Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
5
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 13 KR 988/13
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 SO 185/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei der Geltendmachung von Kostenersatzansprüchen gegen Erben nach § 102 SGB XII durch den Sozialhilfeträger ist regelmäßig kein Ermessen auszuüben, wenn alle Erben in gleicher Höhe entsprechend ihrem Erbteil in Anspruch genommen werden.
1. Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 15.09.2014 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht den Kläger als Erbe zum Kostenersatz in Höhe von 5.046,93 EUR für Sozialhilfeleistungen, die er der Erblasserin I S (S) in der Zeit vom 01.07.2001 bis 02.03.2008 gewährt hatte, in Anspruch genommen hat.
Die 1957 geborene und am 2008 verstorbene S, die behindert war, beantragte im Juli 2001, vertreten durch ihren Bruder H S , der sie betreute, die Gewährung von Eingliederungshilfe. Mit Bescheid vom 10.01.2002 bewilligte der Beklagte ihr Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte nach § 40 Abs. 1 Nr. 7 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) i.V.m. § 41 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ab dem Aufnahmetag sowie Arbeitsförderungsgeld nach § 43 SGB IX. Die Hilfe wurde als erweiterte Hilfe nach § 43 Abs. 2 Nr. 7 BSHG gewährt. Der Beklagte teilte S in diesem Bescheid mit, dass die Bewilligung der Leistung vorerst bis zum Ende des Aufnahmemonats gelte und die darauffolgenden monatlichen Zahlungen jeweils als eine Weiterbewilligung der Hilfe anzusehen seien. S habe lediglich einen Kostenbetrag für das Mittagessen in Höhe von monatlich 40,00 EUR zu tragen. S erhielt vom 01.07.2001 bis zum 02.03.2008 die bewilligten Leistungen der Eingliederungshilfe zum Besuch des Arbeitsbereichs der Werkstatt für behinderte Menschen der S in O.
Der Kläger ist Erbe der S zu 1/16. Der Wert des Nachlasses betrug 293.596,50 EUR abzüglich 3.362,21 EUR an Nachlassverbindlichkeiten. Mit Bescheid vom 06.07.2010 forderte der Beklagte vom Kläger Kostenersatz in Höhe von 5.046,93 EUR gemäß § 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Er teilte dem Kläger mit, die Aufwendungen an Eingliederungshilfe hätten in der Zeit vom 01.07.2001 bis 02.03.2008 nach Abzug des Kostenbeitrags für das Mittagessen und des Freibetrags nach § 102 Abs. 1 SGB XII 82.904,97 EUR betragen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 102 Abs. 3 SGB XII verbleibe ein Betrag von 80.750,97 EUR. Bei der Kostenersatzforderung handele es sich um eine Nachlassverbindlichkeit. Gefordert werde vom Kläger, entsprechend dessen Anteil am Nachlass, 1/16 der Gesamtforderung. Gründe, deretwegen die Inanspruchnahme des Klägers eine besondere Härte i.S.d. § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII bedeuten würde, seien nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend: Eine Kostenerstattungspflicht könne nicht in Betracht kommen, da der Beklagte S zu Unrecht Eingliederungshilfe gewährt habe. S habe bereits am 21.08.2002 ihren Bruder H S beerbt, so dass der Beklagte die Zahlungen hätte einstellen müssen. Das ererbte Vermögen sei mit 41.922,00 EUR Erbschaftssteuer belastet worden.
Durch Widerspruchsbescheid vom 07.10.2011 (zugestellt am 12.10.2011) wies das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, § 102 SGB XII regele eine eigenständige, d.h. vom Bestehen von Ersatzansprüchen gegenüber dem Leistungsberechtigten unabhängige Erbenhaftung, die erst mit dem Tod des Erblassers entstehe. Die Erben seien auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn der Leistungsberechtigte wie hier die Verstorbene für die Eingliederungshilfe nach § 92 Abs. 2 Nr. 7 SGB XII – kein Einkommen und Vermögen einzusetzen gehabt habe. Eine besondere Härte liege hier nicht vor. Als Miterbe könne der Kläger über seinen Anteil am Nachlass verfügen bzw. jederzeit die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft verlangen.
