Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 11 AS 973/15 ER
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 784/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Bei Erlass der Aufforderung an den SGB II - Leistungsberechtigten, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen, hat der Grundsicherungsträger Ermessen auszuüben. Bei der im Einzelfall unter Abwägung aller entscheidungserheblichen Belange anzustellenden Prüfung sind neben den Interessen der Allgemeinheit auch die Interessen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu berücksichtigen. Die Ermessensausübung erschöpft sich nicht in der Prüfung, ob einer der in der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fälle vorliegt. Es ist auch in Erwägung zu ziehen, ob eine vorzeitige Rentenantragstellung zu einer dauerhaften Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII führte, die im Fall eines Antrags auf Regelaltersrente vermieden werden könnte, bzw. Schonvermögen nach § 12 SGB II vorhanden ist, das nach § 90 Abs. 2 und 3 SGB XII nicht geschützt wäre.
2. Die ordnungsgemäße Ausübung des nach § 12a SGB II eingeräumten Ermessens setzt voraus, dass die Behörde die für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte in ihre Entscheidung einfließen lässt. Das setzt voraus, dass der Betroffene weiß, welche Aspekte dafür relevant sind, um dazu vortragen zu können.
2. Die ordnungsgemäße Ausübung des nach § 12a SGB II eingeräumten Ermessens setzt voraus, dass die Behörde die für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte in ihre Entscheidung einfließen lässt. Das setzt voraus, dass der Betroffene weiß, welche Aspekte dafür relevant sind, um dazu vortragen zu können.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 18. Juni 2015 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 9. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2015 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M., S., bewilligt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Aufforderung des Antragsgegners, vorzeitige Altersrente zu beantragen. Die am geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 13. März 2015 wurden ihr für den Zeitraum April bis September 2015 Leistungen in Höhe von 745,44 Euro monatlich bewilligt. Auf Anforderung des Antragsgegners übersandte die Antragstellerin eine Bestätigung der A. M. Versicherung über ihre private Rentenpolice: Der Vertrag ende zum 1. Januar 2017. Sie erhalte dann eine garantierte Rente in Höhe von monatlich 78,80 Euro. Ferner übersandte sie eine Renteninformation der über eine voraussichtliche Rente von 756,99 Euro bei Beginn der Regelaltersrente am 1. November 2017. Mit Bescheid vom 9. April 2015 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zur Beantragung vorzeitiger Altersrente auf. Dagegen legte die Antragstellerin am 23. April 2015 unter Hinweis auf eine Kurzauskunft der vom 14. April 2015 (bei frühestem Rentenbeginn am 1. Mai 2015 unter Berücksichtigung eines 9%igen Rentenabschlags Altersrente in Höhe von 688,39 Euro, gemindert um den Eigenanteil zur Krankenversicherung in Höhe von 50,25 Euro und evtl. Zusatzbeitrag in Höhe von 6,20 Euro sowie den Pflegeversicherungsbeitrag von 16,18 Euro) Widerspruch ein, da sie bei vorzeitiger Altersrente für immer Sozialhilfeempfänger werde. Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2015 ist ausgeführt, dass keiner der Sachverhalte der Unbilligkeitsverordnung vorliege und die Ausübung des - intendierten - Ermessens fehlerfrei erfolgt sei. Insbesondere der Umstand, dass der Leistungsempfänger bei Regelaltersrentenbezug eine höhere, abschlagsfreie Rente erhalte, sei kein zu berücksichtigender Belang, und zwar unabhängig davon, ob Hilfebedürftigkeit bestehen bleibe, entfalle oder dies fraglich sei. Über die dagegen fristgemäß erhobene Klage (S 11 AS 996/15) ist noch nicht entschieden. Am 28. Mai 2015 hat die Antragstellerin eine einstweilige Anordnung beantragt. Durch die vorzeitige Altersrente werde eine dauerhafte Hilfebedürftigkeit bis an ihr Lebensende herbei-geführt. Bei Regelaltersrentenbezug könnte sie zusammen mit ihrer privaten Rentenversicherung in Höhe von 78,80 Euro monatlich ihre Hilfebedürftigkeit dauerhaft überwinden. Gegen den ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 18. Juni 2015 richtet sich die fristgemäße Beschwerde. Nachdem bekannt geworden war, dass der Antragsgegner bereits am 6. Mai 2015 einen ersatzweisen Rentenantrag gestellt hat, wurde ihm aufgegeben, eine Bestätigung über die Aussetzung des Rentenverfahrens vorzulegen, was am 7. Juli 2015 geschehen ist.