Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 14 AS 229/15 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 510/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist nicht unzulässig, wenn nach Eintritt der Bestandskraft von Erstattungsbescheiden ein Verfahren gemäß § 44 SGB X noch nicht abgeschlossen ist.
2. Eine einstweilige Anordnung kann nur ergehen, wenn die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Erstattungsbescheide offensichtlich ist und deshalb mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist.
3. Bei unsicherem Ausgang des Überprüfungsverfahrens würde die Untersagung der Vollstreckung der Wertung des § 257 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung widersprechen, wonach die Vollstreckung einzustellen oder zu beschränken ist, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben ist.
2. Eine einstweilige Anordnung kann nur ergehen, wenn die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Erstattungsbescheide offensichtlich ist und deshalb mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist.
3. Bei unsicherem Ausgang des Überprüfungsverfahrens würde die Untersagung der Vollstreckung der Wertung des § 257 Abs. 1 Nr. 2 Abgabenordnung widersprechen, wonach die Vollstreckung einzustellen oder zu beschränken ist, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben ist.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 16. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Untersagung der Zwangsvollstreckung aus Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 streitig.
Die Antragstellerin zu 1, ihr Ehemann (Antragsteller zu 2) und die drei gemeinsamen Kindern (Antragsteller zu 3 bis 5) leben in Bedarfsgemeinschaft. Sie beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)
Am 01.02.2013 und am 04.02.2013 erließ der Antrags- und Beschwerdegegner eine Vielzahl von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden, die teils an die Antragstellerin zu 1, teils an den Antragsteller zu 2 gerichtet waren. Der Widerspruch der Antragstellerin zu 1 vom 13./14.02.2015 wegen der "Änderung 2011 und 2012" wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2013 zurückgewiesen. Dagegen wurde Klage nicht erhoben.
Nachdem die Antragstellerin zu 1 vom Antragsgegner die Zahlungsaufforderung vom 28.10.2013 über einen zu zahlenden Betrag von 7.591,78 EUR erhalten hatte, stellte sie am 25.11.2013 über ihre Bevollmächtigte Antrag auf Nachprüfung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), den der Antragsgegner mit Bescheid vom 13.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.04.2014 ablehnte. Dagegen ist Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben worden (S 14 AS 274/14).
Die Agentur für Arbeit B-Stadt, Regionaler Inkasso-Service, wendete sich mit Schreiben vom 13.10.2014 an die Antragstellerin zu 1 zwecks Mahnung des offenen Betrags von 7.658,85 EUR (mit Festsetzung weiterer Mahngebühren). In diesem Schreiben wurde sie darauf hingewiesen, dass sie sich bitte umgehend mit dem Inkassobereich unter der angegebenen Rufnummer in Verbindung setzen solle, wenn ihr die fristgerechte Zahlung nicht möglich sei.
Der zum Antragsgegner am 10.04.2015 gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde mit Schreiben vom 15.04.2015 abgelehnt.
Am 27.04.2015 ist von den Antragstellern beim Sozialgericht Landshut Antrag auf vorläufige Einstellung der Vollstreckung mittels Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz gestellt worden. Nachdem der Antragstellerin zu 1 nach Erlass des Mahnbescheids die Zwangsvollstreckung unmittelbar drohe und sie finanziell nicht in der Lage sei, die geltend gemachten Beträge zu zahlen, sei die Vollstreckung im Wege der Regelungsanordnung einzustellen. Gemäß dem Beschluss des Bayer. Landessozialgerichts vom 26.03.2014 (L 7 AS 220/14 B ER) sei ein solcher Eilantrag trotz Bestandskraft der mit dem Überprüfungsantrag angegriffenen Bescheide unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Der Antrag sei auch begründet, weil die Anfechtungsklage gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide erfolgreich sein werde.
