L 26 AS 2360/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
26
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 203 AS 32641/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 26 AS 2360/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2011 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 12. bis 31. Dezember 2011 in Höhe von 84,93 EUR und für die Zeit vom 1. Januar bis 29. Februar 2012 in Höhe von monatlich 130,90 EUR zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat jeweils die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren und das Antragsverfahren auf Aussetzung der Vollstreckung zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner bewilligte der 1986 geborenen Antragstellerin mit Bescheid vom 9. Juni 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2011 in Höhe von (iHv) monatlich 649,26 EUR. Mit Bescheid vom 9. August 2011 bewilligte die Agentur für Arbeit Berlin Mitte der Antragstellerin zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §§ 97 ff Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) iVm §§ 33, 44 ff Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) für die Zeit vom 5. September 2011 bis 4. August 2012 Ausbildungsgeld iHv monatlich 465,00 EUR und Reisekosten iHv monatlich 53,00 EUR. Nach der Teilnahmebestätigung der ajb GmbH vom 2. September 2011 nimmt die Antragstellerin vom 5. September 2011 bis 4. August 2012 an einer rehaspezifischen Berufsvorbereitungsmaßnahme teil. Der Antragsgegner hob mit Bescheid vom 18. August 2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 19. September 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2011 die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen vom 9. Juni 2011 mit Wirkung ab 5. September 2011 wegen einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen ganz auf und bewilligte der Antragstellerin mit Bescheid vom 2. September 2011 einen Zuschuss zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 27 Abs. 3 SGB II in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung (nF) für die Zeit vom 5. bis 30. September 2011 iHv 132,83 EUR sowie für die Zeit vom 1. Oktober 2011 bis 29. Februar 2012 iHv monatlich 153,26 EUR. Mit Bescheid vom 12. Oktober 2011 lehnte der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin vom 9. September 2011 auf Mehrbedarf für behinderte Menschen nach § 21 Abs. 4 SGB II ab mit der Begründung, dass bei vorliegender Hilfebedürftigkeit für den Auszubildenden Leistungen für Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 2, 3 und 5 sowie für Bedarfe nach § 23 Abs. 3 SGB II zu zahlen seien. Ausgenommen sei der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II. Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin am 31. Oktober 2011 Widerspruch eingelegt mit der Begründung, dass ihr aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung und insbesondere wegen ihrer psychischen Behinderung ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II zustehe.

Am 12. Dezember 2011 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, gerichtet auf die "Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II (Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II)." Das Sozialgericht Berlin hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 21. Dezember 2011 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 12. Dezember 2011 bis zum 29. Februar 2012, längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iHv monatlich 288,66 EUR zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass einiges für ein Obsiegen der Antragstellerin in der Hauptsache spreche. Soweit die Beteiligten den Ausschluss der Antragstellerin von den Leistungen nach § 7 Abs. 5 SGB II diskutierten, werde diese Frage in der obergerichtlichen Rechtsprechung weit überwiegend im Sinne der Antragstellerin beantwortet (Bezugnahme u.a. auf LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 6. September 2011, L 5 AS 429/10 B ER). Es könne dahinstehen, ob und ggf. in welcher Höhe das bezogene Ausbildungsgeld als Einkommen bei der Berechnung der Leistungen nach dem SGB II zu berücksichtigen sei. Dies sei obergerichtlich nicht geklärt. Die Höhe des tenorierten Zahlungsbetrages ergebe sich aus dem Gesamtbedarf iHv 776,66 EUR (Regelleistung, Mehrbedarf, Unterkunft und Heizung) abzüglich eines anrechenbaren Einkommens iHv 488,00 EUR. Der Mehrbedarf ergebe sich aus § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II.

Gegen den ihm am 23. Dezember 2011 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 30. Dezember 2011 Beschwerde eingelegt und zugleich die Aussetzung der Vollstreckung der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss beantragt. Zur Begründung führt er aus, dass die Antragstellerin nach § 7 Abs. 5 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II, die über die Leistungen des § 27 SGB II hinausgingen, ausgeschlossen sei. Die Leistungen nach § 27 SGB II umfassten nicht die Gewährung eines Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II. Zudem habe die Antragstellerin nur die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 SGB II beantragt. Dieser betrage 127,40 EUR bis 31. Dezember 2011 und 130,90 EUR ab 1. Januar 2012. Weshalb das Sozialgericht die Zahlung eines höheren Betrages anordne, als tatsächlich beantragt, könne er nicht nachvollziehen. Der Grundsicherungsbedarf der Antragstellerin nach dem SGB II iHv 649,26 EUR sei durch das gezahlte Ausbildungsgeld und den gewährten Zuschuss nach § 27 Abs. 3 SGB II gedeckt.