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Meiningen vom 18. Juni 2015 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die den angefochtenen Beschluss tragenden Gründe.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Die Aufforderung vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015, einen Rentenantrag zu stellen, ist rechtswidrig. Nach § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen an-derer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Die Regelung des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II greift hier wegen der Aufforderung zur Beantragung von Altersrente nicht. Danach sind abweichend von Satz 1 Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die Antragstellerin hat am 19. April 2015 ihr 63. Lebensjahr vollendet. Nach Vollendung des 63. Lebensjahres entfällt die Verpflichtung zur Rentenantragstellung, wenn die Voraussetzungen der auf der Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II erlassenen Unbil-ligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) gegeben sind. Nach § 1 UnbilligkeitsV sind Hilfebedürftige nach Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inan-spruchnahme unbillig wäre. Die in den §§ 2 bis 5 UnbilligkeitsV geregelten Fälle, in welchen Unbilligkeit anzunehmen ist, liegen bei der Antragstellerin nicht vor. Die Antragstellerin verliert keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 2), sie kann nicht in nächster Zukunft die Altersrente abschlagfrei in Anspruch nehmen (§ 3), sie ist weder sozialversicherungspflichtig beschäftigt noch erzielt sie aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen (§ 4), auch hat sie nicht glaubhaft gemacht, dass sie in nächster Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und nicht nur vorübergehend ausüben werde (§ 5). Der Antragsgegner hat die Antragstellerin aber nicht auf rechtmäßige Art und Weise aufgefordert, den Rentenantrag zu stellen. Es liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor. § 12a Abs. 1 SGB II berechtigt den Grundsicherungsträger, den Leistungsberechtigten zur Stellung eines Antrags auf Altersrente aufzufordern (Knickrehm/Hahn in Eicher SGB II, § 12a Rn. 9), bei dieser Aufforderung handelt es sich um einen Verwaltungsakt (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2011 - B 14 AS 138/11 B), bei dessen Erlass Ermessen auszuüben ist. Dafür ist Voraussetzung, dass im Einzelfall unter Abwägung aller entscheidungserheblicher Belange geprüft wurde, ob eine Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags ergeht. Dabei sind neben den Interessen der Allgemeinheit auch die Interessen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu berücksichtigen. Die Ermessensausübung bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung erschöpft sich nicht in der Prüfung, ob einer der in der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fälle vorliegt. Zum einen ist die Aufzählung möglicher Unbilligkeitsgründe in der Unbilligkeitsverordnung nicht abschließend, zum anderen können auch weitere Umstände bei der Ermessensausübung Berücksichtigung finden (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 16. Februar 2015 - L 9 AS 20/15 B ER -). In der Rechtsprechung besteht Uneinigkeit zu der Frage, wie es zu beurteilen ist, wenn Leistungsempfänger eine voraussichtlich bedarfsdeckende abschlagsfreie Altersrente beziehen könnten, jedoch bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente lebenslang weitere Sozialleistungen beantragen müssten (wie es die Antragstellerin hier vorträgt). Nach Ansicht des Senats ist bei einer Ermessensentscheidung sehr wohl in Erwägung zu ziehen, ob eine vorzeitige Rentenantragstellung zu einer dauerhaften Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII führen würde, die im Falle einer späteren Rentenantragstellung vermieden werden könnte (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 16. Februar 2015 - L 9 AS 20/15 B ER -). Aber selbst diejenigen, die dies für unbeachtlich halten, bejahen die Möglichkeit der Behörde, in einem sog. atypischen Fall von der Aufforderung zur Rentenantragstellung abzusehen, der z. B. dann vorliegen soll, wenn mit dem durch die vorzeitige Altersrente erzwungenen Wechsel in die Sozialhilfe im konkreten Einzelfall außergewöhnliche Nachteile einhergehen (vgl. LSG Sachsen, Beschluss vom 19. Februar 2015 - L 8 AS 1232/14 ER -). In Betracht zu ziehen ist dies insbesondere dann, wenn nicht nur die Altersrente abgesenkt wird und dadurch die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII erforderlich wird, sondern darüber hinaus erhebliches Schonvermögen im Sinne von § 12 Abs. 2 und 3 SGB II des Leistungsberechtigten oder seines Einstandspartners verloren ginge, das nach § 90 Abs. 2 und 3 SGB XII nicht geschützt wäre (zur selbstgenutzten Immobilie, die u.U. nach § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II umfassender als nach § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII geschützt sein kann: Geiger in: Münder, SGB II, 5. Aufl., § 12 RdNr. 55 m.w.N.; zur Verwertungspflicht bei Vermögen, das gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II der Altersvorsorge dient, vgl. auch BSG, Urteil vom 25. August 2011 – B 8 SO 19/10 R – juris RdNr. 18 -). Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde die für die Ent-scheidung wesentlichen Gesichtspunkte in ihre Entscheidung hat einfließen lassen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn ihr diese Gesichtspunkte auch bekannt waren. Bekannt sein können sie aber nur aufgrund des der Behörde vorliegenden Akteninhalts (aus dem sich nach der Darstellung im Widerspruchsbescheid keine abwägungsrelevanten Anhaltspunkte ergaben, was hier nicht überprüft werden kann, weil nur eine Teilakte vorliegt) oder aufgrund der (z. B. im Hinblick auf die Anhörung erfolgende) Mitteilung des Betroffenen. Das setzt jedoch voraus, dass der Betroffene weiß, welche Aspekte für die Ermessensentscheidung relevant sind. Davon ist jedoch bei der im Verwaltungsverfahren noch nicht anwaltlich vertretenen Antragstellerin nicht auszugehen. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung, die nicht ein-mal einen Hinweis auf die Unbilligkeitsverordnung und die dort geregelten Ausnahmefälle von der Verpflichtung zur vorzeitigen Rentenantragstellung enthält, ist insoweit unergiebig. Unverständlich bleibt auch, warum im Schreiben des Antragsgegners vom 16. März 2015 eine aktuelle Rentenauskunft angefordert wird, aus der hervorgehen muss, wie hoch der monatliche Rentenanspruch ist, wenn es darauf nach der Begründung des Widerspruchsbescheids überhaupt nicht ankommt. Auf der Grundlage dieser unzureichenden Tatsachenermittlungen ist aus dem Bescheid vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2014 keine hinreichende Ermessensausübung erkennbar. Die Ausführungen im Bescheid beschränken sich auf formelhafte Ausführungen ohne jeden Bezug zum konkreten Sachverhalt. Weder hat der Antragsgegner festgestellt, welche Höhe die reguläre und welche die vorzeitig in Anspruch genommene Altersrente haben würden, um die jeweiligen Rentenhöhen dem aktuellen Grundsicherungsbedarf gegenüberzustellen. Noch hat er die oben angesprochene Frage, ob erhebliches Schonvermögen verloren geht, erörtert. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Weil die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wird der Antragstellerin Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Gründe:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Aufforderung des Antragsgegners, vorzeitige Altersrente zu beantragen. Die am geborene Antragstellerin bezieht vom Antragsgegner Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheid vom 13. März 2015 wurden ihr für den Zeitraum April bis September 2015 Leistungen in Höhe von 745,44 Euro monatlich bewilligt. Auf Anforderung des Antragsgegners übersandte die Antragstellerin eine Bestätigung der A. M. Versicherung über ihre private Rentenpolice: Der Vertrag ende zum 1. Januar 2017. Sie erhalte dann eine garantierte Rente in Höhe von monatlich 78,80 Euro. Ferner übersandte sie eine Renteninformation der über eine voraussichtliche Rente von 756,99 Euro bei Beginn der Regelaltersrente am 1. November 2017. Mit Bescheid vom 9. April 2015 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zur Beantragung vorzeitiger Altersrente auf. Dagegen legte die Antragstellerin am 23. April 2015 unter Hinweis auf eine Kurzauskunft der vom 14. April 2015 (bei frühestem Rentenbeginn am 1. Mai 2015 unter Berücksichtigung eines 9%igen Rentenabschlags Altersrente in Höhe von 688,39 Euro, gemindert um den Eigenanteil zur Krankenversicherung in Höhe von 50,25 Euro und evtl. Zusatzbeitrag in Höhe von 6,20 Euro sowie den Pflegeversicherungsbeitrag von 16,18 Euro) Widerspruch ein, da sie bei vorzeitiger Altersrente für immer Sozialhilfeempfänger werde. Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2015 ist ausgeführt, dass keiner der Sachverhalte der Unbilligkeitsverordnung vorliege und die Ausübung des - intendierten - Ermessens fehlerfrei erfolgt sei. Insbesondere der Umstand, dass der Leistungsempfänger bei Regelaltersrentenbezug eine höhere, abschlagsfreie Rente erhalte, sei kein zu berücksichtigender Belang, und zwar unabhängig davon, ob Hilfebedürftigkeit bestehen bleibe, entfalle oder dies fraglich sei. Über die dagegen fristgemäß erhobene Klage (S 11 AS 996/15) ist noch nicht entschieden. Am 28. Mai 2015 hat die Antragstellerin eine einstweilige Anordnung beantragt. Durch die vorzeitige Altersrente werde eine dauerhafte Hilfebedürftigkeit bis an ihr Lebensende herbei-geführt. Bei Regelaltersrentenbezug könnte sie zusammen mit ihrer privaten Rentenversicherung in Höhe von 78,80 Euro monatlich ihre Hilfebedürftigkeit dauerhaft überwinden. Gegen den ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Meiningen vom 18. Juni 2015 richtet sich die fristgemäße Beschwerde. Nachdem bekannt geworden war, dass der Antragsgegner bereits am 6. Mai 2015 einen ersatzweisen Rentenantrag gestellt hat, wurde ihm aufgegeben, eine Bestätigung über die Aussetzung des Rentenverfahrens vorzulegen, was am 7. Juli 2015 geschehen ist.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Meiningen vom 18. Juni 2015 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er beruft sich auf die den angefochtenen Beschluss tragenden Gründe.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Die Aufforderung vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015, einen Rentenantrag zu stellen, ist rechtswidrig. Nach § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen an-derer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Die Regelung des § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II greift hier wegen der Aufforderung zur Beantragung von Altersrente nicht. Danach sind abweichend von Satz 1 Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Die Antragstellerin hat am 19. April 2015 ihr 63. Lebensjahr vollendet. Nach Vollendung des 63. Lebensjahres entfällt die Verpflichtung zur Rentenantragstellung, wenn die Voraussetzungen der auf der Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II erlassenen Unbil-ligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) gegeben sind. Nach § 1 UnbilligkeitsV sind Hilfebedürftige nach Vollendung des 63. Lebensjahres nicht verpflichtet, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen, wenn die Inan-spruchnahme unbillig wäre. Die in den §§ 2 bis 5 UnbilligkeitsV geregelten Fälle, in welchen Unbilligkeit anzunehmen ist, liegen bei der Antragstellerin nicht vor. Die Antragstellerin verliert keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 2), sie kann nicht in nächster Zukunft die Altersrente abschlagfrei in Anspruch nehmen (§ 3), sie ist weder sozialversicherungspflichtig beschäftigt noch erzielt sie aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen (§ 4), auch hat sie nicht glaubhaft gemacht, dass sie in nächster Zukunft eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und nicht nur vorübergehend ausüben werde (§ 5). Der Antragsgegner hat die Antragstellerin aber nicht auf rechtmäßige Art und Weise aufgefordert, den Rentenantrag zu stellen. Es liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor. § 12a Abs. 1 SGB II berechtigt den Grundsicherungsträger, den Leistungsberechtigten zur Stellung eines Antrags auf Altersrente aufzufordern (Knickrehm/Hahn in Eicher SGB II, § 12a Rn. 9), bei dieser Aufforderung handelt es sich um einen Verwaltungsakt (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2011 - B 14 AS 138/11 B), bei dessen Erlass Ermessen auszuüben ist. Dafür ist Voraussetzung, dass im Einzelfall unter Abwägung aller entscheidungserheblicher Belange geprüft wurde, ob eine Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags ergeht. Dabei sind neben den Interessen der Allgemeinheit auch die Interessen des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu berücksichtigen. Die Ermessensausübung bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung erschöpft sich nicht in der Prüfung, ob einer der in der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fälle vorliegt. Zum einen ist die Aufzählung möglicher Unbilligkeitsgründe in der Unbilligkeitsverordnung nicht abschließend, zum anderen können auch weitere Umstände