Das Sozialgericht Landshut hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16.06.2015 abgelehnt. Die Regelungsanordnung sei statthaft, ein Anspruch nach § 44 SGB X sei ein streitiges Rechtsverhältnis. Ein Anspruch nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bestehe, wenn glaubhaft sei, dass das begehrte materielle Recht (Anordnungsnanspruch) bestehe und dass eine vorläufige Regelung notwendig sei (Anordnungsgrund). Bei Überprüfungsverfahren sei ein strenger Maßstab für den Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund anzulegen. Nur bei ernstlichen Zweifeln am Ausgangsbescheid sei der vorläufige Durchgriff des Gerichts im Eilverfahren zu rechtfertigen. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Anordnungsbescheids. Die Eilbedürftigkeit müsse ein besonderes Ausmaß erreichen. Einen Anordnungsgrund könne das Gericht erst Recht nicht erkennen. Gegen die Eilbedürftigkeit spreche neben dem Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfrist, dass zwischen der Mahnung der Bundesagentur für Arbeit vom 13.10.2014 bis zum Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht am 27.04.2015 weitere sechs Monate verstrichen seien. In der Mahnung vom 13.10.2014 sei mitgeteilt worden, dass sich die Antragstellerin zu 1 bei Zahlungsproblemen umgehend mit dem Inkassobereich in Verbindung setzten könne. Es wäre ihr möglich gewesen, gegen die Zwangsvollstreckung selbst vorzugehen, indem sie beim Verwaltungsgericht bzw. beim Finanzgericht einen entsprechenden Antrag stellt.
Gegen diese der Bevollmächtigten der Antragstellerin am 08.07.2015 zugegangene Entscheidung ist am 03.08.2015 Beschwerde eingelegt worden. Mit Schriftsatz vom 31.08.2015 ist ausgeführt worden, dass entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts ein Anordnungsgrund gegeben sei. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren sei eilbedürftig. Ein ausreichender Anordnungsanspruch sei gegeben, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 bestehen würden. Dies ist umfänglich dargelegt worden: Maßgebliche Änderungsbescheide seien nicht aufgehoben worden, notwendige Änderungsbescheide seien nicht erlassen worden, ein unrichtiger Sachverhalt (private Krankenversicherung des Antragstellers zu 2) sei zugrunde gelegt, Fehler des Antragsgegners dürften nicht zu Lasten der Antragsteller gehen, die Anrechnung eines Einkommens des Antragstellers zu 2 für die Zeit vom Februar bis März 2011 sei verfahrensfehlerhaft, der Antragsteller zu 2 habe das Photovoltaikkonto dem Antragsgegner nicht verheimlicht, die Umsatzsteuer und die Überziehungszinsen als Betriebsausgaben hätten berücksichtigt werden müssen, der an den Sohn A. geleistete Unterhalt in Höhe von 30 EUR hätte berücksichtigt werden müssen, die Angaben bezüglich der "Kaiser-Rente" seien korrekt gewesen, u.v.m.
Die Antragsteller beantragen, den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 16.06.2015 aufzuheben und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Landshut (S 14 AS 274/14) Zwangsvollstreckungsmaßnahmen aus den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 durchzuführen.
Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Anlässlich einer telefonischen Nachfrage der Berichterstatterin am 07.09.2015, ob einem Vergleich dahingehend zugestimmt werde, dass die Stundung der bestandskräftigen und zu überprüfenden Forderung für ein Jahr vereinbart werde, hat die Bevollmächtigte mitgeteilt, dass der Inkassoservice der Arbeitsagentur B-Stadt die Forderung bereits gestundet habe. Mit Fax vom 07.09.2015 hat sie dies dahingehend konkretisiert, dass auf Antrag der Antragsteller die Forderung in Höhe von 7697,40 EUR mit Bescheid vom 05.08.2015 bis zum 31.07.2016 gestundet und danach die Forderung fällig sei. Die Möglichkeit einer Stundungsabrede schließe aber, so die Einlassung in diesem Schriftsatz, das Bestehen eines Anordnungsgrunds nicht aus. Mit Fax vom 10.09.2014 hat sie den Bescheid vom 05.08.2015 und den zuvor gestellten Antrag vom 08.07.2015 zur Verfügung gestellt.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und auf die beigezogenen Akten des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhoben worden und nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Das Begehren im Eilverfahren ist darauf gerichtet, während der Dauer des Hauptsacheverfahrens Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zu untersagen. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 13.12.2014 gemäß § 44 SGB X in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.04.2015. Wären die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide nicht bestandskräftig geworden, wäre einstweiliger Rechtsschutz über einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG anzustrengen gewesen. Wenn allerdings wie hier im Hauptsacheverfahren ein ablehnender Verwaltungsakt nach § 44 SGB X streitig ist, der die Bestandskraft des zu überprüfenden Verwaltungsakts unberührt lässt, scheidet die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch/ Klage von vornherein aus. In solchen Fällen kommt nur ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-) Anordnung in Betracht. Nach richtiger Auffassung ist ein solcher Antrag nicht schon deswegen von vornherein unzulässig, weil die zu vollstreckenden Erstattungsbescheide bestandskräftig sind (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.02.2009, L 25 AS 70/09 B ER, und Beschluss vom 13.11.2013, L 9 KR 254/13 B ER; Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 26.03.2014, L 7 AS 220/14 B ER).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO). Bei einem Antrag auf einstweilige Anordnung in Fallgestaltungen wie hier ist zu berücksichtigen, dass über die Bindung der Beteiligten an einen nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakt (Bestandskraft, vgl. § 77 SGG) Rechtssicherheit geschaffen wird, die ein hohes Gut im Rechtsstaat ist und nicht ohne weiteres disponibel ist. Andererseits gebietet es die Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, dass bei einem gesetzlich vorgesehenen und auch betriebenen, aber noch nicht abgeschlossenen Überprüfungsverfahren die Vollstreckung im Wege einer einstweiligen Anordnung dann vorläufig eingestellt werden kann, wenn der zu überprüfende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Geht es beim Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz um die Gewährung existenzsichernder Grundsicherungsleistungen, wird die Entscheidung des Gerichts (auch) auf eine Folgenabwägung gestützt werden können. Dies kann hier allerdings dahin stehen, weil es sich bei den bestandskräftig gewordenen Bescheiden nicht um Grundsicherungsleistungen ablehnende Bescheide, sondern um Aufhebungs- und Erstattungsbescheide handelt, bei deren Vollstreckung über Pfändungsschutzvorschriften das absolute Existenzminimum geschützt ist.
Die begehrte einstweilige Anordnung kann schon deswegen nicht ergehen, weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist. Außerdem fehlt die für eine einstweilige Anordnung nötige Dringlichkeit.
Die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs setzt voraus, dass die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, die der gegen die Antragstellerin zu 1 gerichteten Forderung zugrunde liegen, offensichtlich ist und deshalb klar mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist (so auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.11.2014, L 9 KR 254/13 B ER, Juris Rn. 4). Allenfalls dann ist es nämlich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gerechtfertigt, im Vollstreckungsverfahren die Bestandskraft des Verwaltungsakts zu ignorieren. Bei unsicherem Ausgang des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44 SGB X würde die Untersagung der Vollstreckung der Wertung gemäß § 257 Abgabenordnung (AO) widersprechen, der bei der Vollstreckung der bestandskräftigen Erstattungsforderungen Anwendung findet (vgl. § 40 Abs. 6 Satz 1 SGB II i.V.m. § 5 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz). Gemäß § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO ist die Vollstreckung (erst) einzustellen oder zu beschränken, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird.
Von einem Anspruch der Antragsteller auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gemäß § 44 Abs. 1 SGB X wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit kann keine Rede sein. Die Erfolgsaussichten des anhängigen Hauptsacheverfahrens S 14 AS 274/14 liegen nicht auf der Hand. Ob ein Anspruch auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gemäß § 44 Abs. 1 SGB X besteht, bedarf einer aufwändigen Prüfung im Hauptsacheverfahren. Allein die Vielzahl der geltend gemachten Fehler bei Erlass der Bescheide macht deutlich, dass eine umfängliche Prüfung notwendig ist.