Hiergegen hat der Kläger am 09.11.2011 Klage erhoben. Er hat im Wesentlichen geltend gemacht, die Bewilligung der Eingliederungshilfe an S sei im vorliegenden Rechtsstreit auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen; die Höhe der von der Beklagten geltend gemachten Forderung sei nicht nachvollziehbar.
Durch Gerichtsbescheid vom 15.09.2014 hat das Sozialgericht Speyer den Bescheid vom 06.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2011 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei ermessensfehlerhaft. Es liege ein Ermessensausfall, zumindest aber ein Ermessensfehlgebrauch vor. Bei der Inanspruchnahme eines Miterben nach § 102 SGB XII komme dem Sozialhilfeträger grundsätzlich ein Auswahlermessen dahingehend zu, welchen der Miterben er in welcher Höhe in Anspruch nehme. Eine Ermessensbetätigung sei auch dann erforderlich, wenn ein Miterbe nur in Höhe des Prozentsatzes in Anspruch genommen werden solle, der seinem Anteil an der Erbschaft entspreche. Auch in dieser Konstellation könnten Gründe dafür sprechen, ihn zu einem höheren oder geringeren Betrag, als er dem prozentualen Erbteil entspreche, oder überhaupt nicht heranzuziehen. In die Ermessenserwägungen seien alle Umstände des Einzelfalls einzustellen, beispielsweise eine etwaige Privilegierung eines oder mehrerer Erben, eine bereits erfolgte Verteilung oder ein Verbrauch des Erbes, der Erbteil sowie besondere Leistungen eines Erben gegenüber dem Leistungsempfänger. Nur eine Gesamtschau der Situation aller Erben ermögliche eine hinreichende Prüfung der individuellen Zahlungspflicht. (Hinweis auf Bundessozialgericht – BSG – 23.08.2013 – B 8 SO 7/12 R). Vorliegend sei von einem Ermessensausfall auszugehen, zumindest liege ein Ermessensfehlgebrauch vor, da der Sachverhalt zu den Verhältnissen der Miterben untereinander unzureichend ermittelt worden sei. Eine Ermessensreduzierung auf Null liege nicht vor.
Hiergegen hat der Beklagte am 14.10.2014 Berufung eingelegt. Er trägt vor: Nach dem Sachverhalt des Urteils des BSG vom 23.8.2013 (B 8 SO 7/12 R) habe der seinerzeit beklagte Sozialhilfeträger allein von der damaligen Klägerin als Miterbin Kostenersatz in voller Höhe verlangt, während er die anderen Miterben nicht in Anspruch genommen habe. Das BSG habe entscheidend darauf abgestellt, bei einer solchen Fallgestaltung bestehe die Gefahr, dass wegen des möglichen Rückgriffs nach § 426 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegenüber den anderen Erben eine gemäß § 102 SGB XII bestehende Privilegierung eines Erben unterlaufen werde. Der Sozialhilfeträger habe daher in einem solchen Fall eine Ermessensentscheidung ausgehend von den Verhältnissen des Einzelfalls zu treffen, um eine ungerechtfertigte Mehrbelastung anderer Erben zu verhindern. Da der Kläger demgegenüber, ebenso wie seine Miterben, lediglich seinem prozentualen Anteil am Erbe entsprechend in Anspruch genommen werde, bestehe vorliegend nicht die Möglichkeit einer ungerechtfertigten Mehrbelastung anderer Erben. Werde jeder Erbe nur mit seinem Erbteil zum Kostenersatz herangezogen, bestehe nämlich kein Anspruch auf Ausgleich im Innenverhältnis unter den Erben. Damit erübrige sich auch eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers. Auch aus dem Gesetzestext lasse sich nicht entnehmen, dass in einem Fall wie dem vorliegenden eine Ermessensentscheidung hätte getroffen werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 15.09.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat Bezug auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist der Erbe der leistungsberechtigten Person oder ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners, falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben, vorbehaltlich des Absatzes 5 zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Hierbei handelt es sich um eine selbstständige Erbenhaftung. Mit der Regelung der selbstständigen Erbenhaftung wollte der Gesetzgeber erreichen, dass sich Vermögensschutzvorschriften oder sonstige Privilegierungen des Hilfeempfängers nicht auch zu Gunsten der Erben auswirken. Der Gesetzgeber sieht es als nicht gerechtfertigt an, dass den Erben der Hilfeempfänger nur deshalb zu Lasten der Allgemeinheit Vermögen zuwachsen soll, weil dem Hilfeempfänger und seinen nächsten Angehörigen selbst der Einsatz dieses Vermögens nicht zugemutet worden ist (vgl. Simon in jurisPK § 102 SGB XII Rn. 10). Der Kläger gehört als Erbe der S zum ersatzpflichtigen Personenkreis. Bei den geforderten Leistungen handelt es sich um Eingliederungshilfe, die gemäß § 8 Nr. 4 SGB XII zu den ersatzpflichtigen Kosten der Sozialhilfe gehört. Das nach § 43 SGB IX geleistete Arbeitsförderungsgeld wurde vom Beklagten nicht verlangt.
