte unter anderem die Leistungsaufhebung für die Zeit ab dem 01.07.2012, da der Kläger – unstreitig – seit Auszahlung des März-Einkommens 2012 über keine Einkünfte aus nicht selbständiger Tätigkeit oder sonstiger Einkünfte mehr verfügte. Der Änderungsbescheid vom 18.06.2012, mit dem der Beklagte seine Leistungsbewilligung ab dem 01.07.2012 letztlich aufgehoben hatte, ist demnach rechtswidrig im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II; auch sind dem Kläger hierdurch Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld II seit dem 01.07.2012 zu Unrecht nicht gewährt worden.
Der Bescheid vom 18.06.2012 ist bereits deswegen rechtswidrig, weil eine Änderungsvorschrift für die Zeit ab dem 01.07.2012 nicht greift. Es ergibt sich keine Verhältnisänderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II, wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Denn dem Kläger war vor dem 01.07.2012 kein Kindergeld gezahlt worden und hiernach ebenso wenig; eine Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse im Sinne der Vorschrift lag nicht vor. Allein der Ablehnungsbescheid der Familienkasse D. vom 12.06.2012 stellt keine Änderung der Verhältnisse dar. Eine wesentliche Änderung kann aber auch nicht in dem zugrundeliegenden Umstand gesehen werden (wie es offenbar die Weisungslage des Beklagten vorsehen mag), dass die Familienkasse mit Bescheid vom 12.06.2012 nunmehr wegen mangelnder Mitwirkung des Klägers die Kindergeldbewilligung abgelehnt hatte. Denn in der mangelnden Mitwirkungshandlung gegenüber einem Dritten, hier der Familienkasse, liegt eine wesentliche Änderung nicht. Eine wesentliche Änderung kann auch nicht entsprechend der Rechtsauffassung des Beklagten darin gesehen werden, dass nunmehr wegen mangelnder Mitwirkungshandlungen des Klägers Kindergeld fiktiv anzurechnen wäre, weil es – hätte der Kläger entsprechend mitgewirkt – ihm als Einkommen gezahlt worden wäre, er somit seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II verringert hätte. Dieses Vorgehen mag der Weisungslage des Beklagten entsprechen, ist jedoch rechtswidrig. Denn maßgebend ist allein der tatsächliche Zufluss von anderen Leistungen oder von Einkommen. Denn es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass die Minderung eines Bedarfes anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.11.2012, B 14 AS 161/11 R, juris, RdNr. 18, mit weiteren umfangreichen Nachweisen; Schmidt in Eicher, Kommentar zum SGB II, § 11, RdNr. 26). Da dem Kläger keine Kindergeldleistungen zugeflossen sind, ist es bei ihm nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch tatsächlich nicht anzurechnen. Zweifel an diesem Ergebnis bestehen zur vollen Überzeugung der Kammer angesichts der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. auch BSG, Urteil vom 14.03.2012, B 14 AS 98/11 R, juris, RdNr. 16) nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Das Gericht hat die Berufung zum Hessischen Landessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da der Beklagte sich während des vorliegenden Rechtsstreits auf seine ihn bindende Weisungslage berufen hat.
Rechtskraft
Aus
Login
HES
Saved