Auch ein Anordnungsgrund liegt mangels Dringlichkeit nicht vor. Derzeit besteht für eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile kein Bedürfnis, weil die bestandskräftige und zu überprüfende Forderung laut Bescheid der für die Vollstreckung zuständigen Arbeitsagentur vom 05.08.2015 bis zum Juli 2016 gestundet worden ist. Die Antragsteller müssen also in den nächsten zehn Monaten weitere Vollstreckungsmaßnahmen nicht befürchten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
IV.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beiordnung des Rechtsanwalts Siegel ist gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (siehe oben).
V.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Untersagung der Zwangsvollstreckung aus Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 streitig.
Die Antragstellerin zu 1, ihr Ehemann (Antragsteller zu 2) und die drei gemeinsamen Kindern (Antragsteller zu 3 bis 5) leben in Bedarfsgemeinschaft. Sie beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)
Am 01.02.2013 und am 04.02.2013 erließ der Antrags- und Beschwerdegegner eine Vielzahl von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden, die teils an die Antragstellerin zu 1, teils an den Antragsteller zu 2 gerichtet waren. Der Widerspruch der Antragstellerin zu 1 vom 13./14.02.2015 wegen der "Änderung 2011 und 2012" wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.06.2013 zurückgewiesen. Dagegen wurde Klage nicht erhoben.
Nachdem die Antragstellerin zu 1 vom Antragsgegner die Zahlungsaufforderung vom 28.10.2013 über einen zu zahlenden Betrag von 7.591,78 EUR erhalten hatte, stellte sie am 25.11.2013 über ihre Bevollmächtigte Antrag auf Nachprüfung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), den der Antragsgegner mit Bescheid vom 13.12.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.04.2014 ablehnte. Dagegen ist Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben worden (S 14 AS 274/14).
Die Agentur für Arbeit B-Stadt, Regionaler Inkasso-Service, wendete sich mit Schreiben vom 13.10.2014 an die Antragstellerin zu 1 zwecks Mahnung des offenen Betrags von 7.658,85 EUR (mit Festsetzung weiterer Mahngebühren). In diesem Schreiben wurde sie darauf hingewiesen, dass sie sich bitte umgehend mit dem Inkassobereich unter der angegebenen Rufnummer in Verbindung setzen solle, wenn ihr die fristgerechte Zahlung nicht möglich sei.
Der zum Antragsgegner am 10.04.2015 gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde mit Schreiben vom 15.04.2015 abgelehnt.
Am 27.04.2015 ist von den Antragstellern beim Sozialgericht Landshut Antrag auf vorläufige Einstellung der Vollstreckung mittels Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz gestellt worden. Nachdem der Antragstellerin zu 1 nach Erlass des Mahnbescheids die Zwangsvollstreckung unmittelbar drohe und sie finanziell nicht in der Lage sei, die geltend gemachten Beträge zu zahlen, sei die Vollstreckung im Wege der Regelungsanordnung einzustellen. Gemäß dem Beschluss des Bayer. Landessozialgerichts vom 26.03.2014 (L 7 AS 220/14 B ER) sei ein solcher Eilantrag trotz Bestandskraft der mit dem Überprüfungsantrag angegriffenen Bescheide unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Der Antrag sei auch begründet, weil die Anfechtungsklage gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide erfolgreich sein werde.
Das Sozialgericht Landshut hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16.06.2015 abgelehnt. Die Regelungsanordnung sei statthaft, ein Anspruch nach § 44 SGB X sei ein streitiges Rechtsverhältnis. Ein Anspruch nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bestehe, wenn glaubhaft sei, dass das begehrte materielle Recht (Anordnungsnanspruch) bestehe und dass eine vorläufige Regelung notwendig sei (Anordnungsgrund). Bei Überprüfungsverfahren sei ein strenger Maßstab für den Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund anzulegen. Nur bei ernstlichen Zweifeln am Ausgangsbescheid sei der vorläufige Durchgriff des Gerichts im Eilverfahren zu rechtfertigen. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Anordnungsbescheids. Die Eilbedürftigkeit müsse ein besonderes Ausmaß erreichen. Einen Anordnungsgrund könne das Gericht erst Recht nicht erkennen. Gegen die Eilbedürftigkeit spreche neben dem Verstreichenlassen der Rechtsbehelfsfrist, dass zwischen der Mahnung der Bundesagentur für Arbeit vom 13.10.2014 bis zum Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht am 27.04.2015 weitere sechs Monate verstrichen seien. In der Mahnung vom 13.10.2014 sei mitgeteilt worden, dass sich die Antragstellerin zu 1 bei Zahlungsproblemen umgehend mit dem Inkassobereich in Verbindung setzten könne. Es wäre ihr möglich gewesen, gegen die Zwangsvollstreckung selbst vorzugehen, indem sie beim Verwaltungsgericht bzw. beim Finanzgericht einen entsprechenden Antrag stellt.