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) erhobene Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2011 ist zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstandes iHv 769,32 EUR (20/30x 288,66 EUR + 2x 288,66 EUR) übersteigt den Betrag von 750,00 EUR nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 iVm § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

Die Beschwerde ist teilweise begründet. Auf die Beschwerde waren die vom Antragsgegner vorläufig zu erbringenden Leistungen für den streitigen Zeitraum (12. Dezember 2011 bis 29. Februar 2012) auf die im Tenor ersichtlichen Beträge zu begrenzen. Die Beschwerde im Übrigen ist unbegründet. Der Antragstellerin sind im Wege der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 SGG vorläufig Leistungen für Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 4 SGB II für den streitigen Zeitraum zu gewähren.

Der Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) und der Anordnungsanspruch (materiell-rechtlicher Anspruch der Hauptsache) der Regelungsanordnung sind glaubhaft gemacht. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der ab 1. April 2011 geltenden Fassung (nF) des Gesetzes vom 24. März 2011 (BGBl. I 453) sowie des § 21 Abs. 4 SGB II sind bei summarischer Prüfung im streitigen Zeitraum erfüllt. Der Anspruch nach § 21 Abs. 4 SGB II setzt die Teilnahme an einer regelförmigen besonderen Maßnahme voraus. Die Leistungsgewährung muss auf Veranlassung des Grundsicherungsträgers oder eines anderen Sozialleistungsträgers erfolgt sein (vgl. BSG, Urteil vom 06. April 2011, aaO, Rn. 17f und 24, Urteil vom 22. März 2010, B 4 AS 59/09 R, juris). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Im Hinblick auf die Erbringung einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX durch die Agentur für Arbeit Berlin Mitte geht der Senat davon aus, dass die Antragstellerin behindert im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX ist.

Die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II nF können bei summarischer Prüfung dagegen nicht abschließend beurteilt werden mit der Folge, dass der Anordnungsanspruch hinsichtlich der Leistungen für Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 4 SGB II weiterhin glaubhaft gemacht ist. Ohne die Gewährung der Leistungen für Mehrbedarfe besteht die Besorgnis, dass die Antragstellerin die berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme nicht ordnungsgemäß durchführen kann und der Erfolg der Maßnahme gefährdet ist. Ihr Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (monatlich 649,26 EUR bis 31. Dezember 2011 - siehe Leistungsbescheid vom 9. Juni 2011) ist allein durch das Ausbildungsgeld und den Zuschuss nach § 27 Abs. 3 SGB II nF (insg. monatlich 616,26 EUR) nicht gedeckt. Die gewährten Reisekosten dürften als zweckbestimmtes Einkommen im Sinne des § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II von der Einkommensberücksichtigung freizustellen sein (vgl. zur bisherigen Rechtslage BSG, Urteil vom 22. März 2010, B 4 AS 69/09 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 32, Rn. 31).

Nach § 7 Abs. 5 SGB II nF haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, über die Leistungen nach § 27 hinaus keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Durch die Neufassung des § 7 Abs. 5 SGB II sollte abschließend geregelt werden, welche Leistungen für den Personenkreis des § 7 Abs. 5 SGB II nF möglich sind (vgl. Thie in LPK-SGB II, 4. Auflage, § 27 Rn. 1). Nach der abschließenden Regelung des § 27 Abs. 2 SGB II nF werden Leistungen in Höhe der Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 2, 3, 5 und 6 und in Höhe der Leistungen nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 erbracht, soweit die Mehrbedarfe nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen gedeckt sind. Der Mehrbedarf für erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte nach § 21 Abs. 4 SGB II ist gerade nicht in den Katalog des Abs. 2 aufgenommen worden (vgl. Thie in LPK-SGB II, aaO, § 27 Rn. 4). Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 SGB II nF ist die Antragstellerin nicht von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen. Die von ihr absolvierte berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme ist keine förderungsfähige Ausbildung im Sinne des § 2 BAföG. Auch handelt es sich bei der Maßnahme nicht um eine nach §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähige Maßnahme. Denn die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §§ 97 ff SGB III verdrängen die allgemeinen Regelungen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Februar 2008, L 5 B 10/08 AS ER, juris, Rn. 22). Nach der Rechtsprechung zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II aF waren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an Auszubildende nur für ausbildungsgeprägte Bedarfe ausgeschlossen (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2007, B 14/7b AS 36/06 R = SozR 4-4200 § 7 Nr. 6). Der für nach §§ 60 bis 62 SGB III förderungsfähige Ausbildungen geltende Ausschluss gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II galt nicht für nach §§ 102 ff SGB II förderungsfähige Ausbildungen. Hätte der Gesetzgeber auch insoweit einen Ausschlusstatbestand schaffen wollen, so hätte er die entsprechenden Vorschriften in Bezug nehmen können und müssen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Februar 2008, L 5 B 10/08 AS ER, aaO, mwN). Auch aus der Neufassung der §§ 7 Abs. 5, 27 SGB II ab 1. April 2011 lässt sich nicht eindeutig ableiten, dass der Gesetzgeber auch behinderte erwerbsfähige Auszubildende, d.h. Auszubildende mit einem Anspruch auf Ausbildungsgeld, vom Leistungsausschluss erfassen wollte. Diese Fallkonstellation ist nach wie vor nicht vom Wortlaut des § 7 Abs. 5 SGB II nF erfasst. Daher bedarf es im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keiner Entscheidung, ob die Antragstellerin im streitigen Zeitraum überhaupt Auszubildende im Sinne des Gesetzes ist. Dies erscheint im Hinblick auf den Inhalt des Vertrages zwischen der Antragstellerin und der a GmbH vom 20. September 2011 zumindest zweifelhaft. Nach der Bescheinigung des Trägers vom 2. September 2011 ist die Maßnahme einer Ausbildung lediglich gleichgestellt. Allein die Gewährung von Ausbildungsgeld lässt nicht den Rückschluss auf das Vorliegen einer Ausbildung zu. Denn nach § 104 Abs. 1 Nr. 1 SGB III haben behinderte Menschen Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer beruflichen Ausbildung oder berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, wenn ein Übergangsgeld nicht erbracht wird. In den Gesetzesmaterialien zu §§ 7 Abs. 5, 27 SGB II nF sind keine Hinweise dafür zu finden, dass bewusst auch die Auszubildenden mit Anspruch auf Ausbildungsgeld von der Ausschlussnorm erfasst sein sollen. Ohne solche klaren Hinweise auf eine entsprechende Regelungsabsicht des Gesetzgebers spricht mehr dafür als dagegen, diese Fälle als nicht vom Ausschluss erfasst anzusehen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 6. Dezember 2011, L 2 AS 438/11 B ER, juris, Rn. 16, unter Bezugnahme auf LSG Hamburg, Beschluss vom 6. Juli 2011, L 5 AS 191/11 B ER, juris). Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich (nur) ersehen, dass der Gesetzgeber mit § 27 Abs. 2 SGB II nF den Anspruch Auszubildender auf Mehrbedarfe zum Lebensunterhalt erstmalig gesetzlich regeln wollte. Der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II wird als ausbildungsbezogen angesehen. Soweit behinderte erwerbsfähige Auszubildende ausbildungsgeprägte Mehrbedarfe haben, werden diese durch andere, besondere Teilhabeleistungen gedeckt (siehe BT-Dr. 17/3404, S. 103). Die Änderung in § 7 Abs. 5 SGB II nF ist eine Folgeänderung und Präzisierung zu § 27 SGB II nF (siehe BT-Dr. 17/3404, S. 92).

Der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II beträgt für die Zeit vom 12. bis 31. Dezember 2011 84,93 EUR (20/30x 127,40 EUR) und für die Zeit vom 1. Januar bis 29. Februar 2012 monatlich 130,90 EUR.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Mit der Entscheidung über die Beschwerde hat sich der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG erledigt.

Die Kostenentscheidung für das Aussetzungsverfahren beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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