S 19 SO 109/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 109/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 01.04.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die für den Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 ergangenen Bewilligungs- bzw. Änderungsbescheide abzuändern und der Klägerin für diesen Zeitraum Regelleistungen in Höhe von 100 % des Eckregelsatzes zu bewilligen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

Tatbestand:

Klägerin begehrt höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung im Zugunstenverfahren.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin lebt zusammen mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus. Sie bezieht von der Beklagten Leistungen nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und erhielt Regelleistungen in Höhe eines Haushaltsmitglieds. Nach dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 23.03.2010 (Az. B 8 SO 17/09 R) bewilligte die Beklagte ihr ab 01.07.2010 Regelleistungen in Höhe eines Haushaltsvorstands. Am 29.01.2011 beantragte die Klägerin Überprüfung der bisherigen Bewilligungsbescheide und Nachzahlung des Differenzbetrages zwischen dem gewährten Regelsatz und dem Regelsatz eines Haushaltsvorstands ab 01.01.2006. Mit Bescheid vom 01.04.2011 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, mit der rückwirkend zum 01.01.2011 erfolgten Rechtsänderung habe der Gesetzgeber die vor dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 23.03.2010 beste-hende Rechtslage bestätigt. Die zur Überprüfung gestellten Bescheide seien daher nicht rechtswidrig. Die Klägerin legte am 27.04.2011 Widerspruch ein und führte aus, die neue Geset-zeslage gelte ab 01.01.2011, habe mithin auf davor liegende Zeiträume keinen Ein-fluss, so dass die bis dahin ergangenen Bewilligungsbescheide rechtswidrig seien. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2011 unter Vertiefung ihrer bisherigen Ausführungen zurück.

Hiergegen richtet sich die am 13.07.2011 erhobene Klage.

Die Klägerin beantragt zuletzt noch, den Bescheid vom 01.04.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die für die Zeit vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 ergangenen Bewilligungs- bzw. Änderungs-bescheide abzuändern und ihr für diesen Zeitraum Regelleistungen in Höhe von 100% des Eckregelsatzes zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die ge-wechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet. Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Sie hat einen Anspruch auf Abänderung der im Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 ergangenen Bewilligungs- bzw. Änderungsbescheide und Bewilligung von Regelleistungen in Höhe von 100% des (alten) Eckregelsatzes.

Grundlage für den Anspruch ist § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) und nicht § 48 Abs. 2 SGB X. Denn es handelt sich nicht um eine nachträglich andere Auslegung des Rechts durch das Bundessozialgericht im Sinne dieser Vorschrift. Die Abgrenzung von § 44 Abs. 1 SGB X und § 48 Abs. 2 SGB X erfolgt danach, ob die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf der (rückblickenden) Erkenntnis beruht, die bei Erlass des Ausgangsverwaltungsates zu Grunde gelegte Gesetzesauslegung sei unzutreffend gewesen (dann Anwendung von § 44 Abs. 1 SGB X) oder ob die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf eine Änderung ihrer rechtlichen Grundlagen oder der bei ihrer Schaffung geltenden sozialen, soziologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zurückzuführen ist (dann Anwendung von § 48 Abs. 2 SGB X), vgl. etwa BSG, Urteil vom 30.01.1985 – 1 RJ 2/84 = BSGE 58, 27; BSG, Urteil vom 28.04.1999 – B 9 V 16/98 R; zum Ganzen auch Merten, in: Hauck/Noftz, Stand 2011, § 44 SGB X Rdnr. 33). Fehlte bei Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes noch eine höchstrichterliche Rechtsprechung und bildet sich diese erst später, handelt es sich um die nachträgliche Erkenntnis der ursprünglichen Rechtswidrigkeit, die nach § 44 Abs. 1 SGB X zu beurteilen ist (Merten, a.a.O., Rdnr. 34).

Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben ist § 44 Abs. 1 SGB X als Grundlage für den Anspruch der Klägerin heranzuziehen. Denn mit den Urteilen des 8. Senats des BSG vom 19.05.2009 (Az. B 8 SO 8/08 R) bzw. vom 23.03.2010 (Az. B 8 SO 17/09 R) hat sich eine höchstrichterliche Rechtsprechung erstmals gebildet. Auf die zur Rechtslage bis zum 31.12.2004 und die hierzu ergangene Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte kann nicht abgestellt werden, weil diese nicht zum SGB XII, sondern zum Grundsicherheitsgesetz (GSiG) ergangen ist. Mithin handelt es sich um die nachträgliche Erkenntnis einer von Anfang an unzutreffenden Gesetzesinterpretation, die an § 44 Abs. 1 SGB X zu messen ist.

Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X findet nach mittlerweile gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung auch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Anwendung (vgl. nur BSG, Urteil vom 16.10.2007 – B 8/9b SO 8/06 R = BSGE 99, 137 ff.).

Auch liegen die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor. Die angefoch-tenen Bescheide der Beklagten erweisen sich als rechtswidrig. Denn die im Haus ihrer Eltern lebende Klägerin erfüllt auch für die Zeit vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 die materiellen Voraussetzungen der §§ 41 Abs. 1, 42 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB XII und sie bildet mit ihren Eltern weder eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB 2, noch eine Einsatzgemeinschaft nach § 19 SGB XII, so dass ihr Regelleistungen in Höhe von 100% des (alten) Eckregelsatzes zustehen (vgl. allgemein BSG, Urteile vom 19.05.2009 – B 8 SO 8/08 R = juris bzw. vom 23.03.2010 – B 8 SO 17/09 R = juris). Soweit die Beklagte demgegenüber meint, die durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-buch eingetretene Rechtsänderung rechtfertige eine andere Betrachtung, so vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Denn ausweislich Art. 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (BGBl. I, 453) tritt die Gesetzesänderung zum 01.01.2011 in Kraft und hat folglich keine Auswirkungen auf den hier in Streit stehenden Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.06.2010.

Leistungen in Höhe von 100% des alten Eckregelsatzes sind der Klägerin auch rückwirkend für die Zeit vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 zu bewilligen, § 44 Abs. 4 Satz 1 und 3 SGB X. Die Vorschrift des § 116a SGB XII n.F. ist nicht anwendbar, weil der Überprüfungsantrag noch vor dem 01.04.2011 gestellt worden ist, § 136 SGB XII n.F.

Eine rückwirkende Leistungserbringung für den Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil es sich um Leistungen nach dem SGB XII handelt. Zwar wird in der höchstrichterlichen Rechtsprechung wegen des Gegenwartsbezuges von Leistungen nach dem SGB XII ein rückwirkender Leistungsanspruch nur dann bejaht, wenn die Bedürftigkeit ununterbrochen fortbesteht (etwa BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 16/08 R = BSGE 104, 213 ff.). Deshalb ist für Sozialhilfeleistungen in § 44 Abs. 4 SGB X ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des fortdauernden Bedarfs hineinzulesen (näher Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand 2011, § 44 Rdnr. 116 f.). Jedoch ist das Gegenwartsprinzip im Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung schwächer ausgeprägt, weil diese Leistungen nur auf Antrag und zudem für einen Zeitraum von Zwölf Monaten erbracht werden (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Im Gegensatz zur Sozialhilfe fällt damit der Hauptgrund für eine Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung fort (Merten, a.a.O., § 44 Rdnr. 119). Deshalb sind derartige Leistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X unabhängig davon rückwirkend zu erbringen, ob ein fortdauernder Bedarf besteht.

Was den im Rahmen des Klageverfahrens beschränkten Zeitraum vom 01.01.2007 bis 30.06.2010 anbelangt, so ist dieser jedenfalls von dem in § 44 Abs. 4 Satz 1 und 3 SGB X genannten Zeitraum umfasst.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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