L 4 AS 149/13

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 61 AS 1717/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 149/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger beansprucht auf der Grundlage des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2010 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung, alternativ die Kosten für einen Fitnessclub zwecks Gewichtsreduzierung, sowie einen Mehrbedarf für Pflegemittel gegen Neurodermitis bzw. Juckreiz seiner Haut.

Der 1961 geborene alleinstehende Kläger ist seit längerem hilfebedürftig und bezieht laufend Leistungen nach dem SGB II von dem Beklagten. In dem betreffenden Zeitraum im ersten Halbjahr 2010 war er erwerbsfähig und schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50.

Am 26. Januar 2010 beantragte er bei dem Beklagten die Anerkennung eines Mehrbedarfs für eine kostenaufwändige Ernährung. Hierzu legte er eine Bescheinigung der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. S. vom 4. Januar 2009 vor, in der es heißt, dass der Kläger an Bluthochdruck leide und eine salz-, fett- und zuckerarme Diät zur Sekundärprophylaxe bis zum 31. Dezember 2009 erforderlich sei. Gleichzeitig legte er eine an seine Krankenkasse gerichtete Bescheinigung der Ärztin vor, in der angegeben ist, dass die Teilnahme des Klägers an einem Ausdauertraining aus ärztlicher Sicht zu empfehlen sei.

Daraufhin holte der Beklagte eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes ein, dessen Ärztin mit Schreiben vom 3. März 2010 äußerte, dass eine Krankenkostzulage nicht befürwortet werde. Eine natriumdefinierte, lipidsenkende und purinreduzierte Diätkost werde zwar empfohlen, dies führe aber nicht zwangsläufig zu höheren Kosten.

Mit Bescheid vom 11. März 2010 lehnte der Beklagte die Bewilligung eines Mehrbedarfs für Krankenkost ab. Hiergegen legte der Kläger am 14. März 2010 Widerspruch ein und führte unter anderem aus, dass das Bundesverfassungsgericht am 10. Februar 2010 entschieden habe, dass Transferleistungsbeziehern nichtverschreibungspflichtige Heil- und Hilfsmittel bezahlt werden müssten, sofern diese dauerhaft auf diese Mittel angewiesen seien.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2012 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass ausweislich der Stellungnahme des Gesundheitsamtes ein ernährungsbedingter Mehrbedarf nicht bestehe. Vielmehr sei eine gesunde Vollkost, die aus dem Regelbedarf zu bestreiten sei, ausreichend. Insoweit werde auf die Empfehlungen des Vereins für öffentliche und private Fürsorge Bezug genommen.

Am 1. Juni 2012 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben und hat unter anderem geltend gemacht, dass die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge als Beurteilungsgrundlage nicht hätten herangezogen werden dürfen.

Mit Urteil vom 12. März 2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klage sei bereits insoweit unzulässig, als der Kläger die Verpflichtung zur Gewährung des Mitgliedsbeitrages für einen Fitnessclub und eines zusätzlichen Bedarfes wegen Neurodermitis bzw. Juckreizes beantragt habe. Im Verwaltungsverfahren streitgegenständlich sei ausweislich des an den Beklagten gerichteten Antrags des Klägers vom 26. Januar 2010 lediglich der Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung des Klägers gewesen. Nur insoweit habe auch ein Vorverfahren stattgefunden. Hinsichtlich der anderen mit der Klage verfolgten Mehrbedarfe sei die Klage mangels vorheriger Durchführung eines Vorverfahrens nach § 78 SGG unzulässig.

Die Klage hinsichtlich des Mehrbedarfs wegen der beim Kläger bestehenden Hypertonie sei unbegründet. Er habe keinen Anspruch auf die Bewilligung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung. Nach § 21 Abs. 5 SGB II erhielten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürften, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Zwar sei bei dem Kläger durch Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung der Ärztin Dr. S. aus dem Januar 2009 das Vorliegen einer Hypertonie bestätigt worden. In einer von dem Beklagten eingeholten Stellungnahme des Gesundheitsamtes vom März 2009 werde eine Krankenkostzulage aber nicht befürwortet.

Für die Beurteilung, ob dem Kläger wegen seiner nachgewiesenen Hypertonie ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung zustehe, habe das Gericht auf die "Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" vom 1. Oktober 2008 zurückgegriffen. Nach Nr. 4.1. Buchst. d) dieser Empfehlungen sei eine Hypertonie diätisch mit einer Vollkost zu behandeln, die von den Regelbedarfsleistungen abgedeckt seien. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien die "Empfehlungen" zwar weder als Rechtsnormen noch als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, könnten jedoch im Regelfall – und ein solcher liege bei dem Kläger vor – zur Konkretisierung des angemessenen Mehrbedarfs herangezogen werden. Dies sei jedenfalls dann angezeigt, wenn - wie hier - eine entsprechende sachverständige Äußerung des zuständigen Gesundheitsamtes vorliege.