Die selbstständige Erbenhaftung setzt voraus, dass die Sozialhilfeleistung zu Recht erbracht worden ist (vgl. Conradis in Beritz-Harder/Conradis/Thie, LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, § 102 Rn. 2 m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall. Durch Bescheid vom 10.01.2002 wurde S Eingliederungshilfe in der Form der Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte ab 01.07.2001 gewährt. Rechtsgrundlage war § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BSHG i.V.m. § 41 SGB IX. Es wurde festgestellt, dass die darauffolgenden monatlichen Zahlungen als Weiterbewilligung der Hilfe anzu¬sehen sind. Die Rechtsgrundlage für die Gewährung der Eingliederungshilfe ab 01.01.2005 war § 54 SGB XII i.V.m. § 41 SGB IX. S war lediglich zur Zahlung der Kosten für das Mittagessen verpflichtet, ein darüber hinausgehender Einsatz von Einkommen und Vermögen kam nicht in Betracht (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, S. 2 BSHG, § 92 Abs. 2 Nr. 7, S. 2 SGB XII). Daher war auch das Vermögen, das S als Erbin des H S erlangt hat, nicht einzusetzen. Die Leistungen an S wurden somit rechtmäßig gewährt. Die geltend gemachten Kosten sind auch gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 SGB XII innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden und übersteigen nicht das Dreifache des Grundbetrags nach § 85 Abs. 1 SGB XII. Die Berechnung der Höhe der Kosten ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie ergibt sich aus der Kostenzusammenstellung des Beklagten (Bl. 112 ff. Verwaltungsakte VA), die mit den Rechnungen der S GmbH (Bl. 170 ff. VA) übereinstimmt. Das nach § 43 SGB IX gezahlte Arbeitsförderungsgeld wurde dabei nicht berücksichtigt. Die Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist nicht nach § 102 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen. Insbesondere liegt keine besondere Härte i.S.d. § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII vor.