Gegen diese der Bevollmächtigten der Antragstellerin am 08.07.2015 zugegangene Entscheidung ist am 03.08.2015 Beschwerde eingelegt worden. Mit Schriftsatz vom 31.08.2015 ist ausgeführt worden, dass entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts ein Anordnungsgrund gegeben sei. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren sei eilbedürftig. Ein ausreichender Anordnungsanspruch sei gegeben, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 bestehen würden. Dies ist umfänglich dargelegt worden: Maßgebliche Änderungsbescheide seien nicht aufgehoben worden, notwendige Änderungsbescheide seien nicht erlassen worden, ein unrichtiger Sachverhalt (private Krankenversicherung des Antragstellers zu 2) sei zugrunde gelegt, Fehler des Antragsgegners dürften nicht zu Lasten der Antragsteller gehen, die Anrechnung eines Einkommens des Antragstellers zu 2 für die Zeit vom Februar bis März 2011 sei verfahrensfehlerhaft, der Antragsteller zu 2 habe das Photovoltaikkonto dem Antragsgegner nicht verheimlicht, die Umsatzsteuer und die Überziehungszinsen als Betriebsausgaben hätten berücksichtigt werden müssen, der an den Sohn A. geleistete Unterhalt in Höhe von 30 EUR hätte berücksichtigt werden müssen, die Angaben bezüglich der "Kaiser-Rente" seien korrekt gewesen, u.v.m.
Die Antragsteller beantragen, den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 16.06.2015 aufzuheben und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Landshut (S 14 AS 274/14) Zwangsvollstreckungsmaßnahmen aus den Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 01.02.2013 und vom 04.02.2013 durchzuführen.
Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Anlässlich einer telefonischen Nachfrage der Berichterstatterin am 07.09.2015, ob einem Vergleich dahingehend zugestimmt werde, dass die Stundung der bestandskräftigen und zu überprüfenden Forderung für ein Jahr vereinbart werde, hat die Bevollmächtigte mitgeteilt, dass der Inkassoservice der Arbeitsagentur B-Stadt die Forderung bereits gestundet habe. Mit Fax vom 07.09.2015 hat sie dies dahingehend konkretisiert, dass auf Antrag der Antragsteller die Forderung in Höhe von 7697,40 EUR mit Bescheid vom 05.08.2015 bis zum 31.07.2016 gestundet und danach die Forderung fällig sei. Die Möglichkeit einer Stundungsabrede schließe aber, so die Einlassung in diesem Schriftsatz, das Bestehen eines Anordnungsgrunds nicht aus. Mit Fax vom 10.09.2014 hat sie den Bescheid vom 05.08.2015 und den zuvor gestellten Antrag vom 08.07.2015 zur Verfügung gestellt.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und auf die beigezogenen Akten des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist insbesondere gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhoben worden und nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen.