Gegen das ihm am 15. März 2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. April 2013 Berufung eingelegt. Er wiederholt und vertieft sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend führt er aus, dass bei ihm im Februar 2012 Diabetes mellitus Typ 2 festgestellt worden sei, wie es dem eingereichten Behandlungsprogramm zu entnehmen sei. Die Auseinandersetzung darum, ob es sich nur um Juckreiz wegen trockener Haut oder wegen Neurodermitis handele, gehe fehl. Wie der Anwendungsbeschreibung der Lotion zu entnehmen sei, wirke die Lotion auch gegen Neurodermitis erfolgreich.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 12. März 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2010 Leistungen für eine kostenaufwändige Ernährung - hilfsweise für Beiträge für einen Fitnessclub in Höhe von mindestens 60,00 EUR monatlich - sowie für Hautpflegemittel gegen Juckreiz in Höhe von 13,80 EUR monatlich nebst Zinsen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.

Der Senat hat bei den behandelnden Ärzten Auskünfte über besondere gesundheitliche Umstände bei dem Kläger und ein etwaiges Erfordernis für eine besondere Ernährung eingeholt. Auf die Antworten nebst übersandten Befundberichten und Stellungnahmen, die in die Prozessakte zum Aktenzeichen L 4 AS 124/13 eingegangen sind, wird ergänzend Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie der beigezogenen Akten der Beklagten verwiesen, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unter Berücksichtigung der in parallelen Verfahren ebenfalls angefochtenen Höhe des Regelbedarfs statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben worden.

In der Sache hat die Berufung aber keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht zum Teil als unzulässig behandelt und zum Teil als unbegründet abgewiesen.

Den Anspruch auf Anerkennung eines Mehrbedarfs für Hautpflegemittel gegen Juckreiz hat der Kläger in dem hier einschlägigen Bewilligungszeitraum erstes Halbjahr 2010 erstmals im Klageverfahren geltend gemacht und nicht zuvor zum Gegenstand eines Vorverfahrens bei der Beklagten gemacht, sodass das Sozialgericht die Klage insoweit zutreffend gem. § 78 SGG als unzulässig angesehen hat. Das Begehren hätte allerdings auch in der Sache keinen Erfolg gehabt, wie aus dem Urteil des Senats vom heutigen Tag zum Aktenzeichen L 4 AS 390/10 zu entnehmen ist.

Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf für eine besondere kostenaufwändige Ernährung steht dem Kläger nicht zu. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II liegen nicht vor. Der Kläger litt zwar in dem hier betroffenen Bewilligungszeitraum erstes Halbjahr 2010 – wie auch davor und danach - unter Diabetes Mellitus Typ 2 sowie einem arteriellen Hypertonus und anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diese machen aber keine kostenaufwändige Ernährung erforderlich.

Die Hausärzte des Klägers haben den Vortrag des Klägers zu seinen diesbezüglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestätigt. Aus der vom Senat eingeholten ärztlichen Stellungnahme der Hausärzte ergibt sich, dass bei dem Kläger unter anderem ein arterieller Hypertonus (Bluthochdruck), ein tablettengeführter Diabetes mellitus Typ 2, ein Übergewicht mit einem BMI (Body-Mass-Index) von 34, eine Arteriosklerose mit Plaquebildungen der Carotiden (Verengung der Arterien durch Ablagerungen) und eine diätisch führbare Hyperlipidämie (Erhöhung der Blutfette) und Hyperurikämie (Erhöhung der Harnsäure im Blut) vorliegt und dass er eine kalorien-, fett, cholesterin-, zucker-, kochsalz und purinarme Diät einhalten muss.

Der Befund eines Diabetes mellitus und einer Hypertonie wird auch durch weitere Behandlungsunterlagen bestätigt, die von den behandelnden Ärzten aufgrund des gerichtlichen Auskunftsersuchens zur Gerichtsakte gereicht worden sind. Ein amtsärztliches Gutachten vom 6. Juli 2009 mit umfänglicher Untersuchung bescheinigt dem Kläger Arteriellen Bluthochdruck und Übergewicht Grad I mit BMI 31,8 ohne Stoffwechselerkrankung. Im September 2011 ist in der Schön Klinik in Hamburg der Befund erhoben worden, dass sich der Kläger in gutem Allgemeinzustand und adipösem Ernährungszustand befindet, er also insgesamt einen guten allgemeinen Eindruck macht, aber übergewichtig bzw. fettleibig ist. Auch dem Arztbrief der A. Klinik vom 2. Juni 2013 der Befund einer arteriellen Hypertonie und Diabetes mellitus zu entnehmen. Ferner liegt eine Teilnahmebestätigung der Krankenkasse des Klägers vom 16. Mai 2012 vor, wonach der Kläger seinerzeit an dem "strukturierten und qualitätsgesicherten Behandlungsprogramm Diabetes mellitus 2" teilnahm.