Der angefochtene Bescheid ist auch nicht wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig. Miterben haften als Gesamtschuldner gemäß § 2058 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), jeder einzelne Miterbe haftet nach § 421 BGB persönlich (vgl. BSG 23.08.2013 – B 8 SO 7/12 R, juris, Rn. 20). Der Gläubiger kann zwar gemäß § 421 BGB die Leistung "nach seinem Belieben" von jedem Schuldner ganz oder zum Teil fordern, dieses "Wahlrecht" ist jedoch im öffentlichen Recht insoweit eingeschränkt, als an die Stelle des "freien Beliebens" ein pflichtgemäßes Ermessen bei der Auswahl des Gesamtschuldners tritt. In der Regel hat der Sozialleistungsträger dabei nur das Willkürverbot zu beachten oder eine offenbare Unbilligkeit zu berücksichtigen (BVerwG 22.01.1993 – 8 C 57/91; BSG a.a.O., Rn. 22). Dies gilt allerdings nicht für die gesamtschuldnerische Erbenhaftung nach § 102 SGB XII (BSG, a.a.O., Rn. 23 ff. zur Vorgängervorschrift des § 92c BSHG). Diese Bestimmung dient einer möglichst umfassenden "Refinanzierung" aufgewendeter Sozialhilfekosten und verfolgt – anders als sonstige Regelungen – auch bereicherungsrechtliche Ziele. Daher muss der Sozialhilfeträger im Rahmen der Erbenhaftung bei einer Mehrheit von Erben, die mit dem Nachlass als Gesamtschuldner für an den Erblasser geleistete Sozialhilfe haften, regelmäßig Ermessen ausüben, welchen Gesamtschuldner und in welcher Höhe er ihn in Anspruch nimmt (BSG, a.a.O., Leitsatz; vgl. hierzu Bieback, juris-PR – SozR 13/ 2014 Anm. 4; Simon juris-PK § 102 SGB XII Rn. 24 ff; kritisch Weber, SGb 2014, 683). Im der Entscheidung des Bundessozialgerichts zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte der Sozialhilfeträger ausschließlich die Miterbin in Anspruch genommen, die sich um die Abwicklung des Nachlasses gekümmert hatte. Das BSG hat ausgeführt, nur eine Gesamtschau der Situation aller Erben werde deren individueller Zahlungspflicht gerecht. Sei einer von mehreren Erben privilegiert, bestehe wegen der gesamtschuldnerischen Haftung zumindest die Gefahr, dass privilegierte Personen im Wege des Rückgriffs nach § 426 BGB (doch) in Anspruch genommen würden. Wolle man den Privilegierungstatbeständen gerecht werden, müsse eine Auswahlentscheidung verlangt werden, die nicht nur durch das Willkürverbot oder eine offenbare Unbilligkeit begrenzt sein könne (BSG, a.a.O., Rn. 24).
Von dieser Fallgestaltung unterscheidet sich indessen der hier zu entscheidende Sachverhalt. Der Kläger wurde lediglich in der Höhe seines Erbanteils in Anspruch genommen. Dies gilt auch für die übrigen Miterben. Eine besondere Härte für den Kläger oder sonstige besondere Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten, sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist die Vorgehensweise des Beklagten im konkreten Fall rechtlich nicht zu beanstanden. Ein Ermessensfehler liegt somit nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht den Kläger als Erbe zum Kostenersatz in Höhe von 5.046,93 EUR für Sozialhilfeleistungen, die er der Erblasserin I S (S) in der Zeit vom 01.07.2001 bis 02.03.2008 gewährt hatte, in Anspruch genommen hat.
Die 1957 geborene und am 2008 verstorbene S, die behindert war, beantragte im Juli 2001, vertreten durch ihren Bruder H S , der sie betreute, die Gewährung von Eingliederungshilfe. Mit Bescheid vom 10.01.2002 bewilligte der Beklagte ihr Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte nach § 40 Abs. 1 Nr. 7 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) i.V.m. § 41 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ab dem Aufnahmetag sowie Arbeitsförderungsgeld nach § 43 SGB IX. Die Hilfe wurde als erweiterte Hilfe nach § 43 Abs. 2 Nr. 7 BSHG gewährt. Der Beklagte teilte S in diesem Bescheid mit, dass die Bewilligung der Leistung vorerst bis zum Ende des Aufnahmemonats gelte und die darauffolgenden monatlichen Zahlungen jeweils als eine Weiterbewilligung der Hilfe anzusehen seien. S habe lediglich einen Kostenbetrag für das Mittagessen in Höhe von monatlich 40,00 EUR zu tragen. S erhielt vom 01.07.2001 bis zum 02.03.2008 die bewilligten Leistungen der Eingliederungshilfe zum Besuch des Arbeitsbereichs der Werkstatt für behinderte Menschen der S in O.
