L 7 AS 782/15 B

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 54 AS 644/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 782/15 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Gegen den Beschluss des Sozialgerichts, der eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 114 SGG ablehnt, ist eine Beschwerde möglich.
Die Überprüfung der Verfassungmäßigkeit eines Gesetzes in einem anderen Verfahren ist kein "Rechtsverhältnis" im Sinn von § 114 Abs. 2 S. 1 SGG, so dass lediglich eine entsprechende Anwendung von § 114 Abs. 2 S. 1 SGG in Frage kommt.
Wegen der Richtervorlage zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsvorschriften nach §§ 31 ff SGB II ist eine Aussetzung anderer Klageverfahren nicht veranlasst.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 7. Oktober 2015 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Kläger und Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts, in dem die Aussetzung des Klageverfahrens abgelehnt wurde.

Im Klageverfahren wendet sich der Kläger gegen den Bescheid des Beklagten vom 12.02.2015, mit dem für die Monate April, Mai und Juni 2015 eine Sanktion nach § 31 SGB II verhängt wurde. Das Arbeitslosengeld II des Klägers wurde für diese Monate um 30 % seines Regelbedarfs gemindert. Der dagegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.06.2015).

Der Kläger erhob bereits vor Erlass des Widerspruchsbescheids am 24.03.2015 Klage zum Sozialgericht München. Auf der neunten Seite seines Schreibens vom 10.04.2015, eingegangen beim Sozialgericht am 26.06.2015, erklärte der Kläger, sich der Ansicht des Sozialgerichts Gotha anzuschließen, dass Sanktionen gegen das Grundgesetz verstoßen würden, und beantragte, das streitgegenständliche Klageverfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Az. 1 BvL 7/15) zur Vorlage des SG Gotha auszusetzen.

Mit Beschluss vom 07.10.2015 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens ab. Es komme allein § 114 Abs. 2 SGG als Rechtsgrundlage einer Aussetzung in Betracht. Die Entscheidung des BVerfG zur Frage der Vereinbarkeit der §§ 31 ff SGB II mit dem Grundgesetz betreffe aber kein "Rechtsverhältnis" im Sinn von § 114 Abs. 2 S. 1 SGG. Es handle sich um eine Rechtsfrage, die vom angerufenen Sozialgericht zu entscheiden sei.

Der Kläger hat am 06.11.2015 Beschwerde eingelegt. Es sei von erheblicher Bedeutung, ob die Regelungen in §§ 31 ff SGB II verfassungsrechtlich gültig seien oder nicht. Die Vorlage des SG Gotha an das BVerfG sei deshalb Bestandteil aller einschlägigen Rechtsverhältnisse zu Sanktionen. Außerdem ergäbe sich die Aussetzungsnotwendigkeit auch aus der Entscheidung des BGH vom 30.03.2005, X ZB 26/04.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Beschwerde ist auch nicht gemäß § 172 Abs. 2 SGG ausgeschlossen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 11. Auflage 2014, § 114 Rn. 9). Die Beschwerde ist aber unbegründet, weil der Beschluss des Sozialgerichts nicht zu beanstanden ist.

Wegen einer Richtervorlage zu einer streiterheblichen Rechtsnorm zum Bundesverfassungsgericht - hier §§ 31 ff SGB II zu Sanktionen - kann eine Aussetzung entsprechend § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht kommen. Danach "kann" das Gericht die Aussetzung eines Rechtsstreits anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt. Es kommt nur eine entsprechende Anwendung von § 114 Abs. 2 S. 1 SGG in Frage, weil unter Rechtsverhältnis eine bestimmte, rechtlich geregelte Beziehung zwischen bestimmten Beteiligten oder zu Gegenständen zu verstehen ist. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist kein Rechtsverhältnis in diesem Sinne, sondern eine Rechtsfrage (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2008, L 21 B 1167/07 R, Rn. 9, mit weiteren Nachweisen).

Eine Aussetzung des Verfahrens erfolgt aufgrund richterlicher Anordnung, ohne dass es darauf ankommt, ob die Beteiligten dem zustimmen oder nicht. Ein "Antrag" eines Beteiligten auf eine Aussetzung ist lediglich eine Anregung.

Im sozialgerichtlichen Verfahren rechtfertigen sogenannte Musterprozesse regelmäßig nicht eine Aussetzung (Keller, a.a.O., § 114 Rn. 5b). Auch ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren kann nur im Ausnahmefall eine Aussetzung gegen den Willen der Beteiligten rechtfertigen, um insbesondere zu verhindern, dass das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle überschwemmt wird (Keller a.a.O., § 114 Rn. 5c). Zu berücksichtigen ist ferner, dass das Gericht - so die Voraussetzungen dafür vorliegen - die Aussetzung anordnen "kann", also einen Ermessensspielraum dafür hat, ob es dies tun will (Keller a.a.O., § 114 Rn. 7).

Hier fehlt es bereits an dem vorgenannten Ausnahmefall. Die Vorlage des SG Gotha vom 26.05.2015, S 15 AS 5157/14, ist ein Einzelfall geblieben. Soweit ersichtlich, hat sich kein weiteres Sozialgericht oder Landessozialgericht der Auffassung dieser Kammer des SG Gotha angeschlossen. Im Gegenteil: Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 29.04.2015, B 14 AS 19/14 R, deutlich gemacht, dass eine Sanktion im Umfang von 30 % des Regelbedarfs nicht verfassungswidrig ist. Der Kläger sollte sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht bedeutet, dass die Mittel voraussetzungslos zur Verfügung gestellt werden (BSG, a.a.O., Rn. 51). Es gibt kein bedingungsloses Grundeinkommen. Arbeit und das ernsthafte Bemühen um Arbeit sind grundsätzlich zumutbar und bei Obliegenheitsverletzungen sanktionierbar.

Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht die Aussetzung des Verfahrens abgelehnt hat. Es fehlt an einem Tatbestand, der eine Aussetzung rechtfertigen kann.

Zu ergänzen bleibt, dass im sozialgerichtlichen Verfahren oft andere Maßstäbe gelten als im Zivilverfahren. Allerdings hat auch der BGH im vom Kläger genannten Beschluss vom 30.03.2005, X ZB 26/04, nicht entschieden, dass bei einer Richtervorlage zum BVerfG ausgesetzt werden muss, sondern, dass eine Aussetzung nach § 148 ZPO zulässig ist. Eine Pflicht, das Verfahren auszusetzen, besteht scheinbar auch dort nicht.

Da es sich bei dieser Beschwerde um ein Zwischenverfahren eines anhängigen Rechtsstreits handelt, ist keine eigene Kostenentscheidung zu treffen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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