bei der Ermessensausübung Berücksichtigung finden (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 16. Februar 2015 - L 9 AS 20/15 B ER -). In der Rechtsprechung besteht Uneinigkeit zu der Frage, wie es zu beurteilen ist, wenn Leistungsempfänger eine voraussichtlich bedarfsdeckende abschlagsfreie Altersrente beziehen könnten, jedoch bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente lebenslang weitere Sozialleistungen beantragen müssten (wie es die Antragstellerin hier vorträgt). Nach Ansicht des Senats ist bei einer Ermessensentscheidung sehr wohl in Erwägung zu ziehen, ob eine vorzeitige Rentenantragstellung zu einer dauerhaften Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII führen würde, die im Falle einer späteren Rentenantragstellung vermieden werden könnte (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 16. Februar 2015 - L 9 AS 20/15 B ER -). Aber selbst diejenigen, die dies für unbeachtlich halten, bejahen die Möglichkeit der Behörde, in einem sog. atypischen Fall von der Aufforderung zur Rentenantragstellung abzusehen, der z. B. dann vorliegen soll, wenn mit dem durch die vorzeitige Altersrente erzwungenen Wechsel in die Sozialhilfe im konkreten Einzelfall außergewöhnliche Nachteile einhergehen (vgl. LSG Sachsen, Beschluss vom 19. Februar 2015 - L 8 AS 1232/14 ER -). In Betracht zu ziehen ist dies insbesondere dann, wenn nicht nur die Altersrente abgesenkt wird und dadurch die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII erforderlich wird, sondern darüber hinaus erhebliches Schonvermögen im Sinne von § 12 Abs. 2 und 3 SGB II des Leistungsberechtigten oder seines Einstandspartners verloren ginge, das nach § 90 Abs. 2 und 3 SGB XII nicht geschützt wäre (zur selbstgenutzten Immobilie, die u.U. nach § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II umfassender als nach § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII geschützt sein kann: Geiger in: Münder, SGB II, 5. Aufl., § 12 RdNr. 55 m.w.N.; zur Verwertungspflicht bei Vermögen, das gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB II der Altersvorsorge dient, vgl. auch BSG, Urteil vom 25. August 2011 – B 8 SO 19/10 R – juris RdNr. 18 -). Eine ordnungsgemäße Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde die für die Ent-scheidung wesentlichen Gesichtspunkte in ihre Entscheidung hat einfließen lassen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn ihr diese Gesichtspunkte auch bekannt waren. Bekannt sein können sie aber nur aufgrund des der Behörde vorliegenden Akteninhalts (aus dem sich nach der Darstellung im Widerspruchsbescheid keine abwägungsrelevanten Anhaltspunkte ergaben, was hier nicht überprüft werden kann, weil nur eine Teilakte vorliegt) oder aufgrund der (z. B. im Hinblick auf die Anhörung erfolgende) Mitteilung des Betroffenen. Das setzt jedoch voraus, dass der Betroffene weiß, welche Aspekte für die Ermessensentscheidung relevant sind. Davon ist jedoch bei der im Verwaltungsverfahren noch nicht anwaltlich vertretenen Antragstellerin nicht auszugehen. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung, die nicht ein-mal einen Hinweis auf die Unbilligkeitsverordnung und die dort geregelten Ausnahmefälle von der Verpflichtung zur vorzeitigen Rentenantragstellung enthält, ist insoweit unergiebig. Unverständlich bleibt auch, warum im Schreiben des Antragsgegners vom 16. März 2015 eine aktuelle Rentenauskunft angefordert wird, aus der hervorgehen muss, wie hoch der monatliche Rentenanspruch ist, wenn es darauf nach der Begründung des Widerspruchsbescheids überhaupt nicht ankommt. Auf der Grundlage dieser unzureichenden Tatsachenermittlungen ist aus dem Bescheid vom 9. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2014 keine hinreichende Ermessensausübung erkennbar. Die Ausführungen im Bescheid beschränken sich auf formelhafte Ausführungen ohne jeden Bezug zum konkreten Sachverhalt. Weder hat der Antragsgegner festgestellt, welche Höhe die reguläre und welche die vorzeitig in Anspruch genommene Altersrente haben würden, um die jeweiligen Rentenhöhen dem aktuellen Grundsicherungsbedarf gegenüberzustellen. Noch hat er die oben angesprochene Frage, ob erhebliches Schonvermögen verloren geht, erörtert. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Weil die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wird der Antragstellerin Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
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