Bezogen auf die Erkrankung Diabetes mellitus Typ 2 ist eine Ernährungsweise mit einer sogenannten Vollkost angezeigt, die keinen Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 5 SGB II auslöst. Bei einer Vollkost handelt es sich nicht um eine Krankenkost, auf die diese Vorschrift abzielt, sondern um eine Ernährungsweise, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt. Sie ist als gesunde Mischkost aus den Regelbedarfsleistungen zu bestreiten (BSG, Urteil vom 10.5.2011 – B 4 AS 100/10 R; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 23.4.2009 – L 11 AS 124/08).

Im Falle einer Hypertonie, wie sie bei dem Kläger vorliegt, ist nach den aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkost in der Sozialhilfe (4. Auflage 2014) ebenfalls eine Vollkost angezeigt, sodass sich kein Bedarf ergibt, der nicht bereits von den Regelbedarfsleistungen abgedeckt wird. Diese Empfehlungen können zwar nicht als – antizipiertes – Sachverständigengutachten verwendet werden, weil sie sich nicht auf den Einzelfall beziehen. Sie bieten aber in ihren medizinisch-fachlichen Aussagen eine geeignete Orientierungshilfe für Behörden und Gerichte. Soll von ihr abgewichen werden, bedarf es hierfür einer fachlichen Begründung (BSG, Urteil vom 20.2.2014 – B 14 AS 65/12 R). Dahingehende Gründe oder Anhaltspunkte hat der Kläger nicht vorgebracht und sie ergeben sich auch nicht aus den vorliegenden Äußerungen der befassten Ärzte, sodass sich hier keine Gesichtspunkte aufdrängen, die eine Abweichung von diesen Empfehlungen nahe legen oder Anlass geben könnten, die individuellen Verhältnisse des Klägers noch weitergehender zu beleuchten.

Soweit sich aus der Empfehlung der behandelnden Hausärzte weiter ergibt, dass vom Kläger eine kalorien-, fett-, cholesterin-, zucker-, kochsalz- und purinarme Diät einzuhalten sei, bedarf es hierzu keiner kostenaufwändigen speziell produzierter Nahrungsmittel, sondern nur der Vermeidung bestimmter Stoffe und der Bevorzugung bestimmter Nahrungsmittel bei der Auswahl und Zubereitung der Speisen. Aus diesem Grund fehlt es an der Voraussetzung für die Anerkennung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II, dass eine besondere Ernährung wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erforderlich sein muss, deren Kosten höher ("aufwändiger") sind als diese ohne eine solche Beeinträchtigung der Fall wäre. Mithin fehlt es an der Notwendigkeit einer besonderen Kost, die gegenüber der in der Bevölkerung üblichen - im Regelbedarf zum Ausdruck kommenden - Ernährung kostenaufwändiger ist (vgl. BSG, Urteil vom 14.2.2013 – B 14 AS 48/12 R).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Anerkennung des hilfsweise zum Mehrbedarf für Krankenkost beantragten Mehrbedarfs für die Nutzung einer kommerziellen Fitnessanlage bzw. eines Fitnessclubs nach § 21 Abs. 6 SGB II. Aufgrund der körperlichen Verfassung des Klägers, wie sie in den zur Prozessakte gelangten ärztlichen Stellungnahmen und Unterlagen angesprochen wird, dürfte zwar außer Zweifel stehen, dass sich der Kläger regelmäßig körperlich betätigen muss. Dass dies aber unabweisbar in einem Fitnessstudio zu erfolgen hat, lässt sich nicht feststellen. Insbesondere ist nicht dargetan und auch sonst nicht ersichtlich, dass der Kläger bei Bewegungs- und Ausdauerübungen auf bestimmte Geräte angewiesen ist, die nur in kostspieligen Fitnessstudios bereitgestellt werden. Tatsächlich ist er auch nicht Mitglied eines Fitnessclubs geworden und kann sich inzwischen aufgrund eines Herzleidens auch nicht mehr in dieser Weise sportlich betätigen. Im Übrigen wäre der Kläger, wenn ihm zur Gesundung bzw. zur Gesunderhaltung einzig diese kommerziellen Sportangebote zur Verfügung gestanden haben sollten, gehalten gewesen, seine Ausgaben in anderen Bereichen der Freizeitgestaltung entsprechend einzuschränken. Denn dem Leistungsberechtigten ist es zumutbar, seinen im Vergleich zum statistisch ermittelten Durchschnittsregelbedarf höheren Bedarf in einem Lebensbereich bzw. seinen nicht im Regelbedarf berücksichtigten zusätzlichen Bedarf durch geringere Ausgaben in anderen Lebensbereichen auszugleichen und insbesondere den im Regelsatz enthaltenen Ansparbetrag vorrangig einzusetzen (BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 3/09, 4/09).

Die Höhe des dem Kläger bewilligten Regelbedarfs nach § 20 SGB II stößt ebenfalls auf keine rechtlichen Bedenken, wie es der Senat im Urteil vom heutigen Tag zum Aktenzeichen L 4 AS 275/11 dargelegt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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