Der Kläger ist Erbe der S zu 1/16. Der Wert des Nachlasses betrug 293.596,50 EUR abzüglich 3.362,21 EUR an Nachlassverbindlichkeiten. Mit Bescheid vom 06.07.2010 forderte der Beklagte vom Kläger Kostenersatz in Höhe von 5.046,93 EUR gemäß § 102 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Er teilte dem Kläger mit, die Aufwendungen an Eingliederungshilfe hätten in der Zeit vom 01.07.2001 bis 02.03.2008 nach Abzug des Kostenbeitrags für das Mittagessen und des Freibetrags nach § 102 Abs. 1 SGB XII 82.904,97 EUR betragen. Nach Abzug des Freibetrags nach § 102 Abs. 3 SGB XII verbleibe ein Betrag von 80.750,97 EUR. Bei der Kostenersatzforderung handele es sich um eine Nachlassverbindlichkeit. Gefordert werde vom Kläger, entsprechend dessen Anteil am Nachlass, 1/16 der Gesamtforderung. Gründe, deretwegen die Inanspruchnahme des Klägers eine besondere Härte i.S.d. § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII bedeuten würde, seien nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend: Eine Kostenerstattungspflicht könne nicht in Betracht kommen, da der Beklagte S zu Unrecht Eingliederungshilfe gewährt habe. S habe bereits am 21.08.2002 ihren Bruder H S beerbt, so dass der Beklagte die Zahlungen hätte einstellen müssen. Das ererbte Vermögen sei mit 41.922,00 EUR Erbschaftssteuer belastet worden.
Durch Widerspruchsbescheid vom 07.10.2011 (zugestellt am 12.10.2011) wies das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, § 102 SGB XII regele eine eigenständige, d.h. vom Bestehen von Ersatzansprüchen gegenüber dem Leistungsberechtigten unabhängige Erbenhaftung, die erst mit dem Tod des Erblassers entstehe. Die Erben seien auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn der Leistungsberechtigte wie hier die Verstorbene für die Eingliederungshilfe nach § 92 Abs. 2 Nr. 7 SGB XII – kein Einkommen und Vermögen einzusetzen gehabt habe. Eine besondere Härte liege hier nicht vor. Als Miterbe könne der Kläger über seinen Anteil am Nachlass verfügen bzw. jederzeit die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft verlangen.
Hiergegen hat der Kläger am 09.11.2011 Klage erhoben. Er hat im Wesentlichen geltend gemacht, die Bewilligung der Eingliederungshilfe an S sei im vorliegenden Rechtsstreit auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen; die Höhe der von der Beklagten geltend gemachten Forderung sei nicht nachvollziehbar.
Durch Gerichtsbescheid vom 15.09.2014 hat das Sozialgericht Speyer den Bescheid vom 06.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2011 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei ermessensfehlerhaft. Es liege ein Ermessensausfall, zumindest aber ein Ermessensfehlgebrauch vor. Bei der Inanspruchnahme eines Miterben nach § 102 SGB XII komme dem Sozialhilfeträger grundsätzlich ein Auswahlermessen dahingehend zu, welchen der Miterben er in welcher Höhe in Anspruch nehme. Eine Ermessensbetätigung sei auch dann erforderlich, wenn ein Miterbe nur in Höhe des Prozentsatzes in Anspruch genommen werden solle, der seinem Anteil an der Erbschaft entspreche. Auch in dieser Konstellation könnten Gründe dafür sprechen, ihn zu einem höheren oder geringeren Betrag, als er dem prozentualen Erbteil entspreche, oder überhaupt nicht heranzuziehen. In die Ermessenserwägungen seien alle Umstände des Einzelfalls einzustellen, beispielsweise eine etwaige Privilegierung eines oder mehrerer Erben, eine bereits erfolgte Verteilung oder ein Verbrauch des Erbes, der Erbteil sowie besondere Leistungen eines Erben gegenüber dem Leistungsempfänger. Nur eine Gesamtschau der Situation aller Erben ermögliche eine hinreichende Prüfung der individuellen Zahlungspflicht. (Hinweis auf Bundessozialgericht – BSG – 23.08.2013 – B 8 SO 7/12 R). Vorliegend sei von einem Ermessensausfall auszugehen, zumindest liege ein Ermessensfehlgebrauch vor, da der Sachverhalt zu den Verhältnissen der Miterben untereinander unzureichend ermittelt worden sei. Eine Ermessensreduzierung auf Null liege nicht vor.
Hiergegen hat der Beklagte am 14.10.2014 Berufung eingelegt. Er trägt vor: Nach dem Sachverhalt des Urteils des BSG vom 23.8.2013 (B 8 SO 7/12 R) habe der seinerzeit beklagte Sozialhilfeträger allein von der damaligen Klägerin als Miterbin Kostenersatz in voller Höhe verlangt, während er die anderen Miterben nicht in Anspruch genommen habe. Das BSG habe entscheidend darauf abgestellt, bei einer solchen Fallgestaltung bestehe die Gefahr, dass wegen des möglichen Rückgriffs nach § 426 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegenüber den anderen Erben eine gemäß § 102 SGB XII bestehende Privilegierung eines Erben unterlaufen werde. Der Sozialhilfeträger habe daher in einem solchen Fall eine Ermessensentscheidung ausgehend von den Verhältnissen des Einzelfalls zu treffen, um eine ungerechtfertigte Mehrbelastung anderer Erben zu verhindern. Da der Kläger demgegenüber, ebenso wie seine Miterben, lediglich seinem prozentualen Anteil am Erbe entsprechend in Anspruch genommen werde, bestehe vorliegend nicht die Möglichkeit einer ungerechtfertigten Mehrbelastung anderer Erben. Werde jeder Erbe nur mit seinem Erbteil zum Kostenersatz herangezogen, bestehe nämlich kein Anspruch auf Ausgleich im Innenverhältnis unter den Erben. Damit erübrige sich auch eine Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers. Auch aus dem Gesetzestext lasse sich nicht entnehmen, dass in einem Fall wie dem vorliegenden eine Ermessensentscheidung hätte getroffen werden müssen.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 15.09.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat Bezug auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist der Erbe der leistungsberechtigten Person oder ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners, falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben, vorbehaltlich des Absatzes 5 zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet. Hierbei handelt es sich um eine selbstständige Erbenhaftung. Mit der Regelung der selbstständigen Erbenhaftung wollte der Gesetzgeber erreichen, dass sich Vermögensschutzvorschriften oder sonstige Privilegierungen des Hilfeempfängers nicht auch zu Gunsten der Erben auswirken. Der Gesetzgeber sieht es als nicht gerechtfertigt an, dass den Erben der Hilfeempfänger nur deshalb zu Lasten der Allgemeinheit Vermögen zuwachsen soll, weil dem Hilfeempfänger und seinen nächsten Angehörigen selbst der Einsatz dieses Vermögens nicht zugemutet worden ist (vgl. Simon in jurisPK § 102 SGB XII Rn. 10). Der Kläger gehört als Erbe der S zum ersatzpflichtigen Personenkreis. Bei den geforderten Leistungen handelt es sich um Eingliederungshilfe, die gemäß § 8 Nr. 4 SGB XII zu den ersatzpflichtigen Kosten der Sozialhilfe gehört. Das nach § 43 SGB IX geleistete Arbeitsförderungsgeld wurde vom Beklagten nicht verlangt.
Die selbstständige Erbenhaftung setzt voraus, dass die Sozialhilfeleistung zu Recht erbracht worden ist (vgl. Conradis in Beritz-Harder/Conradis/Thie, LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, § 102 Rn. 2 m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall. Durch Bescheid vom 10.01.2002 wurde S Eingliederungshilfe in der Form der Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte ab 01.07.2001 gewährt. Rechtsgrundlage war § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BSHG i.V.m. § 41 SGB IX. Es wurde festgestellt, dass die darauffolgenden monatlichen Zahlungen als Weiterbewilligung der Hilfe anzu¬sehen sind. Die Rechtsgrundlage für die Gewährung der Eingliederungshilfe ab 01.01.2005 war § 54 SGB XII i.V.m. § 41 SGB IX. S war lediglich zur Zahlung der Kosten für das Mittagessen verpflichtet, ein darüber hinausgehender Einsatz von Einkommen und Vermögen kam nicht in Betracht (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, S. 2 BSHG, § 92 Abs. 2 Nr. 7, S. 2 SGB XII). Daher war auch das Vermögen, das S als Erbin des H S erlangt hat, nicht einzusetzen. Die Leistungen an S wurden somit rechtmäßig gewährt. Die geltend gemachten Kosten sind auch gemäß § 102 Abs. 1 S. 2 SGB XII innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden und übersteigen nicht das Dreifache des Grundbetrags nach § 85 Abs. 1 SGB XII. Die Berechnung der Höhe der Kosten ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie ergibt sich aus der Kostenzusammenstellung des Beklagten (Bl. 112 ff. Verwaltungsakte VA), die mit den Rechnungen der S GmbH (Bl. 170 ff. VA) übereinstimmt. Das nach § 43 SGB IX gezahlte Arbeitsförderungsgeld wurde dabei nicht berücksichtigt. Die Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist nicht nach § 102 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen. Insbesondere liegt keine besondere Härte i.S.d. § 102 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII vor.
Der angefochtene Bescheid ist auch nicht wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig. Miterben haften als Gesamtschuldner gemäß § 2058 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), jeder einzelne Miterbe haftet nach § 421 BGB persönlich (vgl. BSG 23.08.2013 – B 8 SO 7/12 R, juris, Rn. 20). Der Gläubiger kann zwar gemäß § 421 BGB die Leistung "nach seinem Belieben" von jedem Schuldner ganz oder zum Teil fordern, dieses "Wahlrecht" ist jedoch im öffentlichen Recht insoweit eingeschränkt, als an die Stelle des "freien Beliebens" ein pflichtgemäßes Ermessen bei der Auswahl des Gesamtschuldners tritt. In der Regel hat der Sozialleistungsträger dabei nur das Willkürverbot zu beachten oder eine offenbare Unbilligkeit zu berücksichtigen (BVerwG 22.01.1993 – 8 C 57/91; BSG a.a.O., Rn. 22). Dies gilt allerdings nicht für die gesamtschuldnerische Erbenhaftung nach § 102 SGB XII (BSG, a.a.O., Rn. 23 ff. zur Vorgängervorschrift des § 92c BSHG). Diese Bestimmung dient einer möglichst umfassenden "Refinanzierung" aufgewendeter Sozialhilfekosten und verfolgt – anders als sonstige Regelungen – auch bereicherungsrechtliche Ziele. Daher muss der Sozialhilfeträger im Rahmen der Erbenhaftung bei einer Mehrheit von Erben, die mit dem Nachlass als Gesamtschuldner für an den Erblasser geleistete Sozialhilfe haften, regelmäßig Ermessen ausüben, welchen Gesamtschuldner und in welcher Höhe er ihn in Anspruch nimmt (BSG, a.a.O., Leitsatz; vgl. hierzu Bieback, juris-PR – SozR 13/ 2014 Anm. 4; Simon juris-PK § 102 SGB XII Rn. 24 ff; kritisch Weber, SGb 2014, 683). Im der Entscheidung des Bundessozialgerichts zu Grunde liegenden Sachverhalt hatte der Sozialhilfeträger ausschließlich die Miterbin in Anspruch genommen, die sich um die Abwicklung des Nachlasses gekümmert hatte. Das BSG hat ausgeführt, nur eine Gesamtschau der Situation aller Erben werde deren individueller Zahlungspflicht gerecht. Sei einer von mehreren Erben privilegiert, bestehe wegen der gesamtschuldnerischen Haftung zumindest die Gefahr, dass privilegierte Personen im Wege des Rückgriffs nach § 426 BGB (doch) in Anspruch genommen würden. Wolle man den Privilegierungstatbeständen gerecht werden, müsse eine Auswahlentscheidung verlangt werden, die nicht nur durch das Willkürverbot oder eine offenbare Unbilligkeit begrenzt sein könne (BSG, a.a.O., Rn. 24).
Von dieser Fallgestaltung unterscheidet sich indessen der hier zu entscheidende Sachverhalt. Der Kläger wurde lediglich in der Höhe seines Erbanteils in Anspruch genommen. Dies gilt auch für die übrigen Miterben. Eine besondere Härte für den Kläger oder sonstige besondere Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten, sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist die Vorgehensweise des Beklagten im konkreten Fall rechtlich nicht zu beanstanden. Ein Ermessensfehler liegt somit nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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