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Das Begehren im Eilverfahren ist darauf gerichtet, während der Dauer des Hauptsacheverfahrens Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zu untersagen. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 13.12.2014 gemäß § 44 SGB X in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.04.2015. Wären die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide nicht bestandskräftig geworden, wäre einstweiliger Rechtsschutz über einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG anzustrengen gewesen. Wenn allerdings wie hier im Hauptsacheverfahren ein ablehnender Verwaltungsakt nach § 44 SGB X streitig ist, der die Bestandskraft des zu überprüfenden Verwaltungsakts unberührt lässt, scheidet die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch/ Klage von vornherein aus. In solchen Fällen kommt nur ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-) Anordnung in Betracht. Nach richtiger Auffassung ist ein solcher Antrag nicht schon deswegen von vornherein unzulässig, weil die zu vollstreckenden Erstattungsbescheide bestandskräftig sind (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.02.2009, L 25 AS 70/09 B ER, und Beschluss vom 13.11.2013, L 9 KR 254/13 B ER; Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 26.03.2014, L 7 AS 220/14 B ER).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO). Bei einem Antrag auf einstweilige Anordnung in Fallgestaltungen wie hier ist zu berücksichtigen, dass über die Bindung der Beteiligten an einen nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakt (Bestandskraft, vgl. § 77 SGG) Rechtssicherheit geschaffen wird, die ein hohes Gut im Rechtsstaat ist und nicht ohne weiteres disponibel ist. Andererseits gebietet es die Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, dass bei einem gesetzlich vorgesehenen und auch betriebenen, aber noch nicht abgeschlossenen Überprüfungsverfahren die Vollstreckung im Wege einer einstweiligen Anordnung dann vorläufig eingestellt werden kann, wenn der zu überprüfende Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Geht es beim Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz um die Gewährung existenzsichernder Grundsicherungsleistungen, wird die Entscheidung des Gerichts (auch) auf eine Folgenabwägung gestützt werden können. Dies kann hier allerdings dahin stehen, weil es sich bei den bestandskräftig gewordenen Bescheiden nicht um Grundsicherungsleistungen ablehnende Bescheide, sondern um Aufhebungs- und Erstattungsbescheide handelt, bei deren Vollstreckung über Pfändungsschutzvorschriften das absolute Existenzminimum geschützt ist.
Die begehrte einstweilige Anordnung kann schon deswegen nicht ergehen, weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist. Außerdem fehlt die für eine einstweilige Anordnung nötige Dringlichkeit.
Die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs setzt voraus, dass die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide, die der gegen die Antragstellerin zu 1 gerichteten Forderung zugrunde liegen, offensichtlich ist und deshalb klar mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist (so auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.11.2014, L 9 KR 254/13 B ER, Juris Rn. 4). Allenfalls dann ist es nämlich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gerechtfertigt, im Vollstreckungsverfahren die Bestandskraft des Verwaltungsakts zu ignorieren. Bei unsicherem Ausgang des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44 SGB X würde die Untersagung der Vollstreckung der Wertung gemäß § 257 Abgabenordnung (AO) widersprechen, der bei der Vollstreckung der bestandskräftigen Erstattungsforderungen Anwendung findet (vgl. § 40 Abs. 6 Satz 1 SGB II i.V.m. § 5 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz). Gemäß § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO ist die Vollstreckung (erst) einzustellen oder zu beschränken, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird.
Von einem Anspruch der Antragsteller auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gemäß § 44 Abs. 1 SGB X wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit kann keine Rede sein. Die Erfolgsaussichten des anhängigen Hauptsacheverfahrens S 14 AS 274/14 liegen nicht auf der Hand. Ob ein Anspruch auf Rücknahme der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gemäß § 44 Abs. 1 SGB X besteht, bedarf einer aufwändigen Prüfung im Hauptsacheverfahren. Allein die Vielzahl der geltend gemachten Fehler bei Erlass der Bescheide macht deutlich, dass eine umfängliche Prüfung notwendig ist.
Auch ein Anordnungsgrund liegt mangels Dringlichkeit nicht vor. Derzeit besteht für eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile kein Bedürfnis, weil die bestandskräftige und zu überprüfende Forderung laut Bescheid der für die Vollstreckung zuständigen Arbeitsagentur vom 05.08.2015 bis zum Juli 2016 gestundet worden ist. Die Antragsteller müssen also in den nächsten zehn Monaten weitere Vollstreckungsmaßnahmen nicht befürchten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
IV.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe mit Beiordnung des Rechtsanwalts Siegel ist gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (siehe oben